[Debatte-Grundeinkommen] [Debatte.bag.wirtschaft] Diskussionsentwurf "Gr üne Grundsicherung"

Michael Opielka michael.opielka at isoe.org
Di Jun 20 15:18:21 CEST 2006


Lieber Dirk, liebe Freunde,

 

dein Argument ist nicht ganz verständlich. Zielt es – wie der Beitrag von
Joachim Behncke – darauf, das Steuersystem als sozialstaatliches
Verteilungsprinzip zu verteidigen? Oder ist es – wie es scheint – ein
Plädoyer für das hergebrachte deutsche, Bismarcksche, an der Lohnarbeit
orientierte Sozialversicherungsprinzip?

 

Die Grünen haben seit ihrer Existenz und v.a. seit der rot-grünen
Machtbeteiligung hierzu eine schwankende und politisch unklare Rolle
eingenommen, die im von mir kommentierten „Grünen Grundsicherungsmodell“
noch zugespitzt wird.

 

Einstiegsmodelle in ein Grundeinkommen sind notwendig, Radikalmodelle – auch
das von Götz Werner – nur akademisch interessant. 

 

Meine Kritik am Entwurf des „Grünen Grundsicherungsmodells“ richtete sich
auch nicht gegen die Grundeinkommenskomponente – in meinem Vorschlag einer
„Grundeinkommensversicherung“ habe ich mit dem Element eines „Bafög für
alle“ – also einer Grundsicherung mit 50% Darlehensanteil für alle
diejenigen, die sich weder arbeitslos melden noch Kinder haben, krank sind
etc. – auch ein so genanntes „Teil-Grundeinkommen“ integriert.

 

Vielmehr wende ich mich gegen die Überlastung des Steuersystems mit der
Einkommensverteilung – was aber das Zentrum der bisherigen Negativsteuer-
aber auch Sozialdividendenmodelle ist. 

 

Skurril ist allerdings, dass im großkoalitionären, Ex-SPD-Konzept des
Elterngeldes eine steuerfinanzierte Leistung am vorherigen Einkommen
orientiert wird und die Leistung dadurch zwischen 300 und 1800 Euro, also um
den Faktor 6 variiert. Skurril deshalb, weil derartige Äquivalenzrechnungen
bisher den Sozialversicherungen vorbehalten blieben (ich bin gespannt, wie
die Regierung absehbare Verfassungsbeschwerden kontern will). Ich halte es
jedenfalls nicht für ratsam, das Steuersystem und vor allem das
Einkommenssteuersystem mit Verteilungsaufgaben zu überlasten. Wenn das
überhaupt funktioniert, dann meistens nur über recht hohe Verbrauchs- und
vor allem auch lokale Steuern (wie in Skandinavien und – was Lokalsteuern
betrifft – in den USA). Aber letztere existieren in Deutschland praktisch
nicht.

 

Um es zuzuspitzen: wenn Fiskalpolitiker über Sozialpolitik reden, geht es
der Sozialpolitik meist schlecht. Bei den Grünen ist das nicht anders.

 

Schöne Grüße

Michael Opielka

 

 

  _____  

Von: Dirk Jacobi [mailto:djacobi at gwdg.de] 
Gesendet: Dienstag, 20. Juni 2006 12:30
An: Michael Opielka; 'Manuel Emmler'
Cc: debatte.bag.wirtschaft at gruene.de; debatte.bag.sozialpolitik at gruene.de;
debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Betreff: Re: AW: [Debatte.bag.wirtschaft] Diskussionsentwurf "Gr üne
Grundsicherung"

 

Lieber Michael,

ich stimme Dir zwar zu, dass bei der Arbeitslosenversicherung und stärker
noch der Rentenversicherung heute immer wieder und von (fast) allen Seiten
der (Privat-)Versicherungscharakter mit der Beitrags-Leistungsäquivalenz als
zentralem Prinzip betont wird. Das ist aber weder notwendig: Stimmt diese
eingeschränkte Ausdeutung doch zum Beispiel überhaupt nicht mit den weiteren
in der RV zentral verankerten Prinzipien (Koppelung am Lohnniveau zum
Zeitpunkt der Auszahlung, Familienernährerprinzip, Demographiefaktor)
überein und diese Prinzipien wollen die Vertreter des Versicherungsprinzips
eigentümlicherweise auch gar nicht abschaffen. Zudem war das auch nicht
immer so: Die Ausdeutung der Sozialversicherung als (Privat-)Versicherung
ist erst in den letzten Jahrzehnten gewachsen und ist weit davon entfernt,
immer schon dominant gewesen zu sein. 
Deswegen bin ich (etwas) optimistischer, dass an dieser Front auch ohne
Deine Grundeinkommensversicherung Bewegung möglich ist.

Ich denke das wesentlich größere Problem, und damit sage ich nichts neues,
ist die festgefahrene Auffassung: "Surfers should not be fed", also jemand,
der nicht arbeitet nur ein Anrecht auf staatliche Existenzsicherung hat,
wenn er seine (Selbst-)Hilfelosigkeit und Bedürftigkeit nachweisen kann. Das
ist das Haupthindernis für die Einführung von Grundeinkommensmodellen
jeglicher Art. 
Deswegen müßte man nach meiner Auffassung darauf setzen, durch kleinere
Einstiegsmodelle an dieser Stelle einen gesellschaftlichen Lernprozess in
Gang zu setzen. Die, nun wirklich sehr beschränkte,
Durchsetzungswahrscheinlichkeit müßte zudem dadurch gesteigert werden, indem
man die (vorhandenen!) positiven wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen
Effekte in den Vordergrund bei der Begründung der Einstiegsmodelle stellt.
Ein Beispiel ist sicherlich die Begründung für den dem Grundeinkommen nahe
verwandte Vorschlag des Basiskapitals mit der notwendigen
Kapitalbereitstellung für Bildungsinvestitionen (Offe, Grözinger, Maschke).

Herzliche Grüße,
Dirk Jacobi


At 20:55 19.06.2006, Michael Opielka wrote:




Lieber Manuel, liebe Freunde,

euer Vorschlag ist interessant und gegenüber dem Vorentwurf eleganter, der
mit einem Einkommenssteuersatz von 50% plus (!) Arbeitgebersteuer von 22%
plus erhöhte Verbrauchssteuern einen überskandinavischen Eingriff
beinhaltete ­ und daher wenig realistisch schien. 

Interessant ist auch das darin enthaltene Teil-Grundeinkommen (partial basic
income), das ihr als bedingungslosen "Sockel" bezeichnet.

Grundproblem eures Ansatzes ist aus meiner Sicht, dass ihr sowohl
Geldtransfers wie Sachtransfers (Krankenversicherung) aus Steuermitteln
aufbringen wollt, was angesichts einer Steuerquote von ca. 18-19% im
obersten Quintil der Einkommenssteuerzahler (Stand 2004, Angaben BMF) zu
einem Aufschrei und zu "von oben" gesteuerten Steuerprotesten führen würde.
Wir sind hier nicht in Skandinavien - und auch dort gab es
Steuerprotestparteien.

Theoretisch steht hinter diesem "Grundproblem", dass ihr die Sozialpolitik
unter die allgemeine Steuerpolitik, also die - historisch betrachtet -
Polizeifunktion des Staates subsumiert. Das ist (wenig reflektierter)
Mainstream der Ökonomie, aber politisch-historisch fragwürdig. 

Wenn dieses Prinzip in der Krankenversicherung durchschlagen würde, dann
droht bei den anstehenden "Rationierungen" im Gesundheitswesen, dass die
Verteilungskampflogik die Solidarlogik überlagert. 

Mir erscheint es in der deutschen und kontinentaleuropäischen Tradition
ratsamer, die Idee der Grundsicherung in einer "Grundeinkommensversicherung"
zu realisieren (dazu u.a. mein Buch "Sozialpolitik", rowohlt enzyklopädie,
2004) und die Krankenversicherung - daran anschließend - nach
österreichischem Vorbild als Bürgerversicherung zu gestalten.

Das wäre eine Synthese von Sozialversicherung und Steuer, mit
"Sozialsteuern" als Abgaben, eigenständigen, vom Bundeshaushalt
abgekoppelten Körperschaften (wie bisher) und dem "Gefühl", dass wer mehr
einzahlt auch mehr bekommt - aber keine "Beitragsäquivalenz" wie bisher mit
Eigentumsfiktion, sondern eine Teilhabeäquivalenz wie in der Schweizer
Rentenversicherung: die höchste Leistung ist das Doppelte des
Grundeinkommens.

Schöne Grüße
Michael Opielka 

__________________________________________

prof. dr. michael opielka
fachhochschule jena - fachbereich sozialwesen 
http://www.sw.fh-jena.de/people/michael.opielka/download 


-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: debatte.bag.wirtschaft-bounces at gruene.de
[ <mailto:debatte.bag.wirtschaft-bounces at gruene.de>
mailto:debatte.bag.wirtschaft-bounces at gruene.de] Im Auftrag von Manuel
Emmler
Gesendet: Mittwoch, 7. Juni 2006 18:22
An: Verborgene_Empfaenger:
Betreff: [Debatte.bag.wirtschaft] Diskussionsentwurf"Grüne Grundsicherung"

Liebe Befürworter/innen einer Grundsicherung,
Liebe Gegner/innen,

der unten stehende Link führt zu einer aktualisierten Version eines 
Diskussionsentwurfs zur Grünen Grundsicherung. Wenn ihr wollt, könnt ihr 
euch auf der Seite als Unterstützer/innen eintragen. Siehe:

http://www.grundsicherung.org <http://www.grundsicherung.org/>  

Viele Grüße
Thomas Porski und Manuel Emmler
-- 

Manuel Emmler
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