[Pirateninfo] ILA-Artikel 03/2003: Wenn Leben zur Ressource wird

Silke Pohl silke.pohl at jpberlin.de
Fre Mar 21 22:24:21 CET 2003


Wenn Leben zur Ressource wird
Der Wettlauf um die Gene

Konflikte um Naturressourcen sind nichts Neues im 21. Jahrhundert. Neu ist
jedoch die Qualität, die seit ca. 20 Jahren mit der Aneignung von Natur
verbunden ist. Die indische Umweltaktivistin Vandana Shiva beschreibt
diesen Prozess als Kolonialisierung der Innenräume von Lebewesen durch
Gen- und Biotechnologie mit Hilfe des westlichen Systems geistiger
Eigentumsrechte (z.B. Patente, aber auch Sortenschutz). Zwar dient
Kolonisierung immer bestimmten Interessen, aber nicht „dem“ Interesse des
Kapitals. Auch zwischen den kapitalistischen Akteuren sind diese Prozesse
z. T. umstritten.

VON GREGOR KAISER
	In den letzten Jahren vollziehen sich fundamentale Veränderungen in der
Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die oft als Übergang
vom „modernen“ zum „postmodernen“ Kapitalismus beschrieben werden. Diese
Entwicklung lässt sich auf verschiedenen Ebenen nachvollziehen, ihre
grundlegenden Wirkungsmechanismen können jedoch besonders gut an der
Veränderung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse aufgezeigt werden.
Dieser Erklärungsansatz stammt aus der Soziologie und geht davon aus,
dass die Wahrnehmung der Natur immer von den jeweils gesellschaftlich und
historisch vorliegenden Sichtweisen und Interpretationen abhängt. Für die
Bearbeitung und Analyse von Umweltveränderungen und Umweltproblemen wird
eine Integration ökologischer, sozioökonomischer, kultureller und
politischer Herangehensweisen verlangt.
Im modernen Kapitalismus wird „Natur“ als externe, materielle Ressource
ausgebeutet. Damit ist die Ausbeutung klassischer Rohstoffe wie Öl, Erze,
Kohle gemeint, aber auch der menschlichen Arbeitskraft. Eine extensive
Zerstörung von Mensch und Natur war und ist die Folge. Im postmodernen
Kapitalismus findet nun eine neue Form von Aneignung und Ausbeutung statt.
Ermöglicht durch Gen- und Biotechnologie und gestützt auf die
Informationstechnologien werden Ressourcen entdeckt, die vormals nicht zur
Verfügung standen. „Ressource“ ist dabei kein unschuldiges Wort. Oft
müssen Ressourcen im wahrsten Sinne erst erfunden werden; Pflanzen, Tiere,
Mineralien ebenso wie ihre Teile sind in ihrer Unmittelbarkeit
eigenständig. Wir können sie beobachten, manipulieren, als Objekt
behandeln oder in ihrer Eigenständigkeit belassen, aber sie bestehen aus
sich selbst heraus. Um Ressource zu werden, dürfen sie nicht als sie
selbst betrachtet werden, sondern sie werden neu definiert als etwas
ausschließlich auf das Verwertungsinteresse Dritter Bezogenes, eben als
„Ressource“: Gensequenzen oder Proteinstrukturen bekommen so erst ein
ökonomisches Potential und werden wortwörtlich in Wert gesetzt.
Solche Ressourcen haben eine neue Qualität. Sie sind nicht mehr extern,
denn zum einen haben wir alle unser persönliches Genom, das potentiell
interessant für die Wirtschaft (aber auch für den Staat) ist. Zum anderen
macht sie schon ihre reine Definition zu einem Teil unseres Handelns und
Manipulierens. Und sie sind immateriell: Sind die Gene einer Pflanze erst
identifiziert und isoliert, ist die Pflanze selbst nicht mehr von
Interesse. Die Gewinnung weiterer Genabschnitte erfolgt nicht mehr aus der
Pflanze selbst, sondern vielmehr im Labor durch Vermehrung des nützlichen
Abschnitts in einem Produktionsorganismus (wie z.B. einem Bakterium).
Durch diese Methode lässt sich dann der entsprechende Abschnitt beliebig
häufig reproduzieren, ohne dass auf die Ausgangspflanze zurückgegriffen
werden muss. Solange allerdings noch nicht alle potentiell
vermarktungsfähigen Gensequenzen analysiert wurden, muss die Natur
geschützt werden, der Verlust der biologischen Vielfalt käme sonst einem
Verlust an potentiellen Geldquellen gleich. Grob vereinfacht lässt sich
sagen, dass die Technik bisher auch bei der Entwicklung von
Hochleistungssorten noch auf das Einkreuzen von ursprünglichen Pflanzen
angewiesen ist. Diese können aber nur in der freien Natur gehalten werden,
möglichst am Ort ihrer ursprünglichen Entwicklung (in situ). Dort ist die
Artenvielfalt und die Anpassung an Umweltgegebenheiten am weitesten
entwickelt und damit die größte Differenzierung erreicht. Schon an anderen
Standorten (ex situ) geht davon einiges verloren, in Genbanken findet gar
keine evolutive Anpassung an veränderte Umweltbedingungen mehr statt. So
müssen diese traditionellen Sorten und Standorte (Diversifizitätszentren)
weiterhin geschützt werden.

	So gibt es also zwei Umgangsweisen mit Natur. Die eine, die Natur
unmittelbar ausbeutende, ist verantwortlich für die zunehmende
Naturzerstörung. Die andere, mehr die Natur durchdringende, beruht eher
auf einer nachhaltigen Bewirtschaftung der Natur. Die
gesellschaftspolitischen Konsequenzen sind bisher mehr oder weniger
unbekannt, aber es lässt sich erahnen, dass es nicht folgenlos bleiben
kann, wenn wir dazu übergehen, das Ganze der Natur nicht nur als
gestaltbar zu begreifen – die Tatsache, dass bei praktisch allen
gentechnischen Experimenten anderes herauskommt als erwartet, zeigt ein
wenig von den katastrophalen Möglichkeiten. Der Zugriff auf alles Leben
als Material technischer Gestaltung nimmt aber auch eigenständigen
Entscheidungen von Individuen und Gruppen, sich nicht vergegenständlichen
zu lassen, zunehmend die reale Basis.
Die postmoderne Betrachtungsweise normalisiert und verallgemeinert den
Gedanken der Inwertsetzung von Mensch und Natur. Alles kann Wert haben und
zur Ware werden, von Stücken des eigenen oder fremden Körpers bis zur
Leiche, unentdeckten pflanzlichen Inhaltsstoffen bis zum Wissen um ihren
Standort. So wird jetzt auch der Wert von indigenem oder traditionellem
Wissen gesehen. Dabei handelt es sich um Wissen, das in den Köpfen von
einzelnen Personen (Schamanen oder HeilerInnen) über externe Objekte
(Pflanzen, Tiere) existiert und in bestimmte kulturelle oder
gesellschaftliche Kontexte eingebettet ist. Natur und lokale
Gemeinschaften werden als Quelle und Produzenten von Wert gesehen und
nicht als Menschen, Pflanzen oder Tiere mit ihren kontextabhängigen
Wechselbeziehungen.
Der in verschiedenen Artikeln dieser Ausgabe auftauchende Begriff der
Biopiraterie bezeichnet den Vorgang der Aneignung dieser neu definierten
Werte. Er ist somit ein Kampfbegriff sozialer Bewegungen, um auf eben
diesen Diskurs von Inwertsetzung und folgender Aneignung der Natur durch
dominante Akteure (Konzerne, Universitäten, nationale und internationale
Forschungszentren) aufmerksam zu machen. In seiner ursprünglichen und
herrschaftskritischen Bedeutung beinhaltet er nicht nur die Ablehnung von
Patenten auf Leben, sondern Patentierung wird generell abgelehnt, weil die
Unterscheidung, was Leben ist, eine reine Definitionsfrage ist.
Schließlich entstehen Definitionen nicht im luftleeren Raum, sondern
bewegen sich und werden entwickelt in Diskursen, also dem umfassenden
gesellschaftlichen Reden von etwas. Diskurse sind herrschaftlich
aufgeladen, sie begründen Verständnis von und Aneignung der Welt und sind
zur Zeit von kapitalistischen Interessen dominiert. Daraus ergibt sich
unser Problem betreffend eine sehr weite Definition von dem, was alles
nicht Leben und somit patentierbar ist. So gibt es vor allem in den
Rechtswissenschaften Diskussionen, was denn überhaupt ein Mikroorganismus
sei – denn für diese schreibt das WTO-Recht Patentierungsmöglichkeiten
zwingend vor. Obwohl biologisch definiert, wird versucht, all das als
Mikroorganismus zu klassifizieren, was unterhalb der Sichtbarkeitsgrenze
ist. Würde sich diese Position durchsetzen, wäre alles Leben, inklusive
des Menschen, patentierbar. Die Auseinandersetzung darum, welche Diskurse
geführt werden und wie sie aufgeladen sind, ist also eine eminent
politische Frage.

	Für soziale Bewegungen in Deutschland gibt es derzeit mindestens zwei
Anknüpfungspunkte die Durchdringung der Natur und die Patentierung von
Leben konkret vor Ort anzugreifen: Zum einem steht in diesem Jahr noch
die Umsetzung der Europäischen Patentrichtlinie auf der Tagesordnung des
Bundestages. Diese Richtlinie geht weit über die seitens der WTO
geforderten Patentregelungen hinaus und erlaubt ausdrücklich die
Patentierung von Pflanzen und Tieren. Zweitens sind die seit 1998
geltenden Nachbaugebühren für wiederausgesätes Erntegut in Deutschland zu
erwähnen. Sie werden in ihrer Tragweite häufig unterschätzt; sie
verpflichten die Bauern und Bäuerinnen dazu, dafür zu bezahlen, dass sie
selbst produziertes Getreide erneut aussäen. Ziel dieser Nachbaugebühren
ist die vollständige Kapitalisierung der bäuerlichen Landwirtschaft und
die Ablösung der LandwirtInnen von ihren Produktionsmitteln. Wenn mensch
Vielfalt erhalten will – Vielfalt der Pflanzen aber auch Vielfalt der
Kulturtechniken – dann kann er/sie direkt vor der Haustür damit beginnen,
sich den Biopiraten in den Weg zu stellen.
Wer nicht unmittelbar mit Landwirtschaft befasst oder in Kontakt dazu ist,
kann immerhin einen Beitrag zur Politisierung der Probleme sowie der
zugrunde liegenden Machverhältnisse und strukturellen Rahmenbedingungen
leisten.