[netz-bb] Bitte geht wählen!

Elisabeth Voss post at elisabeth-voss.de
Do Sep 21 16:11:06 CEST 2017


*Ein paar Gedanken zur Bundestagswahl 2017*

Normalerweise schreibe ich über Solidarische Ökonomie, 
Selbstorganisation und Stadtentwicklung. Heute aus aktuellem Anlass mal 
ein anderes Thema: Die Bundestagswahl. Ich kenne einige, die nicht viel 
von Wahlen halten, die lieber selber machen statt zu delegieren – 
hierarchiefrei und selbstbestimmt. In außerparlamentarischen Bewegungen 
scheint die Bundestagswahl kein großes Thema zu sein. Auch ich erwarte 
keinen grundlegenden Politikwechsel. Anders als 1998, wo nach 16 Jahren 
Kohl viele sich so vieles von Rot-Grün erhofften. Ich war dabei, als 
Netzwerk Selbsthilfe <http://netzwerk-selbsthilfe.de/> und CONTRASTE 
<http://contraste.org/> damals mit vielen anderen die Initiative Anders 
Arbeiten – oder gar nicht?!“ <http://www.contraste.org/index.php?id=80> 
zur kritisch-solidarischen Begleitung der neuen Bundesregierung 
gründeten. Mit der ersten deutschen Kriegsbeteiligung seit dem 2. 
Weltkrieg (gegen Serbien), mit Hartz IV (Mobbing und Ausgrenzung gegen 
Erwerbslose) und Riester (Einstieg in den Ausstieg aus der paritätischen 
Rentenversicherung) wurden unsere Erwartungen heftig enttäuscht. Und 
danach, nun ja …

Vielleicht stimmt es, dass Wahlen verboten wären, wenn sie wirklich 
etwas ändern würden. Ich käme auch nicht auf die Idee, von 
Parlamentswahlen die Abschaffung des Kapitalismus zu erwarten. 
Gleichzeitig denke ich, dass – bei aller Kritik an undemokratischen 
Entscheidungsfindungen, Lobbyismus und Machtkarussels, Korruption etc. – 
nicht vergessen werden sollte, dass viele Menschen in vielen Ländern 
dieser Welt froh wären, wenigstens in einem politischen System wie in 
Deutschland zu leben. Klar nervt es, wenn im Vorfeld der Bundestagswahl 
plötzlich Politiker*innen aller Couleur öffentlich auftreten, weil sie 
Stimmen einsammeln wollen, mit hohl klingenden Werbesprüchen und 
Allgemeinplätzen. Damit kriegt mich auch keine*r.

Aber es gibt ja nicht „die“ Politik und „die“ Politiker*innen, und es 
ist überhaupt nicht egal, wer im Parlament vertreten ist. Nur ein 
kleines Beispiel aus Berlin: Der Kaufvertrag zur Privatisierung das 
Kreuzberger Dragonerareals durch die BImA (Bundesanstalt für 
Immobilienaufgaben) wäre sicher politisch durchgewunken worden, wenn 
nicht Stadtteilinitiativen <https://stadtvonunten.de/> gemeinsam mit 
Lokal- und Bundespolitiker*innen in letzter Minute das Wirksamwerden des 
Kaufvertrags verhindert hätten. Und es gibt so viele große Themen: Krieg 
und Frieden, Flüchtlingspolitik, Klimawandel, Ausverkauf öffentlicher 
Infrastrukturen, Arbeitsbedingungen und Wohnungsnot etc. An der 
neoliberalen Ausrichtung von Politik wird die Wahl nichts Grundlegendes 
ändern, aber für die jeweils Betroffenen kommt es oft schon auf Nuancen 
an. Darum spricht meines Erachtens nichts dagegen, und vieles dafür, 
auch die parlamentarischen Möglichkeiten zu nutzen. Nicht als 
Alternative zu eigenen Aktivitäten, sondern ergänzend.

Ich möchte euch also motivieren, trotz Zweifeln wählen zu gehen. Hier 
die Gründe, warum ich wähle, und was ich mir dazu überlege:

  *

    Mein Privileg, wählen zu dürfen und zu können, möchte ich nicht
    achtlos wegwerfen (auch wenn ich es ungerecht finde, dass so viele
    ausgeschlossen sind), denn Rechte, die nicht genutzt werden,
    verschwinden eines Tages.

  *

    Ich möchte dazu beitragen zu verhindern, dass die AfD stärkste
    Oppositionspartei wird.

  *

    Bei meiner Wahlentscheidung konzentriere ich mich diesmal darauf,
    wen ich möglichst stark in der Opposition sehen möchte.

  *

    Meine Erststimme vergebe ich an die Person, die sich nicht erst im
    Wahlkampf für die Ziele einsetzt, die auch mir am Herzen liegen,
    sondern von der ich weiß, dass sie schon länger dafür einsteht. In
    manchen Bezirken gibt es mehrere solcher Direktkandidat*innen, da
    würde ich mich für die oder den entscheiden, wer von ihrer/seiner
    Partei keinen Listenplatz für den sicheren Einzug in den Bundestag
    bekommen hat.

  *

    Mit meiner Zweitstimme wähle ich die Partei, von der ich erwarte,
    dass sie in der Opposition am klarsten für Frieden und soziale
    Gerechtigkeit, gegen Ausgrenzung und Rassismus eintreten wird.
    Solche Stimmen im Bundestag finde ich wichtig, auch wenn sie
    Entscheidungen vielleicht nicht beeinflussen können, aber allein
    dass sie hörbar sind, kann schon etwas bewirken im Bewusstsein der
    Bevölkerung. Und ohne die Köpfe und Herzen der Menschen zu gewinnen,
    kann ich mir auch keine gesellschaftliche Transformation vorstellen.

  *

    Von der Partei und der Person meiner Wahl erwarte ich, dass sie die
    Rechte von Bundestagsabgeordneten ausgiebig nutzen, Anfragen stellen
    und Einsicht in Unterlagen verlangen um politische Sachverhalte
    transparent zu machen, Anliegen von Basisbewegungen in
    Bundestagsausschüsse tragen etc., und damit außerparlamentarische
    Aktivitäten unterstützen.

Dies sind meine Gründe, zu wählen, sicher gibt es viele weitere.

Für die nächsten Lokalwahlen lohnt es sich, einen Blick über die 
Landesgrenzen nach Spanien zu werfen. Dort erobern seit zwei Jahren 
soziale Basisbewegungen die Rathäuser, und bemühen sich ganz pragmatisch 
um eine Politik zur Verbesserung der Lebensbedingungen von breiten 
Bevölkerungsschichten und Marginalisierten. Über die Konferenz „Fearless 
Cities“ zu diesem Thema, die im Juni 2017 in Barcelona stattfand, habe 
ich in der aktuellen Ausgabe der „CONTRASTE – Monatszeitung für 
Selbstorganisation“ berichtet: Rebellische Städte gegen Rassismus und 
Patriarchat <http://www.contraste.org/index.php?id=274>

Ich denke, es ist dem großen Ziel eines guten Lebens für alle, weltweit 
und auf Dauer, nicht abträglich, schon heute unter den herrschenden 
Bedingungen des globalisierten Kapitalismus zu versuchen, dort, wo es 
möglich ist, auch parlamentarisch Einfluss zu nehmen – 
selbstverständlich ohne sich der Illusion hinzugeben, es sei damit getan.

Also denkt doch mal darüber nach, ob Ihr nicht doch zur Wahl geht, ganz 
pragmatisch und trotz allem.

In diesem Sinne solidarische Grüße

Elisabeth

*www.elisabeth-voss.de <http://www.elisabeth-voss.de/> *


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