[Debatte-Grundeinkommen] Antwort auf Willis letzte Mail zur Ökonomie-Diskussion

Jochen Tittel jochentittel at web.de
Do Sep 11 17:35:54 CEST 2014


Lieber Willi,
da Du mir auch Deinen Austausch mit K.H. Brodbeck zugeschickt hast, muß 
ich Dir sagen, daß ich Hochachtung vor Brodbecks Leistung habe, daß er 
es geschafft hat, den Inhalt seines Buches auf 1200 Seiten zu 
verdichten; da ist keine Seite überflüssig. Ich habe dieses Buch gerade 
zum zweiten mal gelesen und ich weiß, daß ich auch beim dritten mal noch 
dazulernen kann (das muß aber erstmal warten). Natürlich kann man 
einzelne Aspekte der Wirklichkeit auch auf dreißig Seiten beschreiben; 
mitunter auch mit einem einzigen Satz. Aber wenns an die praktische 
Umsetzung geht, stellt sich dann meistens sehr bald heraus, daß damit 
eben doch noch nicht alles wichtige erfaßt ist.
Wenn Du zwischen Ökonomie und Distributionssphäre unterscheidest, meinst 
Du wohl mit Ökonomie die Produktion, verstehe ich Dich da richtig? Dann 
hast Du einen sehr speziellen Ökonomie-Begriff. Ein großer Teil der 
ökonomischen Fachliteratur befaßt sich fast ausschließlich mit den 
Austauschprozessen und einige Ökonomen schließen die Produktionssphäre 
direkt aus der ökonomischen Wissenschaft aus. Wenn wir ökonomische 
Themen besprechen wollen, müssen wir also schon bei der Wahl der 
Begriffe anfangen zu klären, worüber wir eigentlich reden. Auch die 
Trennung dieser beiden Sphären ist keine einfache Tatsache, denn 
schließlich kann die eine nicht ohne die andere existieren.
Was Du über ökonomische Unabhängigkeit schreibst, kann ich auch nicht 
unterstützen. Ich denke, für uns Menschen, soweit wir uns als materielle 
Wesen sehen, gibt es keine Unabhängigkeit; weder von den natürlichen 
Voraussetzungen unserer Existenz noch von den sozialen 
(gesellschaftlichen). Wir sind unaufhebbar verbunden mit der natürlichen 
und sozialen Umwelt. Aber ich denke, was Du mit Unabhängigkeit meinst, 
das gibt es doch, nur ist Unabhängigkeit der falsche Name dafür. Es 
liegt in unserer Macht, die Art der Abhängigkeit in gewissen Grenzen 
selbst zu bestimmen. Das heißt: wir können unsere Beziehungen zur Natur 
und unseren Mitmenschen selbst gestalten.
Aus Deinem Begriff der Unabhängigkeit schimmert mir das dekartessche Ego 
oder der liberale homo oeconomicus durch, diese Wurzel der 
Herrschaftsideologie, die für mich die Ursache nahezu aller Übel ist. Es 
gibt eine einzige Form der Unabhängigkeit, die nicht auf Herrschaft 
hinausläuft, die liegt in der Auflösung unserer Ego-Grenzen. Ich 
vermute, daß das für Dich gegenwärtig keine Option ist, oder täusche ich 
mich da?
Aus der Einsicht heraus, daß wir als Individuen in der Welt unsere 
Abhängigkeiten gestalten können und müssen, ergibt sich für mich auch 
eine andere Perspektive für die (ich sage jetzt mal) wirtschaftlichen 
Beziehungen, die wir schaffen können. Ich schließe nicht aus, daß 
einzelne Menschen oder Gruppen eine vollständige Autonomie und Isolation 
von der restlichen Menschheit anstreben und vielleicht kann man so auch 
glücklich werden. Aber für die meisten Menschen ist das nicht 
anstrebenswert. Meine Idealvorstellung von einem guten Leben sieht etwa 
so aus: Wenn wir als Menschheit es geschafft haben werden, mit der Natur 
in einer harmonischen Beziehung zu leben, kann ich als menschliches 
Individuum auch ohne produktive Tätigkeit in dieser Natur existieren, so 
wie nach meiner Überzeugung die frühesten Menschen von und mit der Natur 
gelebt haben, ohne zu "arbeiten". Ich muß es aber nicht dabei belassen, 
denn ich verfüge über kreative Fähigkeiten und Bedürfnisse; genauer: wir 
Menschen verfügen darüber, denn nur in der Gemeinschaft sind wir 
wirklich Menschen. Unser Stoffwechsel mit der Natur wird sich aber ganz 
anders gestalten, wenn wir nicht mehr dem Wahn verfallen sind, wir 
könnten oder müssten die Natur beherrschen. Wir werden vielleicht auch 
dann irgendwann kosmische Reisen unternehmen, um zu sehen, ob es noch 
andere Zivilisationen da draußen gibt, aber wir müssen es nicht tun, 
bloß weil uns die Erde unter unseren Füßen verdirbt.
Ich hatte in meiner vorigen Mail geschrieben, daß wir den Staat nicht 
einfach abschaffen können und habe das auch begründet. Du verstehst mich 
aber falsch, wenn Du daraus einen Wunsch meinerseits nach einem Staat im 
Sinne der heute existierenden Staaten, deutest. Ich sage es also nochmal 
ausdrücklich: auf ein Herrschaftsgebilde können wir gut verzichten, auf 
gesellschaftliche Organisation aber nicht.
Was den Staatshaushalt betrifft, bin ich auch nicht mit Deiner Äußerung 
einverstanden. Staaten finanzieren sich in erster Linie durch Steuern, 
und wenn ein Staat kein Herrschaftsinstrument, sondern eine auf freier 
Vereinbarung der Menschen geschaffene Institution ist, werden auch diese 
Steuern so vereinbart und sind (in einer Geldwirtschaft) notwendig, 
damit der Staat seine notwendigen Aufgaben erfüllen kann.
Daß sich heute Staaten durch Schuldenaufnahme bei Banken finanzieren 
müssen (kein Staat druckt selbst Geld), ist die Folge einer Entwicklung, 
die die Herrschaftsmacht von der politischen auf die ökonomische Ebene 
verschoben hat. Die Staaten sind zwar noch die Herrschaftsinstrumente, 
aber eben nur die Instrumente, nicht die Herren. In dieser Hinsicht sind 
wir uns ja wieder einig.
Nun reden wir nochmal über den Wertbegriff.
Gehen wir zunächst von der kapitalistischen Realität aus. Kein 
Kapitalist bezahlt einen Arbeiter dafür, daß er Zeit in seinem 
Unternehmen verbringt, sondern er erwartet dafür eine zielgerichtete 
Tätigkeit mit einem vorgeschriebenen Ergebnis. Ob dieses Ergebnis sich 
auch als Wert darstellt, liegt aber nicht in der Hand des einzelnen 
Kapitalisten, das entscheidet sich auf dem Markt. Auf der anderen Seite 
wird aber die Arbeit auch nicht einfach nach dem Maß der aufgewendeten 
Zeit bezahlt, sondern - wie schon Marx feststellen konnte - wird die 
Arbeit unterschiedlich bewertet. Marx verwendet den Begriff der 
potenzierten Arbeit; darüber, wie man solche potenzierte Arbeit 
bewertet, hat er nichts näheres gesagt (soweit ich weiß). Schaut man 
sich heute die gängige Praxis diesbezüglich an, ist leicht 
festzustellen, daß die Stellung in der gesellschaftlichen 
Herrschaftspyramide darüber entscheidet, wie viel je meine Arbeitsstunde 
Wert ist. Wir sind uns sicher einig, daß diese Vorgehensweise weit davon 
entfernt ist, eine sachlich-objektive Grundlage für einen Wert zu 
liefern. Denken wir uns eine herrschaftsfreie Gesellschaft mit 
Geldwirtschaft, dann wäre es tatsächlich eine Möglichkeit, alle Arbeit 
gleichermaßen nach der aufgewendeten Zeit zu vergelten. Alle bekommen 
den gleichen Lohn, egal ob Chefarzt, Straßenfeger oder Konzerndirektor 
(sofern es diese Berufe dann noch gibt). Die Gegenargumente sind 
bekannt: wer würde sich noch die Mühe machen und ein jahrelanges Studium 
auf sich nehmen, wenn nachher nicht mehr rausspringt (der homo 
oeconomicus !). Dann könnte man etwa sagen, ein notwendiges Studium ist 
ja auch Arbeit, also bezahlen wir auch den Studenten den gleichen Lohn. 
Aber wie viel Stunden arbeitet ein Student täglich? Muß er etwa nach 
acht Stunden aufhören, weil er das dann nicht mehr bezahlt bekommt? Und 
was produziert ein Student für den Markt? Hier auf dieser Liste der 
BGE-Debatte wird sicher jeder gleich daran denken, daß all diese Fragen 
verschwinden, wenn wir anstelle der Rechnerei ein vernünftiges 
Grundeinkommen einführen. Aber wie wir es auch sonst drehen, wir 
bekommen keine nachvollziehbare berechenbare Relation zwischen 
individuell aufgewendeter Arbeitszeit und dem Preis einer Ware auf dem 
Markt. Der Wert ist eine Fiktion, aber sie dient uns die Vielfalt der 
produktiven Fähigkeiten mit der Vielfalt der Bedürfnisse der Menschen zu 
vermitteln (mehr schlecht als recht).
Übrigens hat Silvio Gesell den Wertbegriff abgelehnt; ergibt sich die 
Frage: welcher Speicherfunktion hat sich Gesell dann zugewandt? Ich 
würde sagen: der Geldspeicherung.
Aber damit ist die Verwirrung noch nicht gelöst, denn es stellt sich 
heraus, daß auch die Frage, was denn eigentlich Geld sei, bisher noch 
nicht beantwortet war. Erst Karl-Heinz Brodbeck hat eine schlüssige und 
befriedigende Antwort gefunden. Und diese Antwort zieht eine ganze 
Schlange neuer Fragen nach sich. Außer Brodbeck gibt es noch eine Reihe 
anderer Autoren, die auch dicht an dieser Lösung dran sind, so daß ich 
glaube, daß in nächster Zeit spannende Entwicklungen zu erwarten sind, 
wenn man sich für theoretisches Denken interessiert. Für mich  ist das 
nicht nur eine abgehobene Spielerei, sondern der Versuch der 
Selbstaufklärung der Gesellschaft.
In der Tat gibt es noch jede Menge Diskussionsbedarf; so sehe ich das 
auch. Also bis auf weiteres.
Herzlichen Gruß an Alle, die hier teilnehmen.
Jochen



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