[Debatte-Grundeinkommen] Ist ein Grundeinkommen überhaupt nötig?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Fr Mär 6 22:03:59 CET 2009


Sehr geehrter Herr Opielka,
Hallo Peter (Voss),
und natürlich alle,

zur Beruhigung: ich bin nicht melancholisch oder gar depressiv - im Gegenteil! Hier (in Kiew) läuft es prima und so gesehen emanzipiere ich mich vom "Netzwerk Grundeinkommen" ;-)

Hintergrund des "melancholisch" bis "depressiv" anmutenden Beitrags war, daß ein Grundeinkommen eigentlich nichts an der heutigen Situation ändert. Der Mensch bleibt im ersten Moment mit oder ohne Grundeinkommen gleich. Es wird welche geben, die mit ihrer neugewonnen Freiheit umgehen können, aber es wird auch welche geben, die es eben nicht können (siehe: http://tinyurl.com/dhdybb). Das Grundeinkommen bietet allerdings ganz andere Voraussetzungen. Letztlich kann die im Betreff gestellte Frage mit "ja" beantwortet werden, wenn man den Menschen bei seiner Emanzipation unterstützen möchte. Ansonsten kann die Frage mit "nein" beantwortet werden - dann kann nämlich alles bleiben, wie es ist, bis man eine andere Lösung gefunden hat - alles nur eine Frage der Zeit.

Nun aber zum Inhalt von Peter und Herrn Opielka: Tatsächlich wünsche ich mir Vollbeschäftigung! Aber eben mit Grundeinkommen als Basis. Der "Denkfehler" besteht darin, daß man bei (Voll)Beschäftigung an Einkommensarbeit denkt - doch was ist mit Tätigkeiten (Beschäftigungen), die heute nicht bezahlt werden? Somit bekommt auch die Initiative von Herrn Liebermann (Freiheit statt Vollbeschäftigung) eine andere Note. In dem Aufsatz von Herrn Opielka ist von positiver Freiheit (Freiheit zu) und negativer Freiheit (Freiheit von) die Rede; ich nehme noch die Hegel'sche Freiheitsdefinition hinzu ("Einsicht in die Notwendigkeit" - die gerne von den Kommunisten benutzt wird). Mein Ansatz geht vom Individuum aus und nicht von Äußerlichkeiten. Es obliegt nämlich mir, die Freiheit in positiv oder negativ einzuteilen; objektiv sieht die Sache anders aus (wobei die Frage ist, was objektiv ist - vgl: http://tinyurl.com/bbrre8). In meinem Fall will ich meine (Hegel'sche) Freiheit dazu nutzen, positive Freiheiten zu schaffen - das verstehe ich unter "Jovialismus", indem ich jedem dieses "Recht auf Pflicht" zugestehe.

Bevor es aber zu abstrakt und philosophisch wird, komme ich wieder auf den Teppich. Es geht um den "Sinn des Lebens", der (für viele) durch Beschäftigung gegeben ist. Sie definieren sich über ihren Job, ihre Position oder ihre Aufgabe. Daran ist ja auch nichts falsches, solange der "übergeordnete (objektive) Sinn des Lebens" eingehalten wird (den Fortbestand der Art). Den "subjektiven Sinn" muß sich entweder jeder selbst geben oder geben lassen (im "emanzipatorischen Sinn").

Wer das Grundeinkommen denken will, sollte nicht (nur) in Geld, dessen Höhe oder Modellen verharren, sondern sich (auch) über die Auswirkungen Gedanken machen. Wie geht der Einzelne, die Gemeinschaft und die Gesellschaft mit der "Freiheit zu (leben)" um? Diese Frage ist Basis des Projekt Jovialismus und hatte Anfangs gar nichts mit dem Grundeinkommen zu tun, da sich die Hegel'sche Freiheit auch im Geld abspiegelt: "Einsicht in die Notwendigkeit, etwas für das zu geben, was man haben will"

Vielleicht ist es jetzt klarer, was die aufgeworfene Frage sollte: Mir ging es um die Sensibilisierung, wie man das Grundeinkommen vermittelt und ob man nicht statt "Geld für alle" eigentlich das "Wohl für alle" fordert. Wir sind schon ziemlich verblendet, wenn wir glauben, das Wohl aller liege im Geld - dann ist ein (Grund)Einkommen wirklich nötig.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org
http://www.smi2le.org





  ----- Original Message ----- 
  From: Peter Voss, Odense 
  To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Friday, March 06, 2009 2:50 PM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen]Ist ein Grundeinkommen überhaupt nötig?


  Lieber Jörg Drescher,

  oh, je, Dein untenstehender Brief klingt ja ziemlich depressiv! - Vollbeschäftigung,  als Grundlage dafür, dass ein jeder in eine Gruppenmöglichkeit eingebunden sein kann, ist hier häufig genug als Utopi nachgewiesen worden. Warum alså dorthin zurück. 

  Und wenn BGE-Empfänger keinen Sinn mit dem Leben fühlen, wie du glaubst, dann denke einmal an die Rentenempfänger oder an Kinder, die ja auch nicht Teil eines Arbeitsmarktes sind. Es scheint klar, dass es eine Menge von Leuten gibt, die sich unsicher und alleine-gelassen fühlen könnten. Dagegen hattest Du in einer Einlassung von vor wenigen Tagen
  den Einsatz von einer grossen Anzahl von Sozialmitarbeitern gefordert. Bleib dabei. Die gehören zum Übergang dazu.

  Und was den Einkommensabstand angeht zwischen einem nur BGE-Empfänger und einem der auch noch Vollzeitarbeit hat, kann man immerhin auf das Götz-Wernersche Modell verweisen, wo ein geringerer Abstand eingeplant ist - auch wenn die alleinige Finanzierung durch eine MwSt ganz sicher durch eine massive Reichenbesteuerung - auch um die Akzeptanz von Kapitalismus und Reichtum nach dem Crash zu erhalten - begleitet werden muss.

  Also, Kopf hoch im depressiven und winterlichen Kiew.
  Freundliche Grüsse / Peter Voss


    ----- Original Message ----- 
    From: Joerg Drescher 
    To: 
    Cc: bge-portal at bge-portal.de ; Michael Opielka ; ludwigpaul.haeussner at iep.uni-karlsruhe.de ; kontakt at grundeinkommen.de ; Grundeinkommen Redaktion ; r.mandler at pt-system.com ; info at forum-grundeinkommen.de 
    Sent: Tuesday, March 03, 2009 11:34 PM
    Subject: [Debatte-Grundeinkommen] Ist ein Grundeinkommen überhaupt nötig?


    Hallo zusammen,

    wenn man sich einmal überlegt, was ein Grundeinkommen psychologisch anrichtet, frage ich mich immer mehr, ob das überhaupt der richtige Weg ist. Die wenigsten Menschen kommen damit klar, einfach nur Mensch zu sein. Wenn man Leute auf der Straße fragt, wer sie sind, so bekommt man häufig zur Antwort: Ich bin Ingenieur, Arzt, Sekretär, Arbeitsloser... Wer sagt schon gerne: Ich bin Mensch? - Das ist doch jeder und niemand ist dann mehr etwas besonderes. Wo bleibt das Individuum?

    Die Idee eines Grundeinkommens, so wie sie heute oftmals vermittelt wird, beraubt Menschen ihrer Identität und Individualität. Das stößt (natürlich) auf Ablehnung. Der Begriff "Grundeinkommen" scheint die Idee nur unzureichend zu beschreiben.

    Ich kann mich noch gut an den Berliner Kongress erinnern, als mir Christoph Schlee stolz sagte: Ich bin nun Pressesprecher im Netzwerk. Wer war er aber davor? Ein Niemand? Plötzlich hatte er eine Aufgabe und für sich einen Sinn im Leben mit dem Gefühl, "Diener" für eine "gute Sache" zu sein - gegeben durch eine Position, die seinem Wesen entspricht (oder wenigstens seiner Vorstellung davon). Dorothee Schulte-Basta und Reimund Acker waren "für eine gute Sache" in New York - ermöglicht von Menschen, die gleichfalls an "die gute Sache" glauben und anderen damit Dinge ermöglichen, die der Einzelne nicht hätte. Bedingungslos!

    Menschen rufen nicht nach Geld, sondern nach einer Aufgabe, die ihnen Sinn im Leben gibt und das Gefühl, für eine Gemeinschaft nützlich zu sein. Die wenigsten wollen etwas geschenkt, sondern für das, was sie tun, Anerkennung als das, was sie sind: Menschen. Es geht ihnen um eine Selbstentfaltung als Mensch unter Menschen.

    Wo aber ist in einer BGE-Gesellschaft diese Aufgabe? Ist ein BGE nicht absoluter Liberalismus, der die Abhängigkeit von Geld verstärkt? Entläßt man den Menschen nicht in eine Freiheit, mit der jeder einzelne dann selbst zurechtkommen soll? Versucht man etwa einen "neuen, besseren Menschen" zu kaufen? Alleingelassen mit etwas Geld, damit er selbst etwas aus sich und seinem Leben macht?

    In einer konsumfinanzierten BGE-Gesellschaft ist der Einzelne nur noch als Konsument notwendig - kein Unterschied zu heute. In einer einkommensfinanzierten BGE-Gesellschaft unterstützt derjenige mit Einkommen jene, die kein Einkommen haben - wieder kein Unterschied zu heute. Heute verwirklicht sich ein Teil der Gesellschaft auf Kosten anderer und wieso sollte sich dies unter einem BGE ändern - unabhängig von der Finanzierung?

    Ist unser Ziel nicht vielmehr eine Gesellschaft, die aus vielen Gemeinschaften besteht - kleinen Inseln, in denen sich Menschen gegenseitig helfen, damit sich jeder entfaltet? Wollen wir nicht Gemeinschaften, die andere Gemeinschaften unterstützen - ohne Neid, Gier und Hass? Brauchen wir dazu überhaupt ein Bedingungsloses Grundeinkommen? Oder ist das BGE wesentlicher Bestandteil des "emanzipatorischen Sozialstaats"? Hilfsmittel im "jovialen Staat", der die hier aufgeworfenen Aufgaben "zum Wohle aller" zu lösen versucht? Garantiert!

    Nachdenkliche Grüße aus Kiew,

    Jörg (Drescher)
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