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Di Nov 25 09:53:13 CET 2014
Hallo,
ich habe gerade und wohl auch auf absehbare Zeit eher andere Foki,
möchte aber zumindest ein wenig meinen Senf dazu geben. Wird aber für
meine Verhältnisse knapper ausfallen als ich's mir wünschen würde.
@Andreas S.
Ich sehe zwei inhaltliche Herausforderungen in deiner Mail. Meine
Vermutung wäre ja, dass dein Verweis auf das gestern geschriebene Buch
eine despektierliche Bemerkung in meine Richtung war, eine Art
Persiflage, oder? Ist aber nur eine Vermutung, du machst das nicht
wirklich klar. Falls dem so ist, möchte ich nur darauf hinweisen, dass
die SciFi-story, an der ich schreibe, zwar auch theoretisch-sachliche
Überlegungen enthält, in erster Linie aber eine Geschichte ist, die ich
erzähle. Ich mag das Geschichtenerzählen lieber als den
kalt-auftrumpfenden Logos. Und es erscheint mir angemessener, weil wir
eigentlich vor sozialpsychologischen Problemen stehen und nicht vor
logischen.
Die erste Herausforderung ist die offensichtliche: Wer soll denn dann
herrschen? Die finde ich relativ wenig herausfordernd. Niemand und alle
wäre die simple polittheoretische Antwort, so etwas wie Mutter Natur
oder der Heilige Geist in den Herzen und Köpfen der Menschen eine
spirituelle, Urvertrauen auf die Sinnhaftigkeit der Einzelimpulse der
Menschen innerhalb ihres Naturzusammenhangs bei jedem einzelnen Menschen.
Ich finde deine Frage in gewisser Weise falsch gestellt. Wenn ich Muße
hätte, würde ich jetzt einen Bogen von der Dialektik von Herr und Knecht
in Hegels Phänomenologie des Geistes bis hin zu Luhmanns
Autopoiesis-Begriff schlagen. So deute ich das nur an, indem ich
beispielsweise nochmal an die 23. Fußnote in Marxens Kapital erinnere,
die ich Willi gegenüber mal zitierte. Die Quintessenz dieses Bogens
wäre: Herrschaft ist ein gesellschaftliches Verhältnis und keine
Einbahnstraße. Die organisierte Menschheit bewegt sich in unzähligen,
hochkomplexen Netzwerken, in denen alle Einzelnen, selbst die
ausführenden Kräfte, Verantwortung tragen. Keine Position in den oberen
Hierarchieebenen könnte ohne diese vielseitige Verantwortung wirklich
funktionieren. Die Hierarchien freilich versuchen alles zu durchformen,
eine Richtung zu geben, Zweck und Sinn, nicht selten den von Macht und
Ausbeutung, die leere Gefräßigkeit der Wertverwertung.
Ich bin in den letzten Jahren mindestens zweimal im persönlichen Kontakt
mit Bekannten konfrontiert worden mit Verschwörungstheorien, die
ziemlich ähnlich gestrickt waren wie die politische Großwetterlage in
Orwells 1984. Wieder so ein Trippel: Drei Machtblöcke konkurrieren
miteinander, die beiden schwächeren jeweils gegen den stärksten. Bis das
Verhältnis kippt und einer der schwächeren zum stärksten mutiert. Dann
gibt's einen Wechsel der Allianzen. Dem Protagonisten in 1984 fällt das
vor allem auf, weil er nach einem solchen Allianzenwechsel die
Zeitungsarchive so anzupassen hat, dass es so aussieht, als wäre die
neue Allianz eine ewige gewesen.
Ich hab's nicht so mit Verschwörungstheorien, weil die mir gedanklich so
undurchdringlich erscheinen. Die eine der erwähnten beiden ging von drei
Konkurrenten aus: Katholische Kirche, Judentum und das dritte habe ich
schon wieder vergessen. Die andere ging zwar auch von drei Machtblöcken
aus, war aber subtiler darin, dass sie außerdem noch vermutete, dass
alle drei Machtblöcke eigentlich in Einheit von einer kleinen Elite
koordiniert werden, Weltherrschaft eine kleinen Minderheit da draußen
irgendwo lauert.
Man kann so einen Begriff von Herrschaft haben. Aber er bleibt
prolbematisch, weil das Gewimmel nie aufhören wird. Dort, wo die
Herrschaft eine Schneise der verbindlichen Verantwortungen, der klaren
kapitalen Interessen, des definitiven juristischen Systems schlägt, sind
immer auch die kleinen Menschen mit ihren Macken und Ticks, ihrer
Eigenwilligkeit, ihrem Nichtidentischen. Ganz zu schweigen von der
Natur, die ja auch nicht zur Gänze verstanden ist und höchst eigenwillig
bleibt. Deshalb schon wird das System nie so reibungslos funktionieren
wie die Herrschsucht sich das in ihren Omnipotenz-Phantasien vorstellt.
Herrschaft bleibt ewig ein dialektisches Verhältnis, würde ich denken.
Oder verschwindet, was ich einfach, erlösender fände als zu gucken, ob
die Omnipotenz sich nicht doch irgendwie realisieren lässt.
Das soll so etwas heißen wie: Ich glaube gar nicht daran, dass du Recht
hast und die Reichen, Mächtigen etc. tatsächlich in irgendeinem
absoluten Sinn herrschen würden. Sie bleiben Abhängige des
Gesamtsystems, in gewisser Weise nicht weniger unterworfen als der Rest
der Menschheit. Allerdings mit größeren Freiheiten und
Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Das liegt vor allem daran, dass
ich mich vor allem mit einer markt- und staatskritischen
Theorietradition befasst habe, die Markt und Demokratie trotz all ihrer
offensichtlichen Erlogenheit gleichwohl auch als reale ernst nahm. Die
marxistische Theorietradition halt. Ich bin in Bremen in allen möglichen
Systemen trotz all des spürbaren Drucks auch mit einer großen Menge
Laissez-faire herangewachsen. Das gehört einfach zur bürgerlichen
Gesellschaft dazu: Die Rechte des Individuums, sich nicht unterordnen zu
müssen. Obwohl Hartz4 uns da freilich etwas anderes drüber erzählt und
auch Recht behält: Letztlich bleiben wir dann doch wieder Untergeordnete
des Systems, auch in all unseren kleinen Freiheiten. Das aber, wie
gesagt, würde ich auch als Merkmal der Reichsten und Mächtigsten
ansehen. We're in this together.
Die zweite Herausforderung finde ich härter. Sie lag implizit in deinem
Text: Die Reichen haben die größte Angst davor, arm zu werden. Die mit
den größten Freiheiten und Entscheidungsbefugnissen sind diejenigen, die
sich davor am meisten fürchten, sie zu verlieren. Das scheint mir in der
Tat unser zentrales Problem zu sein. Die kleinen Leute glauben im
Zweifelsfall sowieso an ein Miteinander füreinander. Wenn sie daran
nicht mehr glauben können, dann werden sie welt-, fremd- oder
autoaggressiv. Wie soll man sonst die Unterworfenheit aushalten? Bei den
Mittelschichten wird das vermutlich schon etwas schwieriger: Die
Radfahrer-Mentalität zeigt Wirkung, nach oben buckeln, nach unten
treten. Man ist ja nicht Pöbel, sondern wenigstens irgendwie irgendwas
Besseres. Je höher man in der Gesellschaft zu denen aufsteigt, die
wirklich Masterpläne aushecken, über Leichenmeere gehen und sich einen
auf ihren leeren Narzissmus auf ihrem Porsche oder ihrer Villa
runterholen, desto sichtbarer dürfte das Problem werden: Wieso soll ich
mich denn gemein machen? Und sei es so eine abstrakte Gemeinheit wie die
eines anständigen bGEs? Wie sagt das Orakel über den Merowinger? Er will
das, was alle Männer mit Macht wollen: noch mehr Macht. Ein Fass ohne Boden.
Wie gesagt, meine Zeit ist gerade eher knapp für dies hier. Ich will
daher jetzt nicht darüber meditieren, welche Leere eigentlich mit dem
ganzen Konsumismus zugestopft wird. Das ist sozialpsychologisch ein
weites Feld. Stattdessen möchte ich eine Metapher in den Raum werfen,
die dem Thema vielleicht einen gewissen Spin geben könnte. Ich hatte
bereits vor deiner Mail, lieber Andreas, darüber nachgedacht, mal über
meine Rolle hier zu reflektieren. Hanswurst des Weltgeists erschien mir
ein ganz prägnanter Titel. Ich erinnerte mich an eine Tradition der
Anthroposophen, das Namen-Tanzen. Habe das selber nie gemacht, nur hier
und da mitbekommen, dass darin wohl viel Heiterkeit steckt. Deshalb kam
mir die Idee ulkig vor, hier mal eine kleine Choreografie des
Hanswurst-Tanzes zu skizzieren. Dafür fehlt mir gerade die Muße. Der
größte Hanswurst, den ich in der Literaturgeschichte kennenlernte, fiel
mir dabei ein, wäre der Vater von Dostojewskis Brüdern Karamassow,
Fjodor. Schon das hatte mich dazu angetrieben, mal wieder über den
Großinquisitor (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Großinquisitor )
nachzudenken. Deine Herausforderung, lieber Andreas, macht das bei mir
dringlicher. Ich will also ein Bild malen.
Reisen wir auf einem Gedanken aus Licht in den Kerker, wo der
Großinquisitor dem inhaftierten Jesus im ausgehenden Mittelalter seinen
großen Rechtfertigungsmonolog schmeißt, die ethisch plausibelste
Rechtfertigung von Herrschaft, die mir bislang begegnete. Möge sich
dieser Gedanke aus Licht in einen Spinnenfaden verwandeln, an dem wir
als Spinne baumelnd Teil des Kerkerbiotops werden. Bevor Jesus sein
Kind, den Inquisitor, küssen wird, werden unsere acht Punktaugen m. E.
etwas Sonderbares sehen: Angstschweiß auf des Inquisitors Antlitz. Werde
ich in die Hölle fahren? Wird der Messias mich auf alle Zeit verfluchen?
Werde ich auch nur einen Augenblick des Lieblosen in seiner allseitigen
Liebe spüren? Wird er mich verachten? Wird Gott mich verstoßen wie den
Widersacher?
Wie alle Spinnen intuitiv von ihren Opfern wissen, sind Angst und Wut
enge Geschwister. Wo Angst ist, ist Wut häufig nicht sonderlich weit.
Also fragen wir uns in der Luft baumelnd: Ist da Wut in des Inquisitors
Wesen? Unsere feinen Sinne erspüren sie: Nur ein Mensch. Wieder und
wieder nur ein Mensch. Und käme er milliardenfach wieder auf die Erde,
wir könnten ihn kreuzigen und kreuzigen und kreuzigen. Welch
Kinderspiel, ihn in den Kerker werfen zu lassen. Er wird auferstehen,
ok, aber was soll's? Für meine machttaktischen, für meine politischen
Ziele, für meine Führung der Menschen vor Ort ist er eine Gefahr. Wäre
es nicht besser, ihn für den Augenblick aus dem Weg zu räumen?
Wir Spinnen kennen dieses Dilemma an unseren unterlegenen Opfern nur zu
gut: Sie sind zwar wütend und würden gerne angreifen, aber wir sind
gefährlicher. Sie sind auch ängstlich und würden am liebsten davon
laufen, aber wir sind schneller. Wir sind Jäger, sie unsere Beute. Also
fangen sie zu verhandeln an: Ach, musst du denn wirklich hier und jetzt
ausgerechnet mich zu deiner Leibspeise machen? Dahinten ist doch auch
ein hübsches Käferlein. Also monologisiert auch der Inquisitor. Ein
Balanceakt zwischen Angst und Wut. Bin ich schon so tief in der Hölle,
dass mich der Erlöser nicht mehr wird erlösen wollen? Dann sollte ich
mich auf die Seite Luzifers schlagen und ihn morgen vor den Augen der
Stadt hinrichten lassen. Oder ist er als Erlöser so stark, dass er mich
aus den Untiefen der Hölle, die ich doch unter mir brodeln spüren kann,
erretten wird, weil er auch sieht, dass irgendetwas Menschliches und
Gutes in mir verblieben ist? Ich muss verhandeln, mich um Kopf und
Kragen reden und darf den richtigen Augenblick für eine Entscheidung
nicht verpassen: Angriff oder Unterwerfung.
Ein Bild, das hoffentlich etwas klar macht: Wir sind so oder so im
Miteinander füreinander. Die Reichen und Mächtigen sollten sich daher
dafür entscheiden, Jesu Kuss zu erhoffen. Er sieht ihre Sünden ohnehin.
Wozu lange quatschen? Sie sind noch nicht in die Hölle geworfen, sondern
potent auf der Erde, die sie aber auch in eine Hölle verwandeln. Es
bleibt ihre Wahl, wohin die Reise geht. Nicht nur ihre, letztlich
vielleicht gar nicht. Ich würde denken, dass so etwas wie die Weltseele
einfach reif dafür ist, das Miteinander füreinander ernst zu nehmen und
die ganze Scheiße von ich bin
besser/reicher/schöner/schneller/langschwanziger als du einfach mal ein
bisschen zur Seite zu schieben. Ich finde Russell Brand da echt
prägnant: Wir sind einfach zutiefst angeödet von diesem Spiel. Es ist
lahm, langweilig. Mal abgesehen davon, dass es brutal und ekelhaft ist.
Wir warten bloß noch darauf, dass ihr Reichen und Mächtigen das aber
echt mal endlich rafft. Es ist so gräßlich langweilig, so übermäßig
durch- und ausagiert, so unnötig geworden durch die irrwitzige
Produktivität: Was soll das bloß noch? Für eure kleine Ego-Scheiße? Och
menno, kommt klar, geht zum Analytiker, macht Tantra, schmeißt euch in
ein spirituelles Volksfest in Indien. Just get in touch. Kann echt nicht
so schwierig sein ...
Ich hatte ja schon mal gesagt, dass ich die Trennung von Spreu und
Weizen mit Flammenschwert nicht plausibel finde. Ich denke eher, dass
alle Energie im Universum ihr Recht und ihre Existenz behält. Nicht als
Identität, die es nicht gibt, sondern als Fließendes, als Erfahrendes,
als Wirkmächtiges. Meine letzte Mail war ja in gewisser Weise nur eine
Variation des Themas der one world, das immer virulenter wird, weil die
Erde für die Menschen klein geworden ist. Schon mal bei Google Earth der
blauen Kugel einen Schwung gegeben, der sie eine lange Weile schnell
drehen lässt? Alles liegt zwar nicht so einfach vor unseren Füßen, aber
bereits vor unseren Augen. Beam me up, Scotty, wird vielleicht auch nur
noch ein Weilchen auf sich warten lassen ... Um mal einen der vielen
Musik-Vibes zu geben, die sich mit diesem Thema befassen:
http://youtu.be/Hk1BQva1Tak
...
Gut, soweit erstmal dazu. Auf dich, liebe Verena, mag ich gerade nicht
eingehen. Andere Sachen sind mir gerade wichtiger. Ich hoffe, dass du
zumindest an meinem Schreibverhalten hier zu schätzen weißt, dass ich
Aufmerksamkeit auf deine Bemühungen vermutlich gelenkt habe.
Ansonsten habe ich ein paar Sachen, die ich noch reinkopieren kann, die
vor ein paar Tagen entstanden sind: eine Reflexion zur Gewaltfrage und
eine Mail an Willi, die er persönlich bereits bekam.
Liebe Grüße,
Bert
Schnipsel zur Gewaltfrage:
Die besungene Bitterkeit war in mir schon lange herangewachsen bevor ich
diesen Cohen-Song erstmals bewusst wahrnahm:
"Now, you can say that I've grown bitter but of this you may be sure:
The rich have got their channels in the bedrooms of the poor
And there's a mighty Judgement comin' but I may be wrong
You see, I hear these funny voices in the Tower of Song" (vgl. z.
B.http://youtu.be/oiAuXRK3Ogk )
Die Kanäle der Beeinflussung der Knechte durch die Herren sind
sicherlich nicht bloß und nicht in erster Linie die der Medien.
Substantieller bleiben die Hierarchien in den Unternehmen und die
schlichte individuelle Verfügungsgewalt über den gesellschaftlichen
Reichtum gemessen in Geld. Einige haben davon mehr, mehr und noch mehr
als andere.
Wäre dem aber nicht so, d. h. nimmt man die gesellschaftlichen
Verhältnisse ohne die Verzerrung durch den Unterschied von reich und arm
in nüchternem Neonlicht demokratischer Verhältnismäßigkeiten in
Augenschein, dann muss man als Humanist angesichts des mächtigen
Gerichts, das Cohen bei aller bleibenden Ungewissheit nicht weniger als
ich kommen sieht, vor allem eins und sehr ernst fordern:
Minderheitenschutz für Reiche und Selbständige/Unternehmer.
Vergegenwärtigen wir uns das kurz statistisch: Laut den zum Mikrozensus
2013 aufbereiteten Daten vom statistischen Bundesamt gibt es 4.430.000
Selbständige in Deutschland und 592.000 Leute, die von eigenem Vermögen
leben (vgl.
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/HaushalteMikrozensus/HaushalteFamilien2010300127004.pdf?__blob=publicationFile
, S. 52, Zeilen 46 und 58). Von den Selbständigen waren wiederum im Jahr
2012 57 % Solo-Selbständige und 43 % Selbständige mit Beschäftigten
(vgl.
https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Arbeitsmarkt/SelbststaendigkeitDeutschland_72013.pdf?__blob=publicationFile
, S. 486 nach Eigenzählung, S. 5 nach PDF-Zählung, Schaubild 3), absolut
also etwa 2.525.000 Solo-Unternehmer, etwa 1.905.000 klassische
Kapitalisten mit Beschäftigten, also Mehrwertproduzenten an der Wurzel
der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft. Die Solo-Unternehmer sind
Angehörige der freien Berufe und Leute, die sich halt so durchschlagen,
mehr oder weniger scheinselbständig die meisten vermutlich. Erstens
selbst und zweitens ständig und drittens meist dann doch nur von ein,
zwei großen Kunden abhängig. Vermutlich beuten sich die meisten davon
mehr aus als irgendein Arbeitnehmer in den tarifgesicherten Branchen in
Deutschland sich das am eigenen Leib vorstellen kann. Zwar haben die
Solo-Unternehmer und die Unternehmer mit Beschäftigten allein schon
aufgrund der formellen Gleichheit als Selbständige das eine oder andere
gemeinsame Interesse. Dennoch kann man diese beiden Gruppen m. E. kaum
in einen interessentheoretischen Topf werfen. Die Solo-Selbständigen
dürften weit mehr der Ware Arbeitskraft entsprechen als dem diese Ware
ausbeutenden Kapital.
Wahlberechtigt waren bei der letzten Bundestagswahl etwa 61,8 Millionen
Deutsche. Prima vista heißt das, dass die Selbständigen zusammen gut 7 %
der Wahlbevölkerung ausmachen, gut 4 % der Wahlbevölkerung sind
Solo-Selbständige, etwa 3 % Selbständige mit Beschäftigten. Die
Vermögenden machen nicht einmal 1 % der Wahlbevölkerung aus. Sehen wir
von Direktmandaten und sonstigen Kinkerlitzchen der derzeitigen
Repräsentationsregeln unseres Parlamentarismus für Bund und Länder ab,
bedeutet das, dass eigentlich weder die beiden Gruppen von Selbständigen
noch die Vermögenden in irgendeiner Weise als Interessengruppe in den
durch 5-Prozent-Hürde abgesicherten Parlamenten vertreten sein dürften.
Die Wirklichkeit sieht zwar anders aus, aber was passiert, wenn der
gesellschaftiche Schein zu sehr zu bröckeln und zu vibrieren anfängt?
Ich glaube ja, dass das in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten deutlich
verschärftes Thema werden wird, wenn nicht z. B. mit einem bGE
grundlegend gegen die schreiende Ungerechtigkeit der Einkommens- und
Vermögensverteilung einerseits, gegen die kreischende Ungerechtigkeit
gesellschaftlicher Gestaltungsmacht andererseits gegengelenkt wird.
Nun, die bürgerlichen Revolutionäre in Paris kramten vor zweieinviertel
Jahrhunderten für die nervig gewordenen Feudalherren die Guillotine aus.
Sie galt als effizient, schnell, human. Die Vernichtungslager der Nazis
waren sicherlich noch effizienter und schneller. Von Humanität lässt
sich in dem Zusammenhang allerdings freilich gar nicht sprechen, was ja
auch schon bei der Guillotine einigen Zynismus erfordert. Mal
angenommen, die Nichtvermögenden kämen zumindest in der Stärke von ein
paar Millionen Leuten quer durch alle gesellschaftliche Gruppen zu der
Auffassung, dass die Vermögenden und Strippenzieher der Wirtschaft den
Bogen einfach komplett und schon viel zu lange überspannt haben.
Bräuchte man mehr als ein, zwei, drei Tage, um sich ihrer endgültig zu
entledigen?
Wie gesagt: Diese Überlegungen heißen für mich etwas Absurdes.
Minderheitenschutz für Reiche und Unternehmer ist unabdingbar, eine
humanistische Kernaufgabe wie alle Bewahrung menschlichen Lebens. Das
ist ja die tiefe Absurdität aller Klassengegensätze: Ein kurzer
historischer Augenblick des heiligen Zorns der Knechte reicht
vollkommen, um Jahrhunderte der gefestigtsten Herrschaft vom Erdboden zu
wischen. Denn die Knechte sind einfach so, so viel mehr Menschen und
auch diejenigen, die für die Herrschenden in der Regel die Ordnung bis
hin zum Mord Unliebsamer aufrecht erhalten. Und es bedarf letztlich nur
eines kleinen Funkens, um das Pulverfass der gerechten Unzufriedenheit
zum Explodieren zu bringen. Ich habe den Eindruck, dass das noch immer
sehr autoritätshörige und ja dann doch in weiten Bevölkerungsteilen auch
noch immer sehr reiche Deutschland diese Möglichkeit gar nicht ernsthaft
in Betracht zieht, während ich sowohl politisch als auch spirituell die
Funken bereits fliegen sehe. Man vertraut da wohl auf die geschmiert
laufenden Sicherheitsdienste. Doch trotz aller politischer Feigenblätter
und volksgemeinschaftlichem "Wir haben uns doch alle lieb" sollte m. E.
niemand einfach ignorieren, dass das, was man mal gerne sozialen Frieden
genannt hat, mindestens seit der Wende, eigentlich schon seit den 70ern,
drastisch erodiert ist. Diese Erosion ist gesellschaftlich nicht
neutral, sondern eine echte Gefahr für Leib und Leben letztlich aller
Gesellschaftsmitglieder. Insbesondere gemäß der Worte von Hugo Weaving
als V in dem Anschlussfilm der Wachowski-Geschwister nach den
Matrix-Teilen für Leib und Leben der parlamentarischen Repräsentanten:
"Das Volk sollte sich nicht vor seiner Regierung fürchten. Die Regierung
sollte sich vor ihrem Volk fürchten."
Für mich heißen diese Überlegungen in Bezug auf das bGE zweierlei:
Erstens ist das Interesse von Unternehmenden und noch mehr von
Vermögenden für ein gesamtgesellschaftliches Wert&Rechtsform-Konstrukt
mangels demokratischer Masse komplett unerheblich. Mit diesem Interesse
muss man sich nicht befassen, weil es viel zu wenige Leute sind, die es
haben. Das sage ich übrigens als jemand, der derzeit recht ernsthaft
über die Gründung einer GbR gemeinsam mit meiner Frau zur Organisierung
von Selbstausbeutung und bestenfalls sozialer Arbeit nachdenkt. Zweitens
muss man diese gesellschaftliche Minderheit aber wie jede Minderheit
schützen. Insofern sollten ihre Interessen nicht unbeachtet bleiben.
Aber sie rangieren halt allemal unter "ferner liefen".
Jürgen Becker hat vor ein paar Jahren in den Mitternachtsspitzen mal
einen relativ humanen Vorschlag zum Umgang mit den oberen Zehntausend
gemacht. Sinngemäß ging der ungefähr so (sorry, finde gerade nicht die
entsprechende Folge, obwohl sie höchstwahrscheinlich irgendwo im Netz
ist): Weisen wir doch irgendein chilliges Areal in Deutschland als
Freizeitpark für Reiche aus, wo die sich dann mit ihrem gewohnten, von
der Gesellschaft zu ihrer Abspeisung bereitgestellten Luxus tummeln
können, den Rest der Republik aber auch in Frieden lassen, also nicht
mehr in irgendwelche politischen oder ökonomischen
Entscheidungsfindungen groß reinquatschen. Zumindest für die Leute, die
wirklich nur ihr Geld arbeiten lassen und sich nicht einmal darum
kümmern, dass ihr Geld arbeitet, wäre das m. E. nicht die schlechteste Idee.
Ich komme auf diese Gedanken einerseits, weil ich den Eindruck habe,
dass sowohl Götz Werners als auch Verenas bGE-Modell in erster Linie
sich um die Unternehmenden bekümmert zeigt. Klar, das wird
rationalisiert mit dem Gestus der Gemeinschaftsverantwortung der
Unternehmenden: Wenn die Lohnnebenkosten nicht arg so drückten, dann
wäre die Arbeitslosigkeit gebannt und die Arbeit nicht mehr prekär.
Diese Rationalisierung zieht zumindest bei mir nicht. Sie ist mir egal.
Vor allem deshalb, weil diese Überlegungen nicht auf das
gesellschaftliche Kernproblem eingeht, dass der fordistischen
Arbeitsgesellschaft wegen Automatisierung die Arbeit ausgeht. Wo soll da
ein Übergang zu sozialer Kulturarbeit gegeben sein? Soziale Kulturarbeit
ist heute nahezu überall subventioniert, außer im Luxussegment. Da wird
auch die Senkung von Lohnnebenkosten nichts dran ändern.
Zweitens komme ich auf diesen Gedanken, weil ich in der Matrix die
Gewaltfrage ähnlich problematisch beantwortet finde wie in vielen
Filmen, nämlich nach dem Motto "muss ja". Das wird am deutlichsten im
ersten Teil, wo sich Neo und Trinity zur Befreiung von Morpheus auf dem
Hochhaus mit ein paar Agenten duelieren: "Nur ein Mensch", sagt ein
Agent und will in Neos Kopf abdrücken. "Nur eine Maschine", entgegnet
Trinity und ist schneller. Doch noch während des Hinfallens des bloß in
einem Menschen flüchtig inkarnierten Agenten verwandelt sich der
erschossene Körper wieder in den des menschlichen Piloten, in den der
Agent bloß geschlüpft war wie ein Dämon in einen Besessenen. Also doch
nicht nur eine Maschine, sondern ein in der Matrix und damit auch in
echt getöteter Mensch (allerdings freilich im Film, also faktisch bloß
eine von den hunderttausenden Filmleichen, die ich schon gesehen habe).
Während der Agent sich irgendwo anders neu inkarniert. Klar, wie sollen
sie sonst Befreiungskampf darstellen? Klar, wie soll sonst die ganze
Actionscheiße gedeihen können? Der Widerstand geht in der Matrix über
menschliche Leichen im Dienste der vorgeblich guten Sache, die schon
deshalb aber eben gar nicht so gut sein kann, weil sie über Leichen
dafür gehen müssen. Weder richtiges Leben, noch richtiges Töten
existiert im unwahren Ganzen. Meine Frau ist von diesen
Kleine-Jungs-Baller&Allmachts-Phantasien in Matrix so mächtig abgeturnt,
dass sie die Filme trotz der durchaus auch für sie sichtbar
interessanten Hintergrundgeschichte nicht gucken mag.
M. E. ist es die Pflicht derjenigen gesellschaftlichen Kräfte, die
clever genug sind, die Erosion des gesellschaftlichen Zusammenhalts
meinetwegen aus den Gini-Graphen, sozialpsychologischen Statistiken, dem
Boom des Zombie-Genres oder aus welchen Indizien auch immer abzulesen,
dieser Erosion etwas Nachhaltiges entgegen zu setzen. Dafür ist die
bGE-Idee m. E. eine Chance, die sonst überall im System verbaut zu sein
scheint. Wenn wir die nicht auch anständig nutzen, dann versündigen wir
uns an unserer eigenen Zukunft und der sehr vieler anderer Menschen. Das
sage ich erstens aus einem gewissen soziologisch-politischen
Erfahrungsweitblick würde ich denken, zweitens wegen eines Haufen
Indizien, die m. E. in diese Richtung deuten, drittens aus einer
spirituellen Gewissheit, dass die nächsten Jahrzehnte drastischen
sozialen Wandel auch in den westlichen Zentren mit sich bringen werden.
In einem katholischen Bezugssystem würde ich es etwa so fassen: Luzifer
und die Seinen werden es in den nächsten Jahrzehnten schwerer haben als
gewohnt. Diejenigen, die ausreichend im Licht sind, sollten daher m. E.
dem Düsteren ein wenig mehr das Händchen tätscheln als üblich. Ist eine
harte Zeit für sie - auch wenn es faktisch gerade genau umgekehrt aussieht.
Mail an Willi:
Lieber Willi,
vielen Dank für dein freundliches Feedback. :o) Freut mich, dass du mein
Geschreibe genießen konntest.
Die Ethik-Moral-Geschichte verstehe ich so auf Anhieb nicht wirklich.
Für mich sind beide Begriffe ziemlich dicht beieinander. Ich denke ja
meist eher in konnotativen Wortfeldbedeutungen als in strikten
Definitionen. Wegen der Relevanz von Adornos Begriff immanenter Kritik
für mich ist auch in der begrifflichen Strenge alles immer so ein
bisschen am wabern. Und es gibt sehr viele unterschiedliche Auffassungen
davon, was Moral, was Ethik genau sei. Erfassbarkeit von Herrschaft
durch Rationalität würde ich sicherlich nicht abstreiten wollen. Mir
ging's eher darum, wo der Impuls, die Motivation, der Wille zur
Herrschaftskritik und damit auch zu dieser Form von Rationalität
herkommt. Und der lässt sich m. E. nicht gänzlich rational
aufschlüsseln, er hängt einerseits wohl an einem leiblichen Moment, am
sinnlichen Erspüren von Unterworfenheit, andererseits vermutlich an so
etwas Vagem wie mit dem Seelen-Begriff ausgedrückt wird: Die
Eigengesetzlichkeit des individuellen Sehnens und Wollens, die dagegen
bleibt, dass sich irgendeine fremde Eigengesetzlichkeit zu viel anmaßt.
Auf der anderen Seite ist m. E. völlig klar, dass Herrschaft häufig
ebenfalls sehr ratinonal funktioniert, etwa heute einen gigantischen
Militärapparat unterhält, der ohne Rationalität nun wirklich gar nicht
wäre. Rationalität hat daher eine gewisse Neutralität gegenüber
Herrschaft: Sie arbeitet ihr zu und arbeitet ihr entgegen. Das ist quasi
die Kernthese der Dialektik der Aufklärung von Horkheimer und Adorno.
Liebe Grüße nach Ecuador, wo ich vermutlich gerade auch sehr gerne wäre.
November in Bremen ist echt trübselig, ciao,
Bert
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