[Debatte-Grundeinkommen] Debatte-Grundeinkommen] Eine Idee der Einführung von BGE ohne ein spezielles Modell

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Fr Mär 7 16:27:29 CET 2008


Hallo Ronald und der Rest der Liste,

es ist richtig, daß Begrifflichkeiten oft zu Verwirrung führen, wenn man nicht weiß, was damit gemeint ist. Das kann jeder nachvollziehen, der eine Fremdsprache lernt oder praktiziert. Als Übersetzer habe ich damit jeden Tag zu tun. Gleichfalls stimme ich Deinem im PS genannten Argument zu, daß die "Bedingungslosigkeit" etwas Augenwischerei ist - selbst im globalen Kontext und mit einem weltweiten Grundeinkommen. Die Bedingung ist nämlich immer, daß es jemand "bedingungslos" auszahlt und zu diesem Zweck irgendwie "einsammelt". Das "Sammeln" setzt wiederum Bedingungen voraus (z.B. daß jemand etwas zum Geben hat). Doch das ist Erbsenzählerei und kommt daher, weil alles irgendwie nur in Relation gesehen werden muß. Ohne Relation ist alles wahr und richtig. Deshalb hat auch jeder von seinem Standpunkt aus recht.

Ich widerspreche Dir allerdings bei der Aussage, daß ein (bedingungsloses) Grundeinkommen existenzsichernd sein muß, um tatsächlich als solches bezeichnet zu werden. Vielmehr bedeutet (zumindest für mich), daß ein Grundeinkommen eine regelmäßige Geldzahlung ist, für die ich keinerlei Gegenleistung erbringen muß (übliches Verständnis von "bedingungslos"). Wie schon gestern kritisiert, kann ein Grundeinkommen für manche existenzsichernd sein, für andere nicht (Bsp. die Land/Stadt-Unterschiede in der Ukraine).

Gehen wir von einer ganz anderen Einheit für den Grundbedarf eines Menschen aus (nämlich Energie), wird klar, daß nicht jeder den gleichen täglichen Energiebedarf haben kann. Der eine braucht mehr, der andere weniger - abhängig vom Stoffwechselhaushalt des Einzelnen, dem Körperbau, den ihn umgebenden Klimabedingungen, den von ihm erledigten Tätigkeiten uvm.

Die Forderung nach einer Existenzsicherung würde dann heißen, daß alle das bekommen, was der Meistverbraucher mindestens benötigt (mal unabhängig davon, wie man das bestimmen kann). Hartz-IV geht scheinbar davon aus, daß das zur Existenzsicherung reicht, was ein gewisser Durchschnitt benötigt (mal unabhängig, wie dieser bestimmt wird). Mir ist ein BGE-Modell bekannt, das auch einen Durchschnitt zur BGE-Höhe heraunzieht: nämlich das Durchschnittseinkommen (wäre die Hartz-IV-Höhe daran gekoppelt, würden wir wahrscheinlich nicht über ein BGE diskutieren). In Deiner Auflistung finde ich das gemeinte Modell nicht, obwohl ich vermute, daß es Dir bekannt ist. Ich spreche vom Dilthey-Modell:
http://www.etes.ucl.ac.be/BIEN/Newsletter_ProvisionalFile/NewsFlash46_July2007.htm#8

Da Du Begriffe sehr gut erklären kannst, möchte ich Dich bitten, auch den Begriff "machtpolitisch" näher zu beschreiben. Was bedeutet das in Deinen Augen? Was ist bei Dir "Politik"? Soweit ich mich erinnere, ist Deutschland eine Demokratie - steht jedenfalls so im Grundgesetz. Da heißt es, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Ist Macht und Gewalt gleichzusetzen?

Danke vorab für Deine Bemühungen,

viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)

PS: da im Deutschen "Mensch" gramatikalisch mit dem männlichen Geschlecht benutzt wird, unterlasse ich die Sprachvergewaltigung der doppelten Geschlechternennung in meinen Texten. Für mich sind Frauen auch Menschen (obwohl gramatikalisch männlich). Vielleicht kennt jemand Monty Pythons "Das Leben des Brian" und erinnert sich an die Diskussion im Zirkus ;-)




  ----- Original Message ----- 
  From: rblaschke at aol.com 
  To: debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Friday, March 07, 2008 2:09 PM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen]Debatte-Grundeinkommen] Eine Idee der Einführung von BGE ohne ein spezielles Modell


  Lieber Dirk, mit den Begriffen gibt es in der Tat viel Verwirrung. 

  Das Netzwerk hat sich bewusst für einen Transfer entschieden, welcher ein Kriterium mehr hat als das basic income von BIEN - nämlich die Existenz- und Teilhabesicherung. Das ist der Gründungskonsens des Netzwerkes zum Grundeinkommen und auf dieser Grundlage erfolgen auch die Mitgliedserklärungen im Netzwerk Grundeinkommen. 

  Zu den Transfers in Alaska und Brasilien sage ich nicht Grundeinkommen.In meinen öffemtlichen Vorträgen spreche ich in der Regel von Schrittten dahin. Namibia müsste ich mir noch mal genauer anschauen. 

  Für geringe/niedrige grundeinkommensähnliche Transfers gibt es ja in der Wissenschaft übrigens den Begriff des partiellen Grundeinkommens, das kann zwar ohne sozialadministrative Bedürftigkeitsprüfung und sozialadministrativ durchgesetzten Arbeits-/Tätigkeitszwang sein, ist aber eben nicht Ex- und Teilhabesichernd (wie z. B. das Negativsteuermodell von Milton Friedmann), hat sozusagen eine Armutslücke (poverty gap), die 
  1. entweder bewusst zwecks "Arbeitsanreiz" (das freundlichere Wort für Arbeitszwang per Existenznot und Teilhabausgrenzung - somit faktische Aushebelung der Bedingungslosigkeit und der Möglichkeit nein sagen zu können) bleiben soll, oder 
  2. mit auf das partielle GE gesetzte bedürftigkeitsgeprüfte soziale Transfers wieder geschlossen werden soll.  

  Meine Hoffnung auf ein BGE gemäß der Netzwerkkriterien  nährt sich aus der immer breiter werdenden Debatte in Europ, Deutschland und global. Auch sind selbstverständlich die Debatten über Übergangs-/Einführungsschritte sehr wichtig. Auch das Bismarcksche Sozialversicherungssystem ist nicht über Nacht eingeführt worden. 
  Nur soll eben nicht alles mit Grundeinkommen etikettiert sein, was keins ist. Das wäre Schwindel und Irreführung. Haben ja schon genug versucht. Und es muss jeder/jedem klar sein, dass mit Übergangsschritten noch lange nicht die Wirkungen eines BGE erreicht werden, die überall so gut beschrieben werden. Sichert man die Übergangsschritte, z. B. bei einem partiellen Grundeinkommen mit geringer Höhe nicht mit einem Mindestlohn und weiteren sozialen Leistungen ab, wie es richtigerweise die GE-BefürworterInnen der Bündnis90/Die Grünen gemacht haben, landet man bei was ganz anderem als dem, was sich manche vom Grundeinkommen erhoffen.
  Eine politische Frage ist, ob , sollte man einen Übergangsschritt mit einem niedrigen Transfer hinbekommen, der Folgeschritt zu einem Grundeinkommen machtpolitisch durchsetzbar ist. Ich erinnere nur daran, welche schönen  Existenz und Teilhabe sichernden Grundsicherungsmodelle Bündnis 90/Die Grünen und die damalige PDS hatten, dann kam Hartz IV mit all seinen brutalen Folgen für die Betroffenen - und weit und breit ist nix zu sehen, dass politisch eine Erhöhung der Grundsicherungsleistungen dursetzbar ist.     

  Herzliche Grüße, Ronald Blaschke      
  PS.: Wie vertrackt die Bezeichnung bedingungslos übrigens ist, sieht man auch daran, dass, wenn man den Begriff bedingungslos ernst nimmt, ein solches eigentlich nur als ein Grundeinkommen für alle Menschen denkbar ist - eben nicxht an Bedingungen der Staatszugehörigkeit, so und so lange Wohnpflicht usw. usf gekoppelt ist. Ein solches konsequentes BGE lässt sich übrigens mit Hardt / Negri (siehe ihr Buch Empire) ableiten - BGE als ein Globales Soziales Recht neben anderen Golbalen Sozialen Rechten. Dazu gibt es im Umfeld der Gewerkschaften, attac, IG Metall Greenpeace usw. übrigens eine Diskussions-/AktionsPlattform.
-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listi.jpberlin.de/pipermail/debatte-grundeinkommen/attachments/20080307/0a939d25/attachment.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen