<html>
<head>
<meta http-equiv="content-type" content="text/html; charset=ISO-8859-15">
</head>
<body text="#000000" bgcolor="#FFFFFF">
Hallo,<br>
<br>
ich habe gerade und wohl auch auf absehbare Zeit eher andere Foki,
möchte aber zumindest ein wenig meinen Senf dazu geben. Wird aber
für meine Verhältnisse knapper ausfallen als ich's mir wünschen
würde.<br>
<br>
@Andreas S.<br>
Ich sehe zwei inhaltliche Herausforderungen in deiner Mail. Meine
Vermutung wäre ja, dass dein Verweis auf das gestern geschriebene
Buch eine despektierliche Bemerkung in meine Richtung war, eine Art
Persiflage, oder? Ist aber nur eine Vermutung, du machst das nicht
wirklich klar. Falls dem so ist, möchte ich nur darauf hinweisen,
dass die SciFi-story, an der ich schreibe, zwar auch
theoretisch-sachliche Überlegungen enthält, in erster Linie aber
eine Geschichte ist, die ich erzähle. Ich mag das
Geschichtenerzählen lieber als den kalt-auftrumpfenden Logos. Und es
erscheint mir angemessener, weil wir eigentlich vor
sozialpsychologischen Problemen stehen und nicht vor logischen.<br>
<br>
Die erste Herausforderung ist die offensichtliche: Wer soll denn
dann herrschen? Die finde ich relativ wenig herausfordernd. Niemand
und alle wäre die simple polittheoretische Antwort, so etwas wie
Mutter Natur oder der Heilige Geist in den Herzen und Köpfen der
Menschen eine spirituelle, Urvertrauen auf die Sinnhaftigkeit der
Einzelimpulse der Menschen innerhalb ihres Naturzusammenhangs bei
jedem einzelnen Menschen.<br>
Ich finde deine Frage in gewisser Weise falsch gestellt. Wenn ich
Muße hätte, würde ich jetzt einen Bogen von der Dialektik von Herr
und Knecht in Hegels Phänomenologie des Geistes bis hin zu Luhmanns
Autopoiesis-Begriff schlagen. So deute ich das nur an, indem ich
beispielsweise nochmal an die 23. Fußnote in Marxens Kapital
erinnere, die ich Willi gegenüber mal zitierte. Die Quintessenz
dieses Bogens wäre: Herrschaft ist ein gesellschaftliches Verhältnis
und keine Einbahnstraße. Die organisierte Menschheit bewegt sich in
unzähligen, hochkomplexen Netzwerken, in denen alle Einzelnen,
selbst die ausführenden Kräfte, Verantwortung tragen. Keine Position
in den oberen Hierarchieebenen könnte ohne diese vielseitige
Verantwortung wirklich funktionieren. Die Hierarchien freilich
versuchen alles zu durchformen, eine Richtung zu geben, Zweck und
Sinn, nicht selten den von Macht und Ausbeutung, die leere
Gefräßigkeit der Wertverwertung. <br>
Ich bin in den letzten Jahren mindestens zweimal im persönlichen
Kontakt mit Bekannten konfrontiert worden mit Verschwörungstheorien,
die ziemlich ähnlich gestrickt waren wie die politische
Großwetterlage in Orwells 1984. Wieder so ein Trippel: Drei
Machtblöcke konkurrieren miteinander, die beiden schwächeren jeweils
gegen den stärksten. Bis das Verhältnis kippt und einer der
schwächeren zum stärksten mutiert. Dann gibt's einen Wechsel der
Allianzen. Dem Protagonisten in 1984 fällt das vor allem auf, weil
er nach einem solchen Allianzenwechsel die Zeitungsarchive so
anzupassen hat, dass es so aussieht, als wäre die neue Allianz eine
ewige gewesen.<br>
Ich hab's nicht so mit Verschwörungstheorien, weil die mir
gedanklich so undurchdringlich erscheinen. Die eine der erwähnten
beiden ging von drei Konkurrenten aus: Katholische Kirche, Judentum
und das dritte habe ich schon wieder vergessen. Die andere ging zwar
auch von drei Machtblöcken aus, war aber subtiler darin, dass sie
außerdem noch vermutete, dass alle drei Machtblöcke eigentlich in
Einheit von einer kleinen Elite koordiniert werden, Weltherrschaft
eine kleinen Minderheit da draußen irgendwo lauert.<br>
Man kann so einen Begriff von Herrschaft haben. Aber er bleibt
prolbematisch, weil das Gewimmel nie aufhören wird. Dort, wo die
Herrschaft eine Schneise der verbindlichen Verantwortungen, der
klaren kapitalen Interessen, des definitiven juristischen Systems
schlägt, sind immer auch die kleinen Menschen mit ihren Macken und
Ticks, ihrer Eigenwilligkeit, ihrem Nichtidentischen. Ganz zu
schweigen von der Natur, die ja auch nicht zur Gänze verstanden ist
und höchst eigenwillig bleibt. Deshalb schon wird das System nie so
reibungslos funktionieren wie die Herrschsucht sich das in ihren
Omnipotenz-Phantasien vorstellt. Herrschaft bleibt ewig ein
dialektisches Verhältnis, würde ich denken. Oder verschwindet, was
ich einfach, erlösender fände als zu gucken, ob die Omnipotenz sich
nicht doch irgendwie realisieren lässt. <br>
Das soll so etwas heißen wie: Ich glaube gar nicht daran, dass du
Recht hast und die Reichen, Mächtigen etc. tatsächlich in
irgendeinem absoluten Sinn herrschen würden. Sie bleiben Abhängige
des Gesamtsystems, in gewisser Weise nicht weniger unterworfen als
der Rest der Menschheit. Allerdings mit größeren Freiheiten und
Entscheidungsbefugnissen ausgestattet. Das liegt vor allem daran,
dass ich mich vor allem mit einer markt- und staatskritischen
Theorietradition befasst habe, die Markt und Demokratie trotz all
ihrer offensichtlichen Erlogenheit gleichwohl auch als reale ernst
nahm. Die marxistische Theorietradition halt. Ich bin in Bremen in
allen möglichen Systemen trotz all des spürbaren Drucks auch mit
einer großen Menge Laissez-faire herangewachsen. Das gehört einfach
zur bürgerlichen Gesellschaft dazu: Die Rechte des Individuums, sich
nicht unterordnen zu müssen. Obwohl Hartz4 uns da freilich etwas
anderes drüber erzählt und auch Recht behält: Letztlich bleiben wir
dann doch wieder Untergeordnete des Systems, auch in all unseren
kleinen Freiheiten. Das aber, wie gesagt, würde ich auch als Merkmal
der Reichsten und Mächtigsten ansehen. We're in this together.<br>
<br>
Die zweite Herausforderung finde ich härter. Sie lag implizit in
deinem Text: Die Reichen haben die größte Angst davor, arm zu
werden. Die mit den größten Freiheiten und Entscheidungsbefugnissen
sind diejenigen, die sich davor am meisten fürchten, sie zu
verlieren. Das scheint mir in der Tat unser zentrales Problem zu
sein. Die kleinen Leute glauben im Zweifelsfall sowieso an ein
Miteinander füreinander. Wenn sie daran nicht mehr glauben können,
dann werden sie welt-, fremd- oder autoaggressiv. Wie soll man sonst
die Unterworfenheit aushalten? Bei den Mittelschichten wird das
vermutlich schon etwas schwieriger: Die Radfahrer-Mentalität zeigt
Wirkung, nach oben buckeln, nach unten treten. Man ist ja nicht
Pöbel, sondern wenigstens irgendwie irgendwas Besseres. Je höher man
in der Gesellschaft zu denen aufsteigt, die wirklich Masterpläne
aushecken, über Leichenmeere gehen und sich einen auf ihren leeren
Narzissmus auf ihrem Porsche oder ihrer Villa runterholen, desto
sichtbarer dürfte das Problem werden: Wieso soll ich mich denn
gemein machen? Und sei es so eine abstrakte Gemeinheit wie die eines
anständigen bGEs? Wie sagt das Orakel über den Merowinger? Er will
das, was alle Männer mit Macht wollen: noch mehr Macht. Ein Fass
ohne Boden.<br>
<br>
Wie gesagt, meine Zeit ist gerade eher knapp für dies hier. Ich will
daher jetzt nicht darüber meditieren, welche Leere eigentlich mit
dem ganzen Konsumismus zugestopft wird. Das ist sozialpsychologisch
ein weites Feld. Stattdessen möchte ich eine Metapher in den Raum
werfen, die dem Thema vielleicht einen gewissen Spin geben könnte.
Ich hatte bereits vor deiner Mail, lieber Andreas, darüber
nachgedacht, mal über meine Rolle hier zu reflektieren. Hanswurst
des Weltgeists erschien mir ein ganz prägnanter Titel. Ich erinnerte
mich an eine Tradition der Anthroposophen, das Namen-Tanzen. Habe
das selber nie gemacht, nur hier und da mitbekommen, dass darin wohl
viel Heiterkeit steckt. Deshalb kam mir die Idee ulkig vor, hier mal
eine kleine Choreografie des Hanswurst-Tanzes zu skizzieren. Dafür
fehlt mir gerade die Muße. Der größte Hanswurst, den ich in der
Literaturgeschichte kennenlernte, fiel mir dabei ein, wäre der Vater
von Dostojewskis Brüdern Karamassow, Fjodor. Schon das hatte mich
dazu angetrieben, mal wieder über den Großinquisitor (vgl.
<a class="moz-txt-link-freetext" href="http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Großinquisitor">http://de.wikipedia.org/wiki/Der_Großinquisitor</a> ) nachzudenken.
Deine Herausforderung, lieber Andreas, macht das bei mir
dringlicher. Ich will also ein Bild malen.<br>
<br>
Reisen wir auf einem Gedanken aus Licht in den Kerker, wo der
Großinquisitor dem inhaftierten Jesus im ausgehenden Mittelalter
seinen großen Rechtfertigungsmonolog schmeißt, die ethisch
plausibelste Rechtfertigung von Herrschaft, die mir bislang
begegnete. Möge sich dieser Gedanke aus Licht in einen Spinnenfaden
verwandeln, an dem wir als Spinne baumelnd Teil des Kerkerbiotops
werden. Bevor Jesus sein Kind, den Inquisitor, küssen wird, werden
unsere acht Punktaugen m. E. etwas Sonderbares sehen: Angstschweiß
auf des Inquisitors Antlitz. Werde ich in die Hölle fahren? Wird der
Messias mich auf alle Zeit verfluchen? Werde ich auch nur einen
Augenblick des Lieblosen in seiner allseitigen Liebe spüren? Wird er
mich verachten? Wird Gott mich verstoßen wie den Widersacher?<br>
Wie alle Spinnen intuitiv von ihren Opfern wissen, sind Angst und
Wut enge Geschwister. Wo Angst ist, ist Wut häufig nicht sonderlich
weit. Also fragen wir uns in der Luft baumelnd: Ist da Wut in des
Inquisitors Wesen? Unsere feinen Sinne erspüren sie: Nur ein Mensch.
Wieder und wieder nur ein Mensch. Und käme er milliardenfach wieder
auf die Erde, wir könnten ihn kreuzigen und kreuzigen und kreuzigen.
Welch Kinderspiel, ihn in den Kerker werfen zu lassen. Er wird
auferstehen, ok, aber was soll's? Für meine machttaktischen, für
meine politischen Ziele, für meine Führung der Menschen vor Ort ist
er eine Gefahr. Wäre es nicht besser, ihn für den Augenblick aus dem
Weg zu räumen?<br>
Wir Spinnen kennen dieses Dilemma an unseren unterlegenen Opfern nur
zu gut: Sie sind zwar wütend und würden gerne angreifen, aber wir
sind gefährlicher. Sie sind auch ängstlich und würden am liebsten
davon laufen, aber wir sind schneller. Wir sind Jäger, sie unsere
Beute. Also fangen sie zu verhandeln an: Ach, musst du denn wirklich
hier und jetzt ausgerechnet mich zu deiner Leibspeise machen?
Dahinten ist doch auch ein hübsches Käferlein. Also monologisiert
auch der Inquisitor. Ein Balanceakt zwischen Angst und Wut. Bin ich
schon so tief in der Hölle, dass mich der Erlöser nicht mehr wird
erlösen wollen? Dann sollte ich mich auf die Seite Luzifers schlagen
und ihn morgen vor den Augen der Stadt hinrichten lassen. Oder ist
er als Erlöser so stark, dass er mich aus den Untiefen der Hölle,
die ich doch unter mir brodeln spüren kann, erretten wird, weil er
auch sieht, dass irgendetwas Menschliches und Gutes in mir
verblieben ist? Ich muss verhandeln, mich um Kopf und Kragen reden
und darf den richtigen Augenblick für eine Entscheidung nicht
verpassen: Angriff oder Unterwerfung.<br>
<br>
Ein Bild, das hoffentlich etwas klar macht: Wir sind so oder so im
Miteinander füreinander. Die Reichen und Mächtigen sollten sich
daher dafür entscheiden, Jesu Kuss zu erhoffen. Er sieht ihre Sünden
ohnehin. Wozu lange quatschen? Sie sind noch nicht in die Hölle
geworfen, sondern potent auf der Erde, die sie aber auch in eine
Hölle verwandeln. Es bleibt ihre Wahl, wohin die Reise geht. Nicht
nur ihre, letztlich vielleicht gar nicht. Ich würde denken, dass so
etwas wie die Weltseele einfach reif dafür ist, das Miteinander
füreinander ernst zu nehmen und die ganze Scheiße von ich bin
besser/reicher/schöner/schneller/langschwanziger als du einfach mal
ein bisschen zur Seite zu schieben. Ich finde Russell Brand da echt
prägnant: Wir sind einfach zutiefst angeödet von diesem Spiel. Es
ist lahm, langweilig. Mal abgesehen davon, dass es brutal und
ekelhaft ist. Wir warten bloß noch darauf, dass ihr Reichen und
Mächtigen das aber echt mal endlich rafft. Es ist so gräßlich
langweilig, so übermäßig durch- und ausagiert, so unnötig geworden
durch die irrwitzige Produktivität: Was soll das bloß noch? Für eure
kleine Ego-Scheiße? Och menno, kommt klar, geht zum Analytiker,
macht Tantra, schmeißt euch in ein spirituelles Volksfest in Indien.
Just get in touch. Kann echt nicht so schwierig sein ...<br>
<br>
Ich hatte ja schon mal gesagt, dass ich die Trennung von Spreu und
Weizen mit Flammenschwert nicht plausibel finde. Ich denke eher,
dass alle Energie im Universum ihr Recht und ihre Existenz behält.
Nicht als Identität, die es nicht gibt, sondern als Fließendes, als
Erfahrendes, als Wirkmächtiges. Meine letzte Mail war ja in gewisser
Weise nur eine Variation des Themas der one world, das immer
virulenter wird, weil die Erde für die Menschen klein geworden ist.
Schon mal bei Google Earth der blauen Kugel einen Schwung gegeben,
der sie eine lange Weile schnell drehen lässt? Alles liegt zwar
nicht so einfach vor unseren Füßen, aber bereits vor unseren Augen.
Beam me up, Scotty, wird vielleicht auch nur noch ein Weilchen auf
sich warten lassen ... Um mal einen der vielen Musik-Vibes zu geben,
die sich mit diesem Thema befassen: <a class="moz-txt-link-freetext" href="http://youtu.be/Hk1BQva1Tak">http://youtu.be/Hk1BQva1Tak</a><br>
<br>
...<br>
<br>
Gut, soweit erstmal dazu. Auf dich, liebe Verena, mag ich gerade
nicht eingehen. Andere Sachen sind mir gerade wichtiger. Ich hoffe,
dass du zumindest an meinem Schreibverhalten hier zu schätzen weißt,
dass ich Aufmerksamkeit auf deine Bemühungen vermutlich gelenkt
habe. <br>
<br>
Ansonsten habe ich ein paar Sachen, die ich noch reinkopieren kann,
die vor ein paar Tagen entstanden sind: eine Reflexion zur
Gewaltfrage und eine Mail an Willi, die er persönlich bereits bekam.<br>
<br>
Liebe Grüße,<br>
<br>
Bert<br>
<br>
<br>
Schnipsel zur Gewaltfrage:<br>
<meta http-equiv="CONTENT-TYPE" content="text/html;
charset=ISO-8859-15">
<p style="margin-bottom: 0cm">Die besungene Bitterkeit war in mir
schon lange herangewachsen bevor ich diesen Cohen-Song erstmals
bewusst wahrnahm:<br>
„Now, you can say that I've grown
bitter but of this you may be sure:<br>
The rich have got their channels in the
bedrooms of the poor<br>
And there's a mighty Judgement comin'
but I may be wrong<br>
You see, I hear these funny voices in
the Tower of Song“ (vgl. z. B.<a
href="http://youtu.be/oiAuXRK3Ogk">http://youtu.be/oiAuXRK3Ogk</a>
)<br>
</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Die Kanäle der Beeinflussung der
Knechte durch die Herren sind sicherlich nicht bloß und nicht in
erster Linie die der Medien. Substantieller bleiben die
Hierarchien
in den Unternehmen und die schlichte individuelle Verfügungsgewalt
über den gesellschaftlichen Reichtum gemessen in Geld. Einige
haben
davon mehr, mehr und noch mehr als andere.<br>
Wäre dem aber nicht so, d. h. nimmt
man die gesellschaftlichen Verhältnisse ohne die Verzerrung durch
den Unterschied von reich und arm in nüchternem Neonlicht
demokratischer Verhältnismäßigkeiten in Augenschein, dann muss man
als Humanist angesichts des mächtigen Gerichts, das Cohen bei
aller
bleibenden Ungewissheit nicht weniger als ich kommen sieht, vor
allem
eins und sehr ernst fordern: Minderheitenschutz für Reiche und
Selbständige/Unternehmer.</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Vergegenwärtigen wir uns das kurz
statistisch: Laut den zum Mikrozensus 2013 aufbereiteten Daten vom
statistischen Bundesamt gibt es 4.430.000 Selbständige in
Deutschland und 592.000 Leute, die von eigenem Vermögen leben
(vgl.
<a
href="https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/HaushalteMikrozensus/HaushalteFamilien2010300127004.pdf?__blob=publicationFile">https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/HaushalteMikrozensus/HaushalteFamilien2010300127004.pdf?__blob=publicationFile</a>
, S. 52, Zeilen 46 und 58). Von den Selbständigen waren wiederum
im
Jahr 2012 57 % Solo-Selbständige und 43 % Selbständige mit
Beschäftigten (vgl.
<a
href="https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Arbeitsmarkt/SelbststaendigkeitDeutschland_72013.pdf?__blob=publicationFile">https://www.destatis.de/DE/Publikationen/WirtschaftStatistik/Arbeitsmarkt/SelbststaendigkeitDeutschland_72013.pdf?__blob=publicationFile</a>
, S. 486 nach Eigenzählung, S. 5 nach PDF-Zählung, Schaubild 3),
absolut also etwa 2.525.000 Solo-Unternehmer, etwa 1.905.000
klassische Kapitalisten mit Beschäftigten, also
Mehrwertproduzenten
an der Wurzel der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft. Die
Solo-Unternehmer sind Angehörige der freien Berufe und Leute, die
sich halt so durchschlagen, mehr oder weniger scheinselbständig
die
meisten vermutlich. Erstens selbst und zweitens ständig und
drittens
meist dann doch nur von ein, zwei großen Kunden abhängig.
Vermutlich beuten sich die meisten davon mehr aus als irgendein
Arbeitnehmer in den tarifgesicherten Branchen in Deutschland sich
das
am eigenen Leib vorstellen kann. Zwar haben die Solo-Unternehmer
und
die Unternehmer mit Beschäftigten allein schon aufgrund der
formellen Gleichheit als Selbständige das eine oder andere
gemeinsame Interesse. Dennoch kann man diese beiden Gruppen m. E.
kaum in einen interessentheoretischen Topf werfen. Die
Solo-Selbständigen dürften weit mehr der Ware Arbeitskraft
entsprechen als dem diese Ware ausbeutenden Kapital. </p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Wahlberechtigt waren bei der letzten
Bundestagswahl etwa 61,8 Millionen Deutsche. Prima vista heißt
das,
dass die Selbständigen zusammen gut 7 % der Wahlbevölkerung
ausmachen, gut 4 % der Wahlbevölkerung sind Solo-Selbständige,
etwa
3 % Selbständige mit Beschäftigten. Die Vermögenden machen nicht
einmal 1 % der Wahlbevölkerung aus. Sehen wir von Direktmandaten
und
sonstigen Kinkerlitzchen der derzeitigen Repräsentationsregeln
unseres Parlamentarismus für Bund und Länder ab, bedeutet das,
dass
eigentlich weder die beiden Gruppen von Selbständigen noch die
Vermögenden in irgendeiner Weise als Interessengruppe in den durch
5-Prozent-Hürde abgesicherten Parlamenten vertreten sein dürften.
Die Wirklichkeit sieht zwar anders aus, aber was passiert, wenn
der
gesellschaftiche Schein zu sehr zu bröckeln und zu vibrieren
anfängt? Ich glaube ja, dass das in den nächsten ein, zwei
Jahrzehnten deutlich verschärftes Thema werden wird, wenn nicht z.
B. mit einem bGE grundlegend gegen die schreiende Ungerechtigkeit
der
Einkommens- und Vermögensverteilung einerseits, gegen die
kreischende Ungerechtigkeit gesellschaftlicher Gestaltungsmacht
andererseits gegengelenkt wird. </p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Nun, die bürgerlichen Revolutionäre
in Paris kramten vor zweieinviertel Jahrhunderten für die nervig
gewordenen Feudalherren die Guillotine aus. Sie galt als
effizient,
schnell, human. Die Vernichtungslager der Nazis waren sicherlich
noch
effizienter und schneller. Von Humanität lässt sich in dem
Zusammenhang allerdings freilich gar nicht sprechen, was ja auch
schon bei der Guillotine einigen Zynismus erfordert. Mal
angenommen,
die Nichtvermögenden kämen zumindest in der Stärke von ein paar
Millionen Leuten quer durch alle gesellschaftliche Gruppen zu der
Auffassung, dass die Vermögenden und Strippenzieher der Wirtschaft
den Bogen einfach komplett und schon viel zu lange überspannt
haben.
Bräuchte man mehr als ein, zwei, drei Tage, um sich ihrer
endgültig
zu entledigen?</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Wie gesagt: Diese Überlegungen heißen
für mich etwas Absurdes. Minderheitenschutz für Reiche und
Unternehmer ist unabdingbar, eine humanistische Kernaufgabe wie
alle
Bewahrung menschlichen Lebens. Das ist ja die tiefe Absurdität
aller
Klassengegensätze: Ein kurzer historischer Augenblick des heiligen
Zorns der Knechte reicht vollkommen, um Jahrhunderte der
gefestigtsten Herrschaft vom Erdboden zu wischen. Denn die Knechte
sind einfach so, so viel mehr Menschen und auch diejenigen, die
für
die Herrschenden in der Regel die Ordnung bis hin zum Mord
Unliebsamer aufrecht erhalten. Und es bedarf letztlich nur eines
kleinen Funkens, um das Pulverfass der gerechten Unzufriedenheit
zum
Explodieren zu bringen. Ich habe den Eindruck, dass das noch immer
sehr autoritätshörige und ja dann doch in weiten
Bevölkerungsteilen
auch noch immer sehr reiche Deutschland diese Möglichkeit gar
nicht
ernsthaft in Betracht zieht, während ich sowohl politisch als auch
spirituell die Funken bereits fliegen sehe. Man vertraut da wohl
auf
die geschmiert laufenden Sicherheitsdienste. Doch trotz aller
politischer Feigenblätter und volksgemeinschaftlichem „Wir haben
uns doch alle lieb“ sollte m. E. niemand einfach ignorieren, dass
das, was man mal gerne sozialen Frieden genannt hat, mindestens
seit
der Wende, eigentlich schon seit den 70ern, drastisch erodiert
ist.
Diese Erosion ist gesellschaftlich nicht neutral, sondern eine
echte
Gefahr für Leib und Leben letztlich aller Gesellschaftsmitglieder.
Insbesondere gemäß der Worte von Hugo Weaving als V in dem
Anschlussfilm der Wachowski-Geschwister nach den Matrix-Teilen für
Leib und Leben der parlamentarischen Repräsentanten: "Das Volk
sollte sich nicht vor seiner Regierung fürchten. Die Regierung
sollte sich vor ihrem Volk fürchten."</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Für mich heißen diese Überlegungen
in Bezug auf das bGE zweierlei: Erstens ist das Interesse von
Unternehmenden und noch mehr von Vermögenden für ein
gesamtgesellschaftliches Wert&Rechtsform-Konstrukt mangels
demokratischer Masse komplett unerheblich. Mit diesem Interesse
muss
man sich nicht befassen, weil es viel zu wenige Leute sind, die es
haben. Das sage ich übrigens als jemand, der derzeit recht
ernsthaft
über die Gründung einer GbR gemeinsam mit meiner Frau zur
Organisierung von Selbstausbeutung und bestenfalls sozialer Arbeit
nachdenkt. Zweitens muss man diese gesellschaftliche Minderheit
aber
wie jede Minderheit schützen. Insofern sollten ihre Interessen
nicht
unbeachtet bleiben. Aber sie rangieren halt allemal unter „ferner
liefen“. </p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Jürgen Becker hat vor ein paar Jahren
in den Mitternachtsspitzen mal einen relativ humanen Vorschlag zum
Umgang mit den oberen Zehntausend gemacht. Sinngemäß ging der
ungefähr so (sorry, finde gerade nicht die entsprechende Folge,
obwohl sie höchstwahrscheinlich irgendwo im Netz ist): Weisen wir
doch irgendein chilliges Areal in Deutschland als Freizeitpark für
Reiche aus, wo die sich dann mit ihrem gewohnten, von der
Gesellschaft zu ihrer Abspeisung bereitgestellten Luxus tummeln
können, den Rest der Republik aber auch in Frieden lassen, also
nicht mehr in irgendwelche politischen oder ökonomischen
Entscheidungsfindungen groß reinquatschen. Zumindest für die
Leute,
die wirklich nur ihr Geld arbeiten lassen und sich nicht einmal
darum
kümmern, dass ihr Geld arbeitet, wäre das m. E. nicht die
schlechteste Idee.</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Ich komme auf diese Gedanken
einerseits, weil ich den Eindruck habe, dass sowohl Götz Werners
als
auch Verenas bGE-Modell in erster Linie sich um die Unternehmenden
bekümmert zeigt. Klar, das wird rationalisiert mit dem Gestus der
Gemeinschaftsverantwortung der Unternehmenden: Wenn die
Lohnnebenkosten nicht arg so drückten, dann wäre die
Arbeitslosigkeit gebannt und die Arbeit nicht mehr prekär. Diese
Rationalisierung zieht zumindest bei mir nicht. Sie ist mir egal.
Vor
allem deshalb, weil diese Überlegungen nicht auf das
gesellschaftliche Kernproblem eingeht, dass der fordistischen
Arbeitsgesellschaft wegen Automatisierung die Arbeit ausgeht. Wo
soll
da ein Übergang zu sozialer Kulturarbeit gegeben sein? Soziale
Kulturarbeit ist heute nahezu überall subventioniert, außer im
Luxussegment. Da wird auch die Senkung von Lohnnebenkosten nichts
dran ändern.</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Zweitens komme ich auf diesen
Gedanken,
weil ich in der Matrix die Gewaltfrage ähnlich problematisch
beantwortet finde wie in vielen Filmen, nämlich nach dem Motto
„muss
ja“. Das wird am deutlichsten im ersten Teil, wo sich Neo und
Trinity zur Befreiung von Morpheus auf dem Hochhaus mit ein paar
Agenten duelieren: „Nur ein Mensch“, sagt ein Agent und will in
Neos Kopf abdrücken. „Nur eine Maschine“, entgegnet Trinity und
ist schneller. Doch noch während des Hinfallens des bloß in einem
Menschen flüchtig inkarnierten Agenten verwandelt sich der
erschossene Körper
wieder in den des menschlichen Piloten, in den der Agent bloß
geschlüpft war wie ein Dämon in einen Besessenen. Also doch nicht
nur eine Maschine, sondern ein in der Matrix und damit auch in
echt
getöteter Mensch (allerdings freilich im Film, also faktisch bloß
eine von den hunderttausenden Filmleichen, die ich schon gesehen
habe). Während der Agent sich irgendwo anders neu inkarniert.
Klar,
wie sollen sie sonst Befreiungskampf darstellen? Klar, wie soll
sonst
die ganze Actionscheiße gedeihen können? Der Widerstand geht in
der
Matrix über menschliche Leichen im Dienste der vorgeblich guten
Sache, die schon deshalb aber eben gar nicht so gut sein kann,
weil
sie über Leichen dafür gehen müssen. Weder richtiges Leben, noch
richtiges Töten existiert im unwahren Ganzen. Meine Frau ist von
diesen Kleine-Jungs-Baller&Allmachts-Phantasien in Matrix so
mächtig abgeturnt, dass sie die Filme trotz der durchaus auch für
sie sichtbar interessanten Hintergrundgeschichte nicht gucken mag.
</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">M. E. ist es die Pflicht derjenigen
gesellschaftlichen Kräfte, die clever genug sind, die Erosion des
gesellschaftlichen Zusammenhalts meinetwegen aus den Gini-Graphen,
sozialpsychologischen Statistiken, dem Boom des Zombie-Genres oder
aus welchen Indizien auch immer abzulesen, dieser Erosion etwas
Nachhaltiges entgegen zu setzen. Dafür ist die bGE-Idee m. E. eine
Chance, die sonst überall im System verbaut zu sein scheint. Wenn
wir die nicht auch anständig nutzen, dann versündigen wir uns an
unserer eigenen Zukunft und der sehr vieler anderer Menschen. Das
sage ich erstens aus einem gewissen soziologisch-politischen
Erfahrungsweitblick würde ich denken, zweitens wegen eines Haufen
Indizien, die m. E. in diese Richtung deuten, drittens aus einer
spirituellen Gewissheit, dass die nächsten Jahrzehnte drastischen
sozialen Wandel auch in den westlichen Zentren mit sich bringen
werden. In einem katholischen Bezugssystem würde ich es etwa so
fassen: Luzifer und die Seinen werden es in den nächsten
Jahrzehnten
schwerer haben als gewohnt. Diejenigen, die ausreichend im Licht
sind, sollten daher m. E. dem Düsteren ein wenig mehr das Händchen
tätscheln als üblich. Ist eine harte Zeit für sie - auch wenn es
faktisch gerade genau umgekehrt aussieht.<br>
</p>
<p style="margin-bottom: 0cm"><br>
</p>
<p style="margin-bottom: 0cm"><br>
Mail an Willi:<br>
</p>
<p style="margin-bottom: 0cm">Lieber Willi,
<br>
<br>
vielen Dank für dein freundliches Feedback. :o) Freut mich, dass
du mein Geschreibe genießen konntest.
<br>
<br>
Die Ethik-Moral-Geschichte verstehe ich so auf Anhieb nicht
wirklich. Für mich sind beide Begriffe ziemlich dicht beieinander.
Ich denke ja meist eher in konnotativen Wortfeldbedeutungen als in
strikten Definitionen. Wegen der Relevanz von Adornos Begriff
immanenter Kritik für mich ist auch in der begrifflichen Strenge
alles immer so ein bisschen am wabern. Und es gibt sehr viele
unterschiedliche Auffassungen davon, was Moral, was Ethik genau
sei. Erfassbarkeit von Herrschaft durch Rationalität würde ich
sicherlich nicht abstreiten wollen. Mir ging's eher darum, wo der
Impuls, die Motivation, der Wille zur Herrschaftskritik und damit
auch zu dieser Form von Rationalität herkommt. Und der lässt sich
m. E. nicht gänzlich rational aufschlüsseln, er hängt einerseits
wohl an einem leiblichen Moment, am sinnlichen Erspüren von
Unterworfenheit, andererseits vermutlich an so etwas Vagem wie mit
dem Seelen-Begriff ausgedrückt wird: Die Eigengesetzlichkeit des
individuellen Sehnens und Wollens, die dagegen bleibt, dass sich
irgendeine fremde Eigengesetzlichkeit zu viel anmaßt.
<br>
Auf der anderen Seite ist m. E. völlig klar, dass Herrschaft
häufig ebenfalls sehr ratinonal funktioniert, etwa heute einen
gigantischen Militärapparat unterhält, der ohne Rationalität nun
wirklich gar nicht wäre. Rationalität hat daher eine gewisse
Neutralität gegenüber Herrschaft: Sie arbeitet ihr zu und arbeitet
ihr entgegen. Das ist quasi die Kernthese der Dialektik der
Aufklärung von Horkheimer und Adorno.
<br>
<br>
</p>
Liebe Grüße nach Ecuador, wo ich vermutlich gerade auch sehr gerne
wäre. November in Bremen ist echt trübselig, ciao,
<br>
<br>
Bert
<br>
<br>
<br>
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<br>
<br>
<br>
<br>
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