[IMI-List] [0623] Letzte Infos Kongress / Französische Sicherheitsstrategie

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Mi Nov 16 13:12:33 CET 2022


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0623 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1.) Letzte Informationen vor dem anstehenden IMI-Kongress am Wochenende;

2.) eine IMI-Analyse der neuen französischen Sicherheitsstrategie.


1.) IMI-Kongress „Zeitenwenden: Ukraine-Krieg und Aufrüstung“

Alle Informationen zum IMI-Kongress am 19./20. November (Ort:
Hermann-Hepper-Halle, Westbahnhofstraße 23, 72072 Tübingen) finden sich
hier: https://www.imi-online.de/2022/09/26/kongress2022/

Bitte beachtet den Veranstaltungsort, der von den vergangenen Jahren
abweicht und etwas weiter vom Bahnhof entfernt liegt.

Wegen der unmittelbar zuvor stattfindenden Kundgebung im Rahmen des
dezentralen Aktionstags für Frieden und ein gutes Leben für alle (11h
Marktplatz Tübingen) könnte unmittelbar zu Beginn der Veranstaltung in
der Hepper-Halle größerer Andrang herrschen. Wer von weiter her anreist
und auf jeden Fall von Anfang an einen Platz bekommen will, kommt am
besten 20 Minuten früher.

Wir freuen uns, wenn sich möglichst alle vor der Teilnahme am Kongress
testen (lassen) und bei einschlägigen Symptomen zuhause bleiben.

Am Samstag wird der gesamte Kongress – mit Ausnahme der
Punk-Rock-Lyrik-Lesung am Abend – live vom Radio Wüste Welle übertragen
und kann dort auch über den Livestream mitverfolgt werden:
https://www.wueste-welle.de/broadcasts/livestream/type/mp3
Am Sonntag wird ein Audio des Kongresses über folgenden Link
mitzuverfolgen sein: https://ultramarin.collocall.de/inf-t4g-dl1-9bu

Abgesehen von möglichen Verzögerungen zu Beginn wird nach aktuellem
Stand alles beim vorgesehenen Programm bleiben:
https://www.imi-online.de/2022/09/26/kongress2022/

Der Aufruf zur Kundgebung davor findet sich hier:
https://www.imi-online.de/2022/11/08/kundgebungen-am-19-11-2022/

Wir sehen oder hören uns am Wochenende!


2.) Analyse der neuen französischen Sicherheitsstrategie

IMI-Analyse 2022/58
Die neue französische Sicherheitsstrategie: eine hybride Kriegserklärung
https://www.imi-online.de/2022/11/15/die-neue-franzoesische-sicherheitsstrategie-eine-hybride-kriegserklaerung/
Christoph Marischka (15. November 2022)

Am 9. November – in Frankreich ist dieses Datum offenbar eher als
Todestag Charles de Gaulles in Erinnerung – veröffentlichte das
Französische Verteidigungsministerium seine neue
Sicherheitsstrategie.(1) Deren Grundzüge stellte Präsident Macron am
selben Tag in einer Rede vor stark militärisch geprägtem Publikum auf
der französischen Marinebasis in Toulon vor.

Das Bild der Welt, wie es in diesem Papier gezeichnet wird, ist düster.
Auch wenn das für solche Arten von Dokumenten typisch und angesichts des
Krieges in der Ukraine erwartbar sein mag, ist es in seiner
französischen Variante besonders augenfällig. So wird einerseits in
einer ökonomistischen Sprache ganz generell von einem strategischen
Wettbewerb zwischen Blöcken und Staaten ausgegangen, der aber – so wird
an verschiedenen Stellen formuliert – in eine offene Konfrontation
übergegangen sei. Damit ist auf der einen Seite natürlich im
herkömmlichen militärischen Sinne der Krieg in der Ukraine gemeint.
Zugleich findet sich die Formulierung des Übergangs in eine
Konfrontation jedoch auch im expliziten Hinblick auf die Sahel-Region
und den Pazifik und mit Bezug auf China – wo ja bislang noch keine
offenen militärischen Konfrontationen bestehen.

Vermittelt wird dieser latente Kriegszustand über die vermeintliche
hybride Kriegführung, die von China und Russland ausgehe und Frankreich,
NATO und EU zu entsprechenden Gegenmaßnahmen zwinge. Zugleich wird in
dem Dokument jedoch deutlich, dass diese Hybridität längst, aber nicht
explizit, auch die französische Außenpolitik prägt. So wird bereits in
Absatz elf ganz allgemein „Einfluss“ als „strategische
Schlüsselfunktion“ definiert, die es ermöglichen soll „französische
Interessen durchzusetzen und den Handlungen unserer Wettbewerber
(compétiteurs) im gesamten Spektrum der Hybridität entgegenzuwirken“.
Wohlgemerkt beziehen sich diese Äußerungen nicht auf die Landes- und
Bündnisverteidigung, sondern auf (Groß-)Regionen wie Afrika, den Pazifik
und explizit auch die Ukraine. Eine zentrale Rolle spielen für diesen
globalen Machtanspruch, der in Verbindung mit dem proklamierten Übergang
in eine offene Konfrontation eigentlich eine globale Kriegserklärung
ist, außerdem die französischen Überseegebiete, die vielfach erwähnt
werden. In Absatz 67 wird daraus nicht nur eine „Pflicht“ abgeleitet, in
verschiedenen Weltregionen zu „Sicherheit und Stabilität“ beizutragen,
sondern aus der „geografischen Lage einiger unserer Territorien in
diesen Regionen“ eine Notwendigkeit und „besondere Legitimität“
begründet, „dort präsent und in allen Domänen aktiv zu sein“. Zugleich
wird wie gesagt Russland vorgeworfen, einen „globalisierten hybriden
Krieg“ ausgerufen zu haben, in dem es „externe Gebiete als Hebel“ nutze,
um die eigenen Handlungsspielräume einzuschränken.

Anspruch: globale Handlungsfähigkeit, nuklear abgesichert

Dass zum hybriden Spektrum der möglichen Maßnahmen, um diese
Handlungsspielräume weltweit(!) zu sichern, auch das Militär gehört,
wird an verschiedenen Stellen explizit hervorgehoben. So heißt es in
Absatz 56 recht eindeutig, dass „die zunehmenden Einschränkungen unserer
Interessen es notwendiger macht, über robuste und durchhaltefähige
Mittel zu verfügen, die den jüngsten Entwicklungen in der Welt angepasst
sind. Unsere Verteidigungskapazitäten tragen dazu auf verschiedenen
Ebenen bei als Basis unserer Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit in der
Welt im Angesicht von Bedrohungen aller Art“. Diese
Verteidigungsfähigkeit wiederum – auch das wird explizit formuliert –
steht auf dem Fundament der Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung. Hier
ist der globale Geltungsbereich nicht so offen formuliert, allerdings
ist der entsprechende Absatz 76 – abgesehen von seiner Einschränkung auf
staatliche Akteure – erschreckend uneindeutig: „Mit dem Ziel, uns vor
allen staatlichen Aggressionen gegen unsere vitalen Interessen zu
schützen, woher sie auch kommen mögen und welche Form sie auch haben
werden, ist die [nukleare] Abschreckung die ultimative Garantie der
Sicherheit, des Schutzes und der Unabhängigkeit unserer Nation“.
Entsprechend wird die Aufrechterhaltung einer „robusten und
glaubwürdigen nuklearen Abschreckung“ gleich in Absatz acht als
„strukturelles Element unseres strategischen Dialoges und der
Absicherung unserer vitalen Interessen“ zum ersten von zehn
strategischen Zielen ernannt.

Beharren auf Eigenständigkeit

Während der globale Geltungsbereich einer offenen hybriden Konfrontation
sowie eigener militärischer Handlungsfähigkeit und Legitimität sehr klar
und wiederholend formuliert ist, bleibt die Sicherheitsstrategie auch an
vielen anderen Punkten uneindeutig. So steht an vielen zentralen Stellen
die Selbstbezeichnung Frankreichs als „ausgleichende Macht“ („puissance
d‘équlibres“), ohne dass die darunter zu verstehende, geopolitische
Selbstverortung nachvollziehbar ausformuliert wäre. Zwar werden EU und
NATO als primäre sicherheitspolitische Bezugrahmen mehrfach und
prominent genannt. Die ihnen gewidmeten Unterkapitel allerdings bleiben
relativ unkonkret und floskelhaft. Demgegenüber wird relativ prominent
die Fähigkeit zur militärischen Zusammenarbeit mit den USA hervorgehoben.

Auch in der Definition jener Akteure, die mal als Gegner und mal als
Konkurrenten dargestellt werden, China und Russland, stellt man sich
klar auf Seiten der EU und der NATO, ist aber merklich darum bemüht,
jeweils eigene, nationale Interessen und Werte zu finden, welche
ebendiese zu Gegnern machen. Gerade im Hinblick auf China gelingt dies
allenfalls begrenzt. Analog hierzu wird jedoch wiederholt der Anspruch
formuliert und die Fähigkeit unterstrichen, auch unilateral und in
Ad-Hoc-Koalitionen hoch intensive militärische Auseinandersetzungen
führen und gewinnen zu können. Ein seltsam anmutendes Beispiel hierfür
ist der bereits zitierte Absatz zur nuklearen Abschreckung, von der die
NATO- und EU-Verbündeten ja offensichtlich nicht ausgenommen werden.
Damit deutet sich zumindest an, dass Frankreich als „ausgleichende
Macht“ bei und trotz Einbindung in EU und NATO nicht vor hat, diesen
seine Interessen und außenpolitischen Maximen unterzuordnen. Dafür, als
ausgleichende Macht das Bündnis mit China und Russland zu suchen, bietet
der Text allerdings auch keine Grundlage.

Das Beharren auf Eigenständigkeit zeigt sich auch in einem kleinen
Unterabschnitt unter dem Titel „Aufklärung – Verständnis –
Antizipation“, bei dem es um klassisch geheimdienstliche Arbeit und
Strukturen der Entscheidungsfindung zu gehen scheint, implizit aber
sicher auch entsprechende technologische Entwicklungen gemeint sind, um
Handlungen der Gegner bzw. Wettbewerber zu erkennen, zu antizipieren und
zu beeinflussen. Hier scheint sich das französische
Verteidigungsministerium große Hoffnungen zu machen – auch dahingehend,
von den Verbündeten zu profitieren, ohne dafür auf eigene Kapazitäten zu
verzichten: „Die Funktion aufklären-verstehen-antizipieren hat eine
starke partnerschaftliche Dimension. Um in priorisierten Bereichen zu
einer autonomen Lageeinschätzung zu gelangen, ist es nötig, die
Wahrnehmung der Partner durch eigenständige Fähigkeiten zu ergänzen“.

Hybride (Un)Eindeutigkeiten

Auch die konkrete Bedeutung des hybriden Kriegszustandes, der
konstatiert wird, bleibt uneindeutig. Internationales Recht wird nur an
wenigen Stellen als Handlungsrahmen angesprochen, seine „Ausnutzung“
durch Dritte hingegen in Absatz 26 explizit als „Lawfare“ diskreditiert:
„Unsere Wettbewerber haben aus dem Recht eine Waffe gemacht, die sie
gegen unsere Interessen einsetzen, um ihren Aufstieg abzusichern“. Ein
bemerkenswerter Satz. Die Uneindeutigkeit des vermeintlichen
Kriegszustandes spiegelt sich auch im Umgang mit einer weiteren,
wiederkehrenden Formulierung, nämlich derjenigen der „Kriegsökonomie“.
Diese wird in unterschiedlichen Absätzen entweder als Beschreibung der
aktuellen französischen Wertschöpfung verwendet, als aktuelle
Notwendigkeit oder als herzustellende Potentialität dargestellt.
Letzteres wird beispielsweise in Absatz 122 weiter ausbuchstabiert, in
dem es um die Bedingungen und Kompromisse geht, die nötig sind, „[u]m
die Erfordernisse eines Krieges (starker Verbrauch von Munition,
Abnutzung, etc.) langfristig durchhalten zu können“.

Zugleich sind die Konsequenzen, die aus dem globalen hybriden
Kriegszustand für andere Bereiche gezogen werden müssten, um Resilienz
herzustellen, teilweise sehr konkret formuliert. So heißt es zum
Beispiel im Hinblick auf Jugend und Bildung, dass die „Attraktivität des
Militärs“ und eine „Geisteshaltung der Verteidigung … so früh wie
möglich durch konkrete und belohnende Ansätze im Bildungsbereich
verankert werden sollten“ (Absatz 115). Hierzu sollte auch das Militär
verstärkt in die Bildungsinstitutionen eingebunden werden. Noch viel
grundsätzlicher wird eingefordert, die gesamte Technologiepolitik dem
Ziel der Verteidigungsfähigkeit und – an anderer Stelle – auch der
Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckungsfähigkeit im Angesicht
schnellen technologischen Wandels zu unterwerfen.

Demütigung in Westafrika

Die hier dargestellte Drastik der neuen französischen
Sicherheitsstrategie entspricht zwar angesichts des Ukraine-Krieges und
der Reaktionen der NATO durchaus dem Zeitgeist, im französischen Falle
jedoch scheint sie zugleich aus der Zeit gefallen. So wurde die neue
Strategie von Macron wie bereits erwähnt in einer Rede in Toulon
vorgestellt – die allerdings wegen eines anderen dort angesprochenen
Sachverhalts deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: Macron
erklärte aus diesem Anlass knapp drei Monate nach dem Abzug der letzten
(offiziellen) französischen Soldat*innen aus Mali die Operation Barkhane
für beendet. Niemand kommt umhin, deren Scheitern anzuerkennen, es ist
von einem Fiasko und einer Demütigung die Rede und Vergleiche zum Abzug
der USA aus Afghanistan werden gezogen.(2)

Die einflussreiche und der Regierung wie Bundeswehr nahestehende
„Stiftung Wissenschaft und Politik“ (SWP) hatte einen Monat zuvor eine
Analyse veröffentlicht, in der sie von einer „gescheiterten
Militärintervention“ schreibt, „die den größten Auslandseinsatz seit dem
Algerien-Krieg darstellte“ und „als politische Zäsur in die Geschichte
der französisch-afrikanischen Beziehungen eingehen“ dürfte.
Zurückgeführt wird dies u.a. auf eine „Vielzahl folgenschwerer
politischer Fehleinschätzungen“. Erwartet wurde entsprechend, dass
„Paris … auf Jahre hinaus mit einem nachhaltig erschütterten
Selbstverständnis über seine eigene Rolle in Afrika befasst sein“ dürfte
und „vor der historischen Herausforderung [steht], einen neuen Kurs
gegenüber Afrika zu definieren“. Für die SWP bestand mit der
französischen Erschütterung „[f]ür Deutschland und andere europäische
Regierungen“ Aussicht darauf, „mit Frankreich in einen afrikapolitischen
Dialog einzutreten, der nicht a priori von der Überlegenheit politischer
Einsichten in Paris und dem Vorrang französischer Interessen bestimmt
wird“.(3) Von beidem – einer kritischen Reflexion der Afrikapolitik und
deren europäischer Neuverhandlung – ist in der neuen französischen
Sicherheitsstrategie wenig zu spüren.

Allenfalls deutet sich an, dass Frankreich zukünftig versuchen wird, mit
deutlich kleinerem „Fußabdruck“, also weniger Sichtbarkeit,
Partnerschaften mit den jeweiligen Streitkräften zu pflegen und so
weiterhin militärisch Einfluss in den ehemaligen Kolonien auszuüben. Die
aktuellen Diskussionen um eine neue, reformierte Ausbildungsmission der
EU in der Republik Niger unter dem Akronym EUMPM (Military Partnership
Mission) deuten darauf hin, dass diese auch hier Frankreich folgen wird,
wie sie das vor zehn Jahren mit desaströser Bilanz in Mali getan hat.

Was die neue französische Sicherheitsstrategie jedoch nahelegt und
verschiedene Medien bereits aus anonymen Quellen gehört haben wollen,
ist, dass Frankreich dabei verstärkt auf hybride und geheimdienstliche
Mittel zurückgreifen und sein eigenes Süppchen kochen wird. Neu wäre das
aber ebenso wenig, wie die Tatsache, dass die europäischen Partner das
als Teil des Problems erkennen und kritisieren – und zugleich trotzdem
mitspielen wollen. Zu erwarten ist jedoch, dass Frankreich und die EU
dies zukünftig noch stärker als Teil einer globalen Auseinandersetzung
mit Russland und China verstehen und ihre Bemühungen um strategische
Kommunikation intensivieren werden: Europa wird in der Sahara
verteidigt. Es bekämpft sich dort auch gegenseitig. Die „ausgleichende
Macht“ Frankreich wird ganz vorne dabei bleiben, die Region weiter in
den Malstrom einer Geopolitik zu ziehen – die nun, nicht nur von
Frankreich, als globale, offene, hybride und nuklear abgestützte
Auseinandersetzung wahrgenommen wird.

Anmerkungen

1 Die Revue nationale stratégique 2022 wird unter folgender URL vom
französischen Verteidigungsministerium im französischen Original sowie
einer vorläufigen englischen Übersetzung bereitgestellt:
http://www.sgdsn.gouv.fr/communiques_presse/revue-nationale-strategique-2022/


2 Beispielhaft wird dieser Diskurs etwa hier wiedergegeben: Stefan
Brändle: Macron beendet französische Militär-Mission in Westafrika,
derstandart.at vom 9.11.2022,
https://www.derstandard.at/story/2000140686520/macron-beendet-franzoesische-militaer-mission-in-westafrika


3 Denis M. Tull: Frankreichs Afrikapolitik unter Präsident Macron –
Zwischen Reformen, Public Diplomacy und unfreiwilliger politischer
Zäsur, SWP-Aktuell 2022/A 62 (06.10.2022),
https://www.swp-berlin.org/en/publication/frankreichs-afrikapolitik-unter-praesident-macron






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