[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Norbert Maack nofrima at t-online.de
So Dez 20 03:20:04 CET 2009


Hallo Joerg,
endlich komme ich dazu, das gespräch über Gerechtigkeit fortzusetzen.

Ich habe mich gehütet, den Begriff "frei" ins Spiel zu bringen; er 
taucht in meinem gesamten Statement nicht auf.
Ich wollte nur auf die Notwendigkeit und die Problematik hinweisen, 
Leben" zu definieren. Auch Sklaven leben ja schließlich, sonst wären sie 
ja nicht zu gebrauchen. Wenn Du das Recht auf Leben proklamierst, dann 
ist es auch für Sklaven als erfüllt anzusehen. Deswegen kann ich Deine 
Gerechtigkeitsdefinition als Recht auf Leben nicht teilen.

Laut Wikipedia ist  *"/Chauvinismus/*/ ([?ovi'n?sm?s 
<http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_IPA-Zeichen>]) der Glaube an die 
Überlegenheit der eigenen Gruppe./

/Chauvinismus im ursprünglichen Sinne ist exzessiver, auch aggressiv 
überzogener Nationalismus <http://de.wikipedia.org/wiki/Nationalismus>, 
bei dem sich ein Angehöriger einer Nation 
<http://de.wikipedia.org/wiki/Nation> allein aufgrund seiner 
Zugehörigkeit zu dieser gegenüber Menschen anderer Nationen überlegen 
fühlt und sie abwertet."/

.. und damit ebenfalls ein Begriff aus der Menschenwelt, wie 
nebenbeigesagt alle "Begriffe" als menschensprachliche Produkte solange 
anzusehen sind, wie wir mit den nichtmenschlichen Wesen noch zu keiner 
begrifflichen Kommunikation  in der Lage sind.

Deine Bemerkungen zum staatlichen Gewaltmonopol überzeugen mich noch 
nicht. Ich meine, dass sehr wohl alle Gesetze - wenn man ihre Funktion 
genau studiert, letztlich darauf hinauslaufen, die Eigentumsverhältnisse 
zu sichern. Ein Meinungsstreit, der sich in gewaltsamen 
Auseinandersetzungen  entlädt,  hat seine tieferen Ursachen in  
persönlichen  Unzufriedenheiten  mit der jeweils eigenen 
Lebenssituation, die daraus resultieren, dass im eigenen Leben nicht die 
Bedürfnisse erfüllt werden können.

Die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" ist sicher eine gute 
Basis, auf der wir in der Frage nach Gerechtigkeit  weiter kommen 
könnten. Hier heisst es allerdings differenzierter: ein Leben in Würde, 
Freiheit und Sicherheit.... , in Brüderlichkeit (meint 
Geschwisterlichkeit) einander begegnen ... usw. Um eine Definition haben 
die VerfasserInnen sich allerdings (warum wohl?) gedrückt. Der - 
meistens arg vernachlässigte - Art. 29 allerdings bringt es deutlich auf 
den Punkt, in dem von "Pflichten gegenüber der Gemeinschaft" und "der 
allgemeinen Wohlfahrt in einer demokratischen Gesellschaft" die Rede ist.

Die "allgemeine Wohlfahrt" kann doch nur bedeuten, dass allen Menschen 
ein erfüllltes Leben möglich ist, in Würde, Freiheit und Sicherheit. Und 
dazu gibt es Pflichten derjenigen, die zuviel davon haben, es an 
diejenigen abzugeben, die zu wenig oder gar nichts davon haben. Und das 
ist doch wirklich nicht schwer zu verstehen, oder?

Das Problem, vor dem wir stehen, ist: die Menschen, die zuviel (Geld, 
Vermögen) haben, zu enteignen, zurecht zu stutzen auf das vernünftige 
Maß: abgeben bzw. zurückgeben das, was sie sich - auf welchen Wegen auch 
immer (ob rechtlich abgesichert oder nicht) angeeignet und damit den 
anderen bzw. der Gemeinschaft weggenommen haben.

Robin Hood und Klaus Störtebecker, z.B. , haben das vorgemacht. Das BGE 
sollte einen ähnlichen Beitrag leisten. Aber die Frage dabei ist, ob die 
Idee des BGE wirklich an den Wurzeln des Übels ansetzt bzw. ob die 
VertreterInnen des BGE an diesen Wurzeln ansetzen wollen, ob sie 
überhaupt wissen (wollen), wo diese Wurzeln sind, oder ob sie vielleicht 
keine Ahnung haben, wie diese Wurzeln ausgerissen werden könnten und 
neue Pflanzen zu setzen wären. Ich bin der Meinung, dass ein BGE eine 
gute Idee ist, um sich mit der Frage der Gerechtigkeit auseinander zu 
setzen, aber als Lösung noch nicht radikal genug ist.

Um die radikale Lösung zu finden, ist es m. E. notwendig, das System der 
Aneignung zu begreifen. Das ist schwierig genug und mir hat - u. a. und  
wesentlich - das Buch von Samirah Kenawi  "Falschgeld" dabei geholfen. 

Mit sonnigen Grüßen
    Norbert


Joerg Drescher schrieb:
> Hallo Norbert,
>  
> beim "Recht auf Leben" und Deinem Beispiel mit den "Sklaven" bringst 
> Du das Adjektiv "frei" ins Spiel. Nun kannst Du einwenden, daß 
> "gerecht" ebenfalls als Adjektiv benutzt wird, wobei zu fragen ist, ob 
> ein "gerechtes Recht auf Leben" oder ein "Recht auf ein gerechtes 
> Leben" gemeint ist. Im Deinem Sklavenfall handelt es sich wohl um ein 
> "Recht auf ein FREIES Leben". Doch "Leben" kann nie absolut "frei" 
> sein (es besteht immer eine Abhängigkeit vom Stoffwechsel) und es 
> kommt auf den Betrachter an, ob er sich "versklavt" fühlt oder nicht.
>  
> Gerechtigkeit als reinen Menschenbegriff zu betrachten, halte ich für 
> chauvinistisch. In der sonstigen Natur wird allerdings nicht nach 
> einer Begründung für einen Sachverhalt gefragt (was offenbar nur 
> Menschen tun) und eine Begründung wird weder als gerecht, noch als 
> ungerecht empfunden. Der Mensch müßte allerdings die Natur als absolut 
> ungerecht empfinden, wenn er gewisse Sachverhalte nur rein 
> oberflächlich betrachtet. Ihm bleibt die Begründung und der "tiefere 
> Sinn" (oftmals) verborgen.
>  
> Und so landen wir bei der Frage nach einem "gerechten Krieg" (oder 
> auch "gerechten Mord"). Welche Rechtfertigung gibt es für einen 
> "Krieg/Mord"? Nimmt man das "Recht auf Leben", so wird der Begriff 
> "Notwehr" aus dem deutschen Strafgesetz verständlich, den nicht jede 
> "Tötung" eines Menschen wird in Deutschland mit dem Strafmaß für 
> "Mord" geahndet. Allerdings stimme ich zu, daß eine Entscheidung 
> darüber, wann ein Krieg gerechtfertigt ist, gewissen Schwierigkeiten 
> unterliegt (Bsp: Irak-Krieg, der durch Falschinformationen über 
> Massenvernichtungswaffen für gerechtfertigt galt; allerdings würde ich 
> Nordkorea angreifen, wenn sie unbestreitbar mit Atombomben auf 
> Südkorea drohen). Aber wer einen Dienst an der Waffe ableisten will, 
> muß damit rechnen, selbst getötet zu werden - ob er das wirklich will, 
> hängt von der Rechtfertigung eines Krieges ab. Dann ist es auch keine 
> Aufrechnung von Menschenleben, sondern die Freiwilligkeit des 
> Einzelnen, sich für das "Recht auf Leben" zu "opfern" (ich bin für 
> eine "Berufsweltarmee" nach dem Vorbild der französischen 
> Fremdenlegion, die der UNO untersteht).
>  
> Ein staatliches Gewaltmonopol mag vielleicht heute die bestehenden 
> Eigentumsverhältnisse sichern, aber es ist noch für viel mehr da (das 
> Strafgesetzbuch kennt nicht nur Eigentumsdelikte). Ich halte es auch 
> für etwas blauäugig zu meinen, Friedfertigkeit hinge allein von 
> Besitzverhältnissen ab. Streit kennt auch andere Formen (bsp. 
> Ansichten/Meinungen), die sich bei mangelndem Intellekt in gewaltsamen 
> Auseinandersetzungen entladen können. Zudem kann nicht jeder "Besitz" 
> (manche sehen ihre Frau als persönliches "Eigentum") gleichmäßig 
> verteilt werden. Ganz zu schweigen von Racheakten...
>  
> Deine Gerechtigkeitsdefinition (als Orientierungshilfe) unterscheidet 
> sich nicht von meiner Zielsetzung, das "Recht auf Leben" als obersten 
> Orientierungspunkt zu verwenden. Andere Orientierungshilfen sehe ich 
> in den allgemeinen Menschenrechten. Ziel von "Gerechtigkeit" muß (aus 
> meiner Sicht) immer sein, das Leben (aller) zu erhalten (nicht jeder 
> "Sklave" will befreit werden, was nicht heißt, daß andere deshalb in 
> "Sklaverei" bleiben müssen). Das darf allerdings nicht zu einem "Zwang 
> zu Leben" werden (Selbstmord ist legitim, wenn dabei niemand anderer 
> zu schaden kommt - was sich jeder potentielle Selbstmörder im Vorfeld 
> überlegen sollte, indem er an das Leid der Hinterbliebenen denkt).
>  
> Unsere Gesellschaft schränkt das "Recht auf Leben" durch die 
> Verfügbarkeit von Geld zum Kauf von (lebens)notwendigen Dingen ein. 
> Deshalb sehe ich ein (bedingungsloses) Grundeinkommen als gerecht an, 
> da es das "Recht auf Leben" ermöglicht. Die Ausgestaltung des 
> Grundeinkommens trägt dazu bei, monetären Reichtum "gerechter" zu 
> verteilen. Das Problem ist dabei nur, daß mit einem BGE viele heutige 
> "Sklaven" in eine Freiheit entlassen werden, die sie so gar nicht 
> kennen (und manche nicht wollen). Deshalb obliegt es der Gesellschaft, 
> seine Mitglieder dahingehend zu "erziehen", mit dem "Recht auf Leben" 
> (als Gerechtigkeitsform) umzugehen. Und dieser Umgang ist (für 
> mich) das Finden einer Ausgewogenheit, Ballance und ein Gleichgewicht 
> (zwischen Leben und Leben lassen).
>  
>  
> Liebe Grüße aus Kiew,
>  
> Jörg (Drescher)
> Projekt Jovialismus
> http://www.iovialis.org
>  
>  
>
>     ----- Original Message -----
>     *From:* Norbert Maack <mailto:nofrima at t-online.de>
>     *To:* Joerg Drescher <mailto:iovialis at gmx.de>
>     *Cc:* 1981klaus- <mailto:1981klaus- at gmx.net> ; Debatte
>     Grundeinkommen
>     <mailto:debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
>     *Sent:* Thursday, November 19, 2009 4:15 PM
>     *Subject:* Re: [Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit
>     verhandelbar?
>
>     Hallo Joerg,
>     nun denn: Wenn Du meinst, dass eine Definition her muss und Du das
>     "Recht auf Leben" als kleinsten gemeinsamen Nenner für geeignet
>     hältst, haben wir das neue Problem, wie wir "Leben" definieren.
>     Auch Sklaven "leben", wobei es Sklaven verschiedener Art gibt.
>     Lohnsklaven mit einem Stundenlohn von 1 Euro leben anders als
>     solche mit 100 Euro.
>     Deine Beispiele aus der "Natur" mit Löwen und Gazellen halte ich
>     für nicht zielführend; Gerechtigkeit ist ein Begriff aus der
>     Menschenwelt.
>     Deine Dich anscheinend befriedigende Antwort auf die Frage nach
>     einem "gerechten Krieg" halte ich für unbefriedigend; wer
>     entscheidet denn, ob es ein anderes Mittel gibt, das Leben anderer
>     zu schützen und wer entscheidet, welches Leben schützenswerter
>     ist, das der im Krieg getöteten oder das der möglicherweise durch
>     den Krieg geretteten? Hier wird der Wert von Menschen
>     gegeneinander aufgerechnet, nach gerechten Kriterien?
>
>     Der Sinn des Staates mit dessen Gewaltmonopol besteht in erster
>     Linie darin, die Eigentumsverhältnisse abzusichern. Dass Menschen
>     nicht friedfertig miteinander leben können, liegt in erster Linie
>     daran, dass die Einen das besitzen und den Anderen vorenthalten,
>     was diese nicht besitzen und zu ihrem Leben brauchen.
>
>     Meine Definition von Gerechtigkeit betrachtet G. mehr als eine
>     Orientierungsrichtung und weniger als einen Zielzustand. Es geht
>     mir um so etwas wie Ausgewogenheit, Gleichgewicht, Balance.
>     Justitia mit der Waage in der Hand. Balance ist nie ein Zustand
>     sondern ein dynamisches Geschehen, ein Pendeln um eine Mitte.
>     Ungleichgewichte müssen korrigierbar sein in Richtung
>     Gleichgewicht. Es muss ein Pendeln stattfinden, anderenfalls
>     Systeme zusammenbrechen, wenn das Ungleichgewicht nicht korrigiert
>     werden kann. Das gilt für Individuen und für Gesellschaften.
>     Durch ein BGE muss sinnvollerweise das zunehmende Ungleichgewicht
>     (die auseinanderklaffende Schere) zwischen Arm und Reich zum
>     Halten und zur Umkehr gebracht werden. Dass ein BGE die einzig
>     denkbare und die beste Möglichkeit dafür ist, bezweifle ich. Das
>     hängt wesentlich von der Höhe des BGE ab. Andere Möglichkeiten
>     betreffen das Überdenken der Eigentumsordnung, Bodenreform und
>     Geldschöpfungs- bzw. Kreditgesetze.
>
>     Mit sonnigen Grüßen
>         Norbert
>
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