[Debatte-Grundeinkommen] zum Beitrag von Bert Grashoff

unversoehnt unversoehnt at gmx.de
Di Sep 9 14:59:50 CEST 2014


Hallo lieber Jochen,

ich habe mich über die Bauchpinselei und auch sonst über deinen Beitrag 
gefreut. :o) Als Hartz4ler wird man ja strukturell nicht häufig 
gebauchpinselt ... und überhaupt zielt nicht sonderlich viel in der 
deutschen Kultur auf Ermutigung ab. Von daher sehr nett. :o)

Da ich gerade andere Foki habe, möchte ich nur ein paar kleinere 
Anmerkungen zu deinen Ausführungen machen.

"Für mich ist nach langem und gründlichem (?) Nachforschen klar 
geworden, daß dieses Menschenbild zusammen mit der 
Herrschaftsgesellschaft entstanden ist. In meinen Augen ist das eine 
Fehlentwicklung (ein Bruch in der vorherigen Entwicklung) der 
Menschheit, der vor ca. 7000 bis 8000 Jahren begonnen hat und seitdem 
ins Verderben führt."

Ideologietaktisch finde ich es offenkundig, dass wir innerhalb eines 
christlichen Kulturkontextes frontal die alttestamentarische 
Erbsündenvorstellung angreifen müssen, die sich bis zur Paulus-Aussage 
im neuen Testament durchzieht: "Wer nicht arbeiten will, der soll auch 
nicht essen." (Thessalonicher 3,10) Zwar halte ich das Christentum in 
wesentlichen und vor allem in seinen reaktionären Ausprägungen für kaum 
mehr als Heuchelei, als kulturgeschichtliche Tatsache aber wieder für 
einen so manifesten Fetisch, dass man solche Sachen nicht ignorieren 
kann, auch nicht mit 4. Feuerbachthese von Marx. Im Rahmen immanenter 
Kritik lässt sich m. E. zudem schlicht Nächsten- und Feindesliebe Jesu 
gegen die Herrscher- und Rachegott-Vorstellungen im Christentum 
ausspielen. Dürfte keine allzu schwierige Übung sein, aber eine, die aus 
bGE-Sicht m. E. notwendig ist.

"Deshalb lese ich solche Äußerungen wie: "Wir wollen doch nicht zurück 
in die Steinzeit" immer mit gemischten Gefühlen."

Och menno. Ich hatte doch schon in Auseinandersetzung mit Willi darauf 
hingewiesen, dass ich das selber als polemische Bemerkung kenntlich 
gemacht hatte. Außerdem ist eh klar, dass es kein Zurück zu früheren 
historischen Stadien geben wird. Sieht man mal von so Leuten wie den 
amish-people ab, wollen die meisten lokalen Autarkie-Bewegungen m. W. ja 
auf dem Niveau heutigen technologischen Verständnisses in eine 
Unmittelbarkeit von Natur und kleiner Gemeinschaft zurück. Mir ging's 
ohnehin um einen werttheoretischen Zusammenhang und nicht um's 
Eso-Öko-Bashing, das mir zwar geläufig ist, aber auch nicht so 
sonderlich sympathisch - und so wie du das zitierst, hatte ich es 
wirklich nicht geschrieben. Und klar, ich kann mir ohnehin keine 
hinreichende Vorstellung davon machen, wie steinzeitliches Leben sich so 
angefühlt hat. Liegt mir einfach zu fern.

"Sowohl vergangene wie auch zukünftige gesellschaftliche Zustände sind 
nur Konstruktionen in unserem Bewußtsein, im Grunde hat es nie eine 
Vergangenheit gegeben und wird es nie eine Zukunft geben, da alles was 
geschieht hier und jetzt geschieht, in der Gegenwart. Alle 
Gedankenkonstruktionen über Zukünftiges und Vergangenes haben nur Sinn 
als Hilfsmittel zur Gestaltung unserer Gegenwart. (Ich bin versucht, 
noch anzufügen: in Ewigkeit amen.) "

Völlig d'accord, aber zu bedenken geben möchte ich in dem Zusammenhang: 
"Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel 
wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt." (Adorno, 
Negative Dialektik, GS6, S. 165) Gegenwart resultiert vielfältig aus 
Vergangenem, über dessen Aufklärung Gegenwärtiges wiederum bestimmt 
wird. Menschen sind geschichtliche und geschichtsbewusste Wesen ... und 
selbstverständlich auch sehr geschichtsunbewusste Wesen. Kleine Anekdote 
aus meiner Spätpubertät dazu ... Jochi: "Wir schreiben alle in jedem 
Augenblick Geschichte." Jan: "Kommt drauf an, wie schnell man schreiben 
kann." So viel widersprüchliche Wahrheit in so kurzer Zeit war in meinem 
Leben selten. :o)

"Ich habe mich bisschen von Berts flottem Stil anstecken lassen, wenn 
diese Debatte ganz öffentlich wäre, würde ich das alles (in den letzten 
Sätzen) moderater formulieren. "

Ich bin mir nicht sicher, was du mit "ganz öffentlich" meinst. Da aber 
mehr als www-öffentlich m. E. kaum geht, irrst du dich. Deinen Beitrag 
findest du hier: 
https://listi.jpberlin.de/pipermail/debatte-grundeinkommen/2014-September/003964.html
Inhaltlich sehe ich aber kein Problem ... wollte dich nur drauf hinweisen.

"Mit der Einführung seines Begriffs der Erwartungen hatte Keynes den 
Schlüssel zur Erkenntnis in der Hand, daß menschliches Wirtschaften kein 
mechanischer Automatismus ist, der quasi Naturgesetzlich abläuft. Er hat 
diesen Schritt nicht getan, genau so wie Marx aufgrund seiner 
materialistischen Überzeugung nicht von dieser Vorstellung eines 
gesetzmäßigen Verlaufs der Wirtschaft und der ganzen Geschichte 
loskommen konnte (und wollte). Aber Wirtschaft wie auch menschliche 
Geschichte sind von Menschen gemacht, also nicht naturgesetzlich;"

In Bezug auf Marx halte ich das für falsch. Große Teile des Marxismus im 
19. und 20. Jahrhundert haben einfach komplett die theoretische 
Sprengkraft des Fetischbegriffs ignoriert und damit auch die Marxschen 
Frühschriften. Es verhält sich bei Marx grundlegend ziemlich exakt so, 
wie ich es mit Bezug auf die 28. Fußnote in seinem Kapital Willi 
gegenüber ausführte: Die fetischisierten Verhältnisse sind mit der 
materiellen Wirklichkeit der Menschen verwachsen und daher von 
naturgesetzlichem Charakter. Weil sie aber als Fetisch erkannt und 
potentiell verändert werden können, sind sie auch 
nicht-naturgesetzlichen Charakters. Weder das eine noch das andere, 
sondern sowohl als auch. Dialektik halt. Die ganze Diskussion um den 
über Hegel tradierten Begriff zweiter Natur spielt da eine entscheidende 
Rolle. Vgl. z. B. wieder Teddy: "Die Hegelsche Wendung fußt auf 
Montesquieus Polemik gegen die altertümlich geschichtsfremden gängigen 
Staatsvertragstheorien: die staatsrechtlichen Institutionen wurden von 
keinem bewußten Willensakt der Subjekte geschaffen. Geist als zweite 
Natur jedoch ist die Negation des Geistes, und zwar desto gründlicher, 
je mehr sein Selbstbewußtsein gegen seine Naturwüchsigkeit sich 
abblendet. Das vollstreckt sich an Hegel. Sein Weltgeist ist die 
Ideologie der Naturgeschichte. Weltgeist heißt sie ihm kraft ihrer 
Gewalt. Herrschaft wird absolut, projiziert aufs Sein selber, das da 
Geist sei. Geschichte aber, die Explikation von etwas, das sie immer 
schon soll gewesen sein, erwirbt die Qualität des Geschichtslosen. Hegel 
schlägt sich inmitten der Geschichte auf die Seite ihres Unwandelbaren, 
der Immergleichheit, Identität des Prozesses, deren Totalität heil sei. 
So unmetaphorisch ist er der Geschichtsmythologie zu zeihen." (Adorno, 
Negative Dialektik, GS6, S. 350)

Liebe Grüße,

Bert

Am 08.09.2014 12:40, schrieb Jochen Tittel:
> Liebe MitstreiterInnen
> Ich hatte meine Antwort auf die Diskussionen zu Berts Äußerungen am 
> 27.8. schonmal abgeschickt, aber wohl die falsche Adresse erwischt; 
> deshalb hier nochmal der Text, ohne aufdringlich sein zu wollen.
>
> Lieber Bert und liebe Mitdebattierer,
> ich gehöre mal wieder zu den - hoffentlich zahlreichen - stillen 
> Mitlesern Eurer Auseinandersetzung und ich freue mich über den 
> frischen Wind, den Berts Beitrag hat aufkommen lassen. Von den vielen 
> Aspekten, die im Zusammenhang mit dem bedingungslosen Grundeinkommen 
> innerhalb der BGE-Bewegung noch weiterer Klärung bedürfen, hat Bert 
> die meisten und wichtigsten angesprochen, denke ich. Bevor ich auf 
> einige dieser Aspekte eingehe will ich aber zunächst (wieder) etwas 
> zur Form der Debatte sagen.
> Wie mir scheint, ist Willi ein Heißsporn; er hat bei jeder Debatte 
> Kritik und Urteile und absolute Wahrheiten bereit, mit denen er uns 
> traktiert. Jedesmal ist meine Befürchtung, daß jetzt ein verbales 
> Gemetzel losgehen könnte. Aber erfreulicherweise reagieren die 
> Angegriffenen sehr friedlich und freundlich und das führt in der Regel 
> dazu, daß auch Willi erkennt, daß dieser Austausch hier nur zu etwas 
> positivem führt, wenn wir uns gegenseitig zunächst mal anerkennen, so 
> wie wir hier auftreten und niemandem Böswilligkeit oder Dummheit 
> unterstellen.
> Ich denke, ich verstehe, woher Willis heftige Reaktionen kommen. Aus 
> den Orten, die er als Absender angibt, schließe ich, daß er sich in 
> Südamerika herumtreibt und aus seinen Äußerungen, daß er nicht bei der 
> reichen Oberschicht zu Besuch ist. Was die einheimische Bevölkerung in 
> den letzten Jahrzehnten - nein: in den letzten Jahrhunderten - an 
> Demütigungen und Leid und Not ertragen mußte, das macht für mich 
> verständlich, wie es zu einer Radikalisierung kommen kann, in der dann 
> auch bewußt und unbewußt Gewalt als Mittel der Veränderung eine Rolle 
> spielt. Ich bin aber der Meinung - natürlich nicht ich alleine - , daß 
> Gewalt nur in einem einzigen Fall nützlich und zu rechtfertigen ist: 
> wenn es darum geht andere Gewalt durch Gegengewalt zu stoppen. Für 
> alles andere, was darüber hinaus geht, ist Gewalt ein untaugliches 
> Mittel.
> Ich lebe in Deutschland auf dem in mancher Hinsicht ziemlich 
> idyllischen Land und meine Kenntnis von den politischen Entwicklungen 
> in Südamerika ist sicher sehr lückenhaft, aber ich habe den Eindruck, 
> daß zumindest große Teile der "Befreiungsbewegungen" (ich habe das 
> jetzt in Anführungszeichen gesetzt, weil es eine sehr pauschale 
> Bezeichnung ist), die Untauglichkeit der Gewalt für eine andere 
> Vergesellschaftung erkannt haben.
> Das also wollte ich voranschicken, um zu sagen: ich habe Verständnis 
> für Willis impulsive Äußerungen.
> Da ich gerade bei Südamerika bin, will ich Bert auch gleich darauf 
> hinweisen, daß die BGE-Debatte in Deutschland und Europa durchaus 
> nicht blind für die Verhältnisse im großen Rest der Welt ist. Es gibt 
> Überlegungen darüber, daß die Einführung eines Grundeinkommens auf 
> keinen Fall auf das relativ wohlhabende Deutschland oder Europa 
> beschränkt werden kann, daß es eher sinnvoll wäre, damit in den 
> ärmsten Regionen der Welt zu beginnen. Als einen prominenten Vertreter 
> dieser Haltung nenne ich Werner Rätz; er ist aber nicht alleine. 
> Welche Auswirkungen ein BGE nur für Europa für die 
> Migrationsbewegungen auf unserem Globus nach sich ziehen würde, kann 
> sich jeder ausmalen.
> Zur Berechnung von BGE-Finanzierungsmodellen
> Ich bin wie viele andere auch der Meinung, daß solche Modelle keine 
> Prognosen liefern können, wie die Wirtschaft mit einem BGE künftig 
> laufen wird, deshalb schenke ich diesen Modellen keine große 
> Aufmerksamkeit. Dennoch sind sie wohl unter den gegenwärtigen 
> Umständen unverzichtbar, denn solange wir in 
> bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften leben, ist ohne berechnete 
> Modelle eine politische Durchsetzung im parlamentarischen Verfahren 
> aussichtslos. Ich bin nicht der Meinung, daß der Grundgedanke des BGE 
> an die Geldform gebunden ist, im Gegenteil läßt er sich geldlos sehr 
> einfach erklären. Aber solange wir uns zentral über das Geld 
> vergesellschafteten, müssen auch BGE-Verfechter sich die Mühe machen, 
> über Geld nachzudenken. Was ist eigentlich Geld? Wie entsteht es? Was 
> kann es und was nicht? Oder besser: Was können wir über das Geld 
> erreichen und was nicht? Diese Fragen treiben mich schon länger um, 
> als die BGE-Frage und sie scheinen mir noch sehr unterbelichtet in den 
> BGE-Kreisen. Da in dieser Debatte hier schon der Name Brodbeck 
> gefallen ist, möchte ich darauf hinweisen, daß Karl-Heinz Brodbeck ein 
> äußerst aufklärendes Buch mit dem Titel "Die Herrschaft des Geldes 
> ..." geschrieben hat, das für mein Verständnis an Bedeutung dem 
> Marxschen "Kapital" gleichkommt und mit dem er zentrale Fragen, die 
> bei Marx offen geblieben sind beantwortet.
> Unter anderem kann man nach der Lektüre dieses Buches auch verstehen, 
> warum es mit der Abschaffung des Geldes bisher immer gründlich schief 
> gegangen ist. Geld ist eine unserer Vergesellschaftungsformen (neben 
> der Sprache u.a.) und die Abschaffung des Geldes würde die Abschaffung 
> unserer Vergesellschaftung bedeuten, wenn wir nicht andere Formen 
> finden, welche die Aufgaben übernehmen (und besser machen), die wir 
> bis jetzt über das Geld lösen.
> Willi ist der Meinung, daß es ganz einfach ist, wenn wir alles lokal 
> und vielleicht noch regional Organisieren und ich bin auch ein 
> Anhänger und Mittäter in dieser Sache. Aber wie Bert bin ich auch 
> überzeugt, daß der Zustand der Menschheit gegenwärtig nicht einfach 
> umgestellt werden kann. Wenn wir nicht mit den gleichen totalitären 
> Wahnvorstellungen wie die großen Diktatoren des letzten Jahrhunderts 
> über Leichen gehen wollen, müssen wir uns überlegen, wie eine Umkehr 
> menschlich machbar ist. Ob und wie dann die Menschen in der Zukunft 
> ihre Existenz lokal, regional oder auch global (wahrscheinlich auf 
> allen drei Ebenen) organisieren, darüber müssen wir uns nicht den Kopf 
> zerbrechen; das ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist, einen 
> verträglichen Übergang in eine gerechtere und friedlichere Form der 
> Vergesellschaftung zu ermöglichen.
> Untrennbar mit dem Verständnis des Geldes ist der Wertbegriff. Was 
> Bert dazu schreibt kann ich unterstützen. Zu Willis Wertbegriff will 
> ich nur etwas relativierendes anmerken. Der Gedanke, daß meine 
> Arbeitstätigkeit an der Zeit gemessen und entsprechend vergolten wird, 
> ist doch gebunden an die Vorstellung, daß Arbeit nur als Mühe, als 
> Quälerei betrachtet wird, die ich nur mache, weil ich dazu irgendwie 
> gezwungen bin. Unter Herrschaftsverhältnissen ist das die Regel, 
> deshalb scheint diese Denkweise so selbstverständlich. Wenn ich eine 
> Tätigkeit aber ausführe, weil ich daran Freude habe und/oder einsehe, 
> daß es irgendwie wichtig und sinnvoll ist, denke ich gar nicht oder 
> jedenfalls viel weniger darüber nach, ob mir das jemand bezahlt oder 
> sonstwie mich entschädigt; weil es keinen Schaden gibt. Also ist 
> "Wert" in diesem Falle überflüssig, zumindest als berechenbare Größe. 
> Wertschätzung meiner (nützlichen) Tätigkeit durch andere Menschen wird 
> zwar mit dem abstrakten Wert in der Geldform in Zusammenhang gebracht, 
> ist aber eine ganz andere Sache.
> Aus dieser Perspektive könnte Geld also in einer herrschaftsfreien 
> Gesellschaft schon verschwinden. Aber Geld hat eben noch andere 
> Funktionen in den Massengesellschaften, in denen wir leben: die 
> Vermittlung der Vielzahl verschiedener Bedürfnisse der Individuen mit 
> der Vielzahl der produktiven Fähigkeiten. In kleinen Gemeinschaften 
> kann diese Vermittlung durch direkte Kommunikation erfolgen. Aber wir 
> leben heute größtenteils nicht mehr in kleinen Gemeinschaften und es 
> ist auch nicht möglich, daran so schnell etwas zu ändern (sofern das 
> auch gewollt wäre), daß nicht zwischendurch die meisten verhungern 
> oder sonstwie zugrundegehen müssten. Das Mittel zur Abwendung einer 
> Katastrophe bei Abschaffung des Geldes ist noch nicht gefunden. Auch 
> Berts geäußerter Wunsch nach einer Planwirtschaft 2.0 ist da nicht 
> ohne weiteres erfüllbar, denn bisher basiert jeder Wirtschaftsplan 
> genauso auf dem zweifelhaften Wertbegriff wie eine Geldwirtschaft und 
> droht daher mit unberechenbaren Risiken und Nebenwirkungen für die es 
> eben noch keinen Arzt oder Apotheker gibt. Trotzdem bin ich aber auch 
> der Meinung, daß Wirtschaften irgendwie ein planvolles Handeln sein 
> sollte und (mit Sicht auf die "Realsozialismen") nicht identisch mit 
> Kommandowirtschaft sein muß.
> So, wie ich ein bedingungsloses Grundeinkommen für einen genial 
> einfachen Schritt in diese Richtung halte, sehe ich auch den 
> Gesellschen Geldreformgedanken als eine geniale Übergangslösung an, 
> beides sind Möglichkeiten, die uns Freiraum verschaffen können, um 
> dann gründlich über alles Weitere nachzudenken. Ich weiß, daß die 
> Vorstellungen zu einer Geldreform umstritten sind und beobachte seit 
> Jahren, wie durch gegenseitige Ignoranz und Unterstellungen Fronten 
> aufgebaut bzw. zementiert werden. Eine vorurteilsfreie 
> Auseinandersetzung würde manche geistige Verkrampfung lösen können und 
> Wege eröffnen zu freundlicheren Entwicklungen.
> Was das BGE betrifft, entscheidet sich das "für" oder "gegen" 
> letztlich an dem Bild, das ein Mensch von sich und von den anderen 
> Menschen hat. Deshalb ist für mich eine der entscheidendsten Fragen, 
> zu klären, woher das (nach meiner Überzeugung) falsche Menschenbild 
> der BGE-Gegner kommt. Für mich ist nach langem und gründlichem (?) 
> Nachforschen klar geworden, daß dieses Menschenbild zusammen mit der 
> Herrschaftsgesellschaft entstanden ist. In meinen Augen ist das eine 
> Fehlentwicklung (ein Bruch in der vorherigen Entwicklung) der 
> Menschheit, der vor ca. 7000 bis 8000 Jahren begonnen hat und seitdem 
> ins Verderben führt. Inzwischen ist es höchste Zeit diesen falschen 
> Weg zu verlassen, also zu einer Umkehr.
> Deshalb lese ich solche Äußerungen wie: "Wir wollen doch nicht zurück 
> in die Steinzeit" immer mit gemischten Gefühlen. Das Bild, welches wir 
> uns von vergangenen Gesellschaften machen, ist in der Regel verzerrt 
> von ideologischen Absichten. Genau wie der "real existiert habende 
> Sozialismus" versucht auch der "real existierende Kapitalismus" seine 
> Existenz durch eine entsprechende Umfärbung der Geschichte zu 
> rechtfertigen. Sowohl vergangene wie auch zukünftige gesellschaftliche 
> Zustände sind nur Konstruktionen in unserem Bewußtsein, im Grunde hat 
> es nie eine Vergangenheit gegeben und wird es nie eine Zukunft geben, 
> da alles was geschieht hier und jetzt geschieht, in der Gegenwart. 
> Alle Gedankenkonstruktionen über Zukünftiges und Vergangenes haben nur 
> Sinn als Hilfsmittel zur Gestaltung unserer Gegenwart. (Ich bin 
> versucht, noch anzufügen: in Ewigkeit amen.)
> Vielleicht habe ich mich jetzt etwas vergaloppiert, aber ich lasse das 
> trotzdem stehen.
> Zur Auseinandersetzung mit keynesianischen BGE-Gegnern (also Flassbeck 
> usw.)
> Keynesianische oder neokeynesianische Literatur zur jüngsten 
> Wirtschaftsgeschichte kann sehr Aufschlussreich sein, was die 
> Mechanismen der verrückt gewordenen Finanzmärkte betrifft. Allerdings 
> scheint ihre Perspektive für die Zukunft (!?) einzig darin zu bestehen 
> die Beute (den Profit) etwas "gerechter" zu verteilen 
> (Vollbeschäftigung bei hohen Löhnen) und ansonsten so weiter zu 
> machen,wie bisher: ewiges Wachstum. Die Plünderung des Planeten und 
> (unausgesprochen) der "Dritten Welt" bzw. der kapitalistischen 
> Peripherie wird verdrängt.
> Und mir scheint, daß sich bei den Keynesianern bestätigt, was ich 
> gerade über das Menschenbild gesagt habe: Keynesianer können sich 
> offensichtlich nicht vorstellen, daß Menschen menschlich vernünftig 
> Handeln, ohne unter Druck gesetzt zu werden. Sachzwänge sind da immer 
> schnell gefunden.
> Ich habe mich bisschen von Berts flottem Stil anstecken lassen, wenn 
> diese Debatte ganz öffentlich wäre, würde ich das alles (in den 
> letzten Sätzen) moderater formulieren.
> Keynes selbst hatte ja durchaus auch das Ende des Kapitalismus in 
> seinem Horizont; er erhoffte sich dieses Ende, wenn der Kapitalismus 
> so viel Reichtum geschaffen hat, daß "der Rentier in einem Meer von 
> Kapital ersäuft", also in etwa das, was Marx mit dem tendenziellen 
> Fall der Profitrate zu beschreiben versuchte. Mit der Einführung 
> seines Begriffs der Erwartungen hatte Keynes den Schlüssel zur 
> Erkenntnis in der Hand, daß menschliches Wirtschaften kein 
> mechanischer Automatismus ist, der quasi Naturgesetzlich abläuft. Er 
> hat diesen Schritt nicht getan, genau so wie Marx aufgrund seiner 
> materialistischen Überzeugung nicht von dieser Vorstellung eines 
> gesetzmäßigen Verlaufs der Wirtschaft und der ganzen Geschichte 
> loskommen konnte (und wollte). Aber Wirtschaft wie auch menschliche 
> Geschichte sind von Menschen gemacht, also nicht naturgesetzlich; die 
> neueste Hinterhältigkeit menschlicher Kreativität im Dienste der 
> Herrschaftsverhältnisse ist die Erfindung des "green new deal", womit 
> die notwendige Reparatur der ökologischen Schäden profitabel umgelenkt 
> wurde. Auf diesem Wege eröffnet sich eine wahrhaft unendliche 
> Möglichkeit der Vollbeschäftigung. Kein Naturgesetz hilft uns aus 
> dieser Misere heraus; es hängt wirklich alles nur an unserer 
> Entscheidung, endlich damit aufzuhören.
> Manfred Bartl macht einige Bemerkungen über den Zusammenhang von BGE 
> und Inflation. Im großen ganzen kann ich ihm beistimmen, allerdings 
> nicht bei der Behauptung, steigende Preise seien keine Inflation, 
> solange die Kaufkraft gleich schnell steigt. Das kann sie ja nur, 
> indem die für Konsumtion verausgabte Geldmenge im selben Tempo steigt. 
> Würde das wirklich gleichzeitig mit der Preissteigerung geschehen, 
> würden zwar die Folgen der Preissteigerung kompensiert, aber Inflation 
> bleibt es trotzdem. Und in der Regel hinkt die Lohnsteigerung hinter 
> der Preissteigerung hinterher und folglich entstehen auf der Lohnseite 
> immer Verluste.
> Auch den Gedanken, das BGE einfach durch Gelddrucken zu finanzieren 
> halte ich für keine gute Idee. Was das für Entwicklungen auslöst 
> sollte vielleicht mal detaillierter ausgemalt werden, ich fürchte das 
> ist dann nicht mehr steuerbar.
> Schließlich will ich noch ein paar Worte zu der Debatte über den Staat 
> sagen.
> Genau wie die Rolle des Geldes ist die Rolle des Staates eine 
> zwiespältige. Einmal ist er Herrschaftsinstrument oder Machtinstrument 
> der herrschenden Klasse (so haben wir es in der DDR in der Schule 
> gelernt und das ist nicht falsch), andererseits erfüllt er aber eine 
> Vielzahl von Aufgaben, die wir nicht einfach liegenlassen können 
> (obwohl ich durchaus auch sehe, daß es zahlreiche Aufgaben bzw. 
> Funktionen gibt, die erst durch die Existenz eines Herrschaftsstaats 
> erzeugt werden). Aus unserer gegenwärtigen Wirklichkeit heraus können 
> wir also "den Staat" genauso wenig abschaffen, wie das Geld. Aber in 
> der Gestaltung eines anderen Staatsgebildes sind der menschlichen 
> Kreativität keine grenzen gesetzt; und natürlich können wir das auch 
> anders nennen.
> Herzlichen Gruß an alle Beteiligten.
> Jochen Tittel
>

-------------- nächster Teil --------------
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