[Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht, Mensch zu sein...

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Sa Sep 25 19:29:37 CEST 2010


Hallo Norbert, und wen's sonst noch interessiert,

danke für Deine Antwort! Bevor ich mich an die Liste hier wandte, habe ich mich (natürlich) vorbereitet und stieß dabei auf die Formel "Kein Recht ohne Pflicht; keine Pflicht ohne Recht" - das war bei Friedrich Heinrich Jacobi (Es ist nicht recht, und es ist nicht klug, 1779) und Johann Gottfried Seume (Kurzes Pflichten- und Sittenbuch für Landleute, 1811). Bei Kant fand ich ebenfalls etwas dazu (Metaphysik der Sitten, 1789), was offenbar Prof. Alfonsas Vaisvila (Vilnius, Litauen, 2005) folgendermaßen zusammenfaßte: "Ein Recht ohne Pflicht ist ein Privileg, eine Pflicht ohne Recht ist bloßer Zwang"; gleiches wird (scheinbar unabhängig) in der "Waldethik" von Adam Hangartner (Schweiz, 2003) ausgesagt. Wird in dieser Formel "Recht" mit "Recht auf Pflicht" ersetzt, wird's interessant: "Ein Recht auf Pflicht ohne Pflicht ist ein Privileg; eine Pflicht ohne Recht auf Pflicht (sagen wir, die Einsicht in die Notwendigkeit der Pflicht) ist bloßer Zwang."

Wie legte es Goethe im Faust so nett in den Mund von Mephisto: Wer kann was Dummes, wer was Kluges denken,/ das nicht die Vorwelt schon gedacht? Soll heißen, daß wir hier offenbar über nix neues reden...

Während mir der Artikel bei den Menschenrechten entgangen ist (merci für den Hinweis!), habe ich allerdings auch schon über Artikel 14(2) GG nachgedacht. Wir kennen einen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz: "Eigentum" beinhaltet das Herrschaftsrecht an einer Sache; "Besitz" hingegen das faktische Herrschaftsrecht. Beides muß sich nicht zwingend in den Händen einer Person befinden (z.B. Hauseigentümer und Hausmieter). Was passiert nun, wenn man Rechte als Eigentum auffaßt?

Siehst man sich als "wirklichen Eigentümer (seiner Rechte)" hat man auch "Pflichten" (laut Gesetz); sieht man sich nur als "rechtsformaler Besitzer (seiner Rechte)", entledigt man sich seinen Pflichten (und privilegiert sich nach obiger Formel) - mir stellt sich dann nur die Frage beim Privileg, wer in diesem Fall der wirkliche "Eigentümer" der Rechte ist...

Betrachtet man die Sache vom Standpunkt des Staates aus (der übrigens, wie alle Gemeinwesen, kein Gewissen hat!), muß er meine Rechte als sein "Eigentum" betrachten, um mir gegenüber irgendwelche Verpflichtungen einzugehen, denn als "rechtsformaler Besitzer" ist er zu prinzipiell zu gar nichts verpflichtet... 

Diese Betrachtung hilft zum Beispiel auch beim Rechtsverständnis zwischen Kindern und Eltern - Kinder sind Eigentümer ihrer Rechte, während die Eltern (mit Gewissen!) im Besitz der Rechte (des Kindes) sind - darin eingeschlossen, das "Recht auf Pflicht". Das kann man verstärken, indem man das ungeborene Leben mit einbezieht (dann wäre "Mein Bauch gehört mir" nur der Hausmieter!).

Abschließende Bemerkung: der Eigentumsbegriff des GG ist unbestimmt und obliegt der Auslegung in Streitfällen, wobei der rechtspositivistische Ansatz vom Gewohnheitsrecht Gebrauch macht; was soviel heißt, daß auf Auslegungen zurückgegriffen wird, die in dem Fall schon Anwendung gefunden haben. Und ob Rechte als Eigentum gesehen werden, ist so eine Sache...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus




  ----- Original Message ----- 
  From: Norbert Maack 
  To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Saturday, September 25, 2010 2:06 AM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht,Mensch zu sein...


  Hallo zusammen,
  hier der Art 29 der Allgemeinen Erlärung der Menschenrechte:

  Artikel 29 [Pflichten]
    1.. Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist. 

    2.. Jeder Mensch ist in Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschließlich zu dem Zwecke vorsieht, um die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten der anderen zu gewährleisten und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und der allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen. 

    3.. Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden. 

  Das müsste jetzt allerdings konkretisiert werden. 

  Ich meine z. B. dass auch der Satz aus dem GG "Eigentum verpflichtet" viel ernster genommen werden müsste. Auch in der Allmende und in den ursprünglichen Kulturen (M. Mauss) scheinen  Pflichten bzw. Verpflichtungen eine wesentliche Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu spielen. Mit dem Empfang von Gaben gehen Verpflichtungen einher, z. B. diese nicht zu horten sondern zu nutzen und mit einer Rück-, Gegen- oder Weitergabe zu einem späteren Zeitpunkt zu beantworten. Ob die Begriffe Pflicht und Verpflichtung einer stimmigen Übersetzung entsprechen lässt sich allerdings bezweifeln. 
  Eine weitere Frage wäre, ob es in Eurem Verständnis auch "selbstverständliche Pflichten" gibt, oder ob Pflicht mit Zwang gekoppelt sein muss. 
  Ein interessantes und  wichtiges Thema, wie ich finde.
  Mit sonnigen Grüßen
      Norbert Maack




  Am 24.09.2010 05:49, schrieb Joerg Drescher: 
    Hallo Dagmar,

    danke auch für Deine Antwort...

    Die Geschichten aus Afrika zeigen ein Ergebnis auf Basis einer bestimmten Kultur... Jene Menschen fühlen sich vielleicht eher selbstverpflichtet, mit ihren Möglichkeiten etwas anzustellen. Daraus zu schließen, das wäre eine allgemeine menschliche Eigenschaft führt mich zu der Frage, weshalb wir dann nicht in einer "guten Welt" leben. Kollidieren nicht genau diese unterschiedlichen Vorstellungen einer "guten Welt", weshalb es nicht so ist? Oder will mir jemand sagen, daß die rechtlichen Rahmenbedingungen nicht für eine "gute Welt" gedacht sind?

    Wir haben ein Recht zu leben - Zustimmung! - Wir haben ein Recht, ein gutes Leben führen zu können - Zustimmung! - Aber dürfen wir das auch? Wer hält uns davon ab? Die Behauptung, die "Pflicht zur Arbeit" empfinde ich als Entschuldigung...

    Es ist übrigens nicht richtig, daß man sich diese Rechte nicht erarbeiten muß und auch nicht dazu gezwungen wird. Das geht sogar aus der "Natur des Menschen" hervor, was wir aber offensichtlich vergessen haben (weil wir in einer solchen Kultur leben). Man braucht sich nur allein auf eine einsame Insel versetzen und ganz schnell wird man merken, daß man durch den natürlichen Stoffwechsel "gezwungen" wird, etwas zu unternehmen.

    Hannah Arendt meinte auch, daß die Menschenrechte eine allgemeingültige, bedingungslose Angelegenheit wäre - mußte aber feststellen, daß dem nicht so ist. Sie wollte aus diesem Grund ein Recht, Rechte zu haben (was es übrigens nach Art. 6 der UN-Menschenrechte gibt). Nur, damit wiederhole ich mich, was nützt mir jeder Recht, wenn ich es einerseits nicht einklagen kann, was zwei Dinge voraussetzt: Jemand fühlt sich verpflichtet und jemand hat das Recht, diese (seine) Pflicht umzusetzen.

    Wer genug Geld hat, könnte ja mal versuchen, ein BGE-Pilotprojekt in einem ukrainischen Dörfchen zu machen. Einerseits dürfte das mit den rechtlichen Vorbedingungen schwierig werden, andererseits könnten die Ergebnisse (im Vergleich zu Afrika) sehr überraschen. Aber das sind Spekulationen...

    Viele Grüße aus Kiew,

    Jörg (Drescher)
    Projekt Jovialismus

      ----- Original Message ----- 
      From: Dagmar Paternoga 
      To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de ; Martina Steinheuer 
      Sent: Thursday, September 23, 2010 10:44 AM
      Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht,Mensch zu sein...


            Hier eine kurze Rückmeldung:
            Ich kann mich den Ausführungen von Martina nur anschließen und möchte darauf hinweisen, dass  sowohl beim basic income Projekt in Nambia und auch bei ähnlichen Projekten im südlichen Afrika, z.B. Sambia, die Ergebnisse zeigen, dass die Menschen auch ohne Bedingungen und Vorschriften genau wissen, wie sie sinnvoll mit dem Einkommen umgehen (siehe auch bignam.org).
            Abgesehen davon bin ich der Meinung, dass Menschenrechte ein Recht sind für jeden Menschen auf Welt gültig, ohne dass zuerst Bedingungen daran geknüpft werden. Wir haben das Recht zu leben und ein gutes Leben führen zu können, das muss sich niemand erarbeiten oder dazu gezwungen werden.
            Viele Grüße
            Dagmar

            --- Martina Steinheuer <m3stein at yahoo.de> schrieb am Mi, 22.9.2010:


              Von: Martina Steinheuer <m3stein at yahoo.de>
              Betreff: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Vom Recht auf Pflicht, Mensch zu sein...
              An: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
              Datum: Mittwoch, 22. September, 2010 22:52 Uhr


              Der Versuch einer Antwort:

              MIR gefällt der Text zu den "Menschenpflichten" überhaupt nicht. Nicht, dass ich inhaltlich großartig etwas daran auszusetzen hätte; im Großen und Ganzen steht ja nichts umwerfend Neues darin. 

              Doch was für ein Menschenbild steckt denn eigentlich hinter solch einem "Pflichtenkatalog"?

              Soll ich mir das so vorstellen, dass ein Mensch geboren wird und dann irgendwann, mit Erlangung der nötigen Reife quasi zwei Entscheidungsmöglichkeiten zur Auswahl hat: "Gut" zu werden und sich diesen ganzen Pflichten zu beugen oder eben "schlecht" zu werden um den Preis von Sanktionen.

              Sind wir Menschen denn tatsächlich bloß eine Art leeres Gefäß, dass man erst mit einem Katalog von ethischen Werten füllen muss?

              Ich finde das einigermaßen lächerlich. Wenn ich ein solches Menschenbild hätte, würde ich mich wohl kaum für ein Grundeinkommen einsetzten und schon gar nicht für ein "bedingungsloses" in dem Sinne, dass ich eben NICHT das Akzeptieren eines "Pflichtenhefts der Menschlichkeit" fordere, sondern schlichtweg davon ausgehe, dass der Mensch, wenn man ihm denn die Muße und die Freiheit gibt, sein Leben - materiell grundgesichtert durch ein BGE - SELBST zu gestalten, aus sich selbst heraus bestrebt ist, es nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Mitmenschen gut gehen zu lassen.

              Was ist mit matriachalen Gesellschaftsentwürfen? Was mit Allmende, an vielen Orten der Welt lange und erfolgreich im Sinne des Gemeinwohls praktiziert? Auch ohne Pflichtenheft haben Menschen schon vor langer Zeit gemerkt, dass Kooperation und Gemeinsinn für ein friedliches Miteinander zuträglicher sind, als Habgier und Egoismus. 

              Die Tatsache, DASS es aber all die negativen Auswüchse unseres menschlichen Daseins gibt, ist kaum ein Beweis dafür, dass wir nicht irgendwo tief drinnen eine Ahnung davon hätten, was uns eigentlich wichtig ist.

              ...und mit den paar untherapierbaren Soziopathen, die es sicher - aus den unterschiedlichsten Gründen - geben mag (1 bis 4 pro 100, habe ich mal gelesen), werden wir als menschliche Gemeinschaft sicher fertig, wenn wir nur aufhören, deren Eigenschaften für besonders ehrenvollen Handlungsweisen zu halten und sie auch noch belohnen. 

              Nein, auch ich bin der Meinung, es braucht KEIN "Recht zur Pflicht". Damit verbiegen wir nämlich gleich schon wieder - kleingeistig und ängslich; Thomas Hobbes im Hinterkopf, der Mensch sei dem Menschen doch bloß ein Wolf...

              Gruß,
              Martina Steinheuer


              Am 17.09.2010 16:56, schrieb Joerg Drescher: 
                Hallo zusammen, 

                offenbar ist diese Diskussionsliste etwas eingeschlafen, was hoffentlich nicht heißt, daß es keine Diskussion mehr über das Grundeinkommen gibt. Ich möchte hiermit einen Austausch anstoßen, der sich auf das "Grundeinkommen als Recht" bezieht. 

                Wer sich ein bisschen mit Recht beschäftigt, sollte prinzipiell darauf kommen, daß es jemanden geben sollte, bei dem dieses Recht "einklagbar" ist. Dies ist in Bezug auf Nichtstaatsbürger interessant, wenn es um das "Grundeinkommen als Recht" geht. Hannah Arendt forderte zum Beispiel in Bezug auf die Menschenrechte ein "Recht, Rechte zu haben". 

                Wer den Film von Häni/Schmidt gesehen hat, dürfte die Aussage kennen (die im Beiheft auf Seite 18 zu finden ist), daß es kein "Recht auf Pflicht" gäbe. Seit ich den Film zum ersten Mal sah, stieß mir diese Aussage sauer auf, da für mich dieses "Recht auf Pflicht" eine zentrale Bedeutung hat und ich es sogar als fundamentales Naturrecht betrachte. Nun ist leider (wie so vieles in dem Film) unklar, was damit eigentlich gemeint ist. 

                Welche Folgen allerdings die Aussage "Es gibt kein Recht auf Pflicht" haben würde, kann man sich an der "Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten" vom 1. Sept. 1997 ausmalen, die ich im Zusammenhang mit der Einführung eines Grundeinkommens für essentiell sehe: 
                http://www.interactioncouncil.org/udhr/de_udhr.html 

                Vor allem Art. 9 ist Voraussetzung für ein Grundeinkommen... Aber wenn es niemand mehr als sein Recht ansieht, solche Pflichten zu erfüllen (weil es ja laut Häni/Schmidt kein "Recht auf Pflicht" gibt), möchte ich nicht wissen, was mit der Menschheit passieren würde... 

                Ich hoffe, auf der Liste sind noch ein paar Leute, die an einem Austausch über das Thema "Grundeinkommen als Recht" interessiert sind. 

                Viele Grüße aus Kiew, 

                Jörg (Drescher) 
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