[IMI-List] [0591] NATO-Gipfel / Drohnendebatte / AUSDRUCK (Schwerpunkt: Mittelmeer)
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imi at imi-online.de
Mi Jun 16 12:56:29 CEST 2021
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0591 .......... 24. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
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Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) Zwei Beiträge zur aktuellen Drohnendebatte in Deutschland und zum
mutmaßlich ersten Einsatz vollständig autonomer Drohnen gegen Menschen;
2.) Die neue Ausgabe des IMI-Magazins Ausdruck (Juni 2021): Schwerpunkt
Mittelmeer;
3.) IMI-Analyse: Auswertung des NATO-Gipfels.
1.) Artikel zur Drohnendebatte
Mit der Entscheidung auf dem Bundesparteitag der Grünen und der
anstehenden Entscheidung über das Future Combat Air System der EU hat in
Deutschland die Debatte über autonome Waffensysteme wieder an Fahrt
aufgenommen. Zugleich mehren sich die Hinweise, dass zwischenzeitlich in
Libyen erstmals voll-autonome Drohnen zum Einsatz kamen.
IMI-Standpunkt 2021/031
Drohnen-Propaganda grenzt an Fake News
Medien übernehmen zweifelhafte Analyse eines Bundeswehr-Thinktanks
http://www.imi-online.de/2021/06/14/drohnen-propaganda-grenzt-an-fake-news/
Christoph Marischka (14. Juni 2021)
IMI-Standpunkt 2021/032
KI-Drohnen auf Menschenjagd
Völkerrechtswidrige Aufrüstung von Proxys in Libyen
http://www.imi-online.de/2021/06/16/ki-drohnen-auf-menschenjagd/
16. Juni 2021
2.) AUSDRUCK (Juni 2021): Schwerpunkt: Mittelmeer
Frisch erschienen ist die Juni-Ausgabe des Ausdrucks mit dem Schwerpunkt
Mittelmeer.
Die komplette Ausgabe kann hier heruntergeladen werden kann:
https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-Juni-2021-web.pdf
Die Links zu allen Einzelartikeln finden sich hier:
https://www.imi-online.de/publikationen/ausdruck/ausdruck-inhaltsverzeichnisse/
SCHWERPUNKT: MITTELMEER
-- Reise ans Mittelmeer (Jacqueline Andres)
-- Militarisierung des Mittelmeers (Jacqueline Andres)
-- Das andere Mal als Farce: Der Petersilienkrieg (Sven Wachowiak)
-- Geopolitik vor Klimawandel (Pablo Flock)
-- Die Waffenschiffe im Netz der Friedenshäfen (Carlo Tombola und Andrea
Bottalico)
-- Repression gegen die Hafenarbeiter*innen in Genua ( Jacqueline Andres)
-- Sigonella: Ausgangspunkt für die Augen der NATO (Marius Pletsch)
-- Überwachung für die Festung Europa (Matthias Monroy)
-- Beispiel Automobil: Liefer- und Wertschöpfungsketten übers Mittelmeer
(Jule Steinert)
-- Klimakrise in Nordafrika: Kampf um Lebensgrundlagen (Nabil Sourani)
-- Die Kriminalisierung der Seenotrettung in Italien (Judith Gleitze und
Kristina Di Bella)
MAGAZIN
KI, DROHNEN UND KRIEG
-- Berg-Karabach, Europas Anteil und deutsche Konsequenz (Christoph
Marischka)
-- Eurokampfdrohne: Bewaffnetes Groschengrab mit Ansage (Jürgen Wagner)
-- Autonome Waffen und die Politik (Tobias Pflüger)
DEUTSCHLAND UND DIE BUNDESWEHR
-- Reserve für die Heimatfront - Freiwilliger Wehrdienst im Heimatschutz
(Martin Kirsch)
-- Kriegsdienstverweigerung: Bundeswehr fordert immense Nachzahlungen
(Alexander Kleiß)
-- Zivilklauseln: Hochschulen zwischen Vision und Realpolitik (Elena
Bertram)
-- Legal, Illegal, Scheißegal. Die Arbeitsweise des BND und ihre Opfer
(Nina Rupprecht)
-- Campen mit Komfort – „Bewegliche Unterbringung im Einsatz
Streitkräfte“ (Emma Fahr) -- Rüstungsgroßprojekte: Milliardenpoker des
Verteidigungsministeriums (Jürgen Wagner)
EUROPA IM KRIEG IN AFRIKA
-- Mosambik: EU-Einsatz und Flüssiggas (Jürgen Wagner)
-- Bounti war ein Massaker (Christopher Marischka)
-- Die Privatisierung der Verwundetenevakuierung in Mali (Emma Fahr)
EU-MILITARISIERUNG
-- Krieg ist Frieden. EU-Friedensfazilität als Anreizsystem (Özlem
Demirel und Jürgen Wagner)
Die komplette Ausgabe kann hier heruntergeladen werden kann:
https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-Juni-2021-web.pdf
3.) IMI-Analyse: Auswertung NATO-Gipfel
IMI-Analyse 2021/32
NATO-Agenda 2030
Gipfel der Systemkonkurrenz
http://www.imi-online.de/2021/06/15/nato-agenda-2030/
Jürgen Wagner (15. Juni 2021)
Am 14. Juni 2021 trafen sich die Staats- und Regierungschefs der NATO zu
ihrem Gipfeltreffen in Brüssel. Auf der Agenda standen eine ganze Menge
Dinge, wie allein schon die mit knapp achtzig Paragrafen ungewöhnlich
lange Gipfelerklärung bezeugt (das Statement des 2019er Gipfels in
London brachte es auf gerade einmal 9 Absätze). Während Militäreinsätze
im Globalen Süden („Krisenmanagement“) viele Jahre die Agenda des
Bündnisses dominierten, rückt nun eine neue Herzensangelegenheit ganz
oben auf die Agenda. Der NATO-Gipfel untermauerte einmal mehr, dass sich
inzwischen fast alle Planungen auf die immer rabiater ausgetragene
Großmachtkonkurrenz mit Russland und zunehmend auch China konzentrieren.
Natürlich zeichnet sich diese Entwicklung schon länger ab, mit der
Gipfelentscheidung, für das kommende Jahr ein neues Strategisches
Konzept zu erarbeiten und dafür das Papier „NATO 2030“ als wichtige
Richtschnur zu nehmen, drohen sich diese Auseinandersetzungen aber
endgültig zum Dauerkonflikt zu verfestigen. Die traurige und gefährliche
Botschaft des Gipfels fasste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in
seinem Pressestatement folgendermaßen zusammen: "Die Nato ist eine
Allianz von Europa und Nordamerika, aber wir müssen uns an ein globales
Sicherheitsumfeld, das immer kompetitiver wird, anpassen. Wir befinden
uns in einem Zeitalter des globalen Systemwettbewerbs."
Von Afghanistan zur Systemkonkurrenz
In gewisser Weise hat es Symbolwirkung, dass die NATO beschlossen hat,
in diesem Jahr ihre Truppen aus Afghanistan abzuziehen, geht damit
gleichsam doch eine Phase zu Ende, in der derlei Einsätze im Zentrum der
Planungen standen. Allerdings geht das NATO-Engagement, wenn auch in
deutlich anderer Form, weiter, wie auch in der Gipfelerklärung betont
wird: „Der Rückzug unserer Truppen bedeutet nicht das Ende unserer
Beziehungen zu Afghanistan.“ (para. 19) Vor allem werde die NATO „damit
fortfahren, den Afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräften
Training und finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.“ (ebd.)
Darüber hinaus haben die USA laut der Military Times bereits mit
Militäreinsätzen und Überwachungsmaßnahmen begonnen, die ihren Ursprung
außerhalb der Landesgrenzen haben. So wird der Krieg wohl auf einem
deutlich anderen Niveau fortgesetzt. Dennoch ist es sicher nicht
übertrieben, im westlichen Truppenabzug eine Art Signal für den
endgültigen Übergang in die Phase der Systemkonkurrenz zu erblicken.
Die diesbezüglichen Konflikte nehmen unmittelbar nach den üblichen
Einleitungsfloskeln in der NATO-Gipfelerklärung gleich ab Absatz zwei
den meisten Raum ein. Die inzwischen vielfach bemühte „regelbasierte
internationale Ordnung“, für die sich die NATO als Garant erachtet, sei
„bedroht“ (para. 2). Der ehemalige Vorsitzende des
NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, erklärte bereits vor einiger
Zeit, was er – und seine NATO-Kollegen – darunter offiziell verstehen:
„Noch wichtiger ist allerdings, dass sich ein Wettstreit zwischen
mindestens zwei Weltordnungsmodellen abzeichnet: Da ist einerseits das
westliche Modell einer regelbasierten demokratischen Ordnung, in der die
Macht der Gesetze die Macht der Mächtigen einhegt und in welcher der
Einzelne jenen Schutz genießt, der in der Erklärung der Menschenrechte
verankert ist. Und da ist andererseits das chinesische Modell, das
Präsident Xi Jingpin auf dem letzten Parteikongress als das neue Modell
der Weltordnung anpries. […] Diese beiden Modelle werden miteinander
konkurrieren, weil sie aus einem einfachen Grund nicht miteinander in
Einklang gebracht werden können: Das westliche Modell verspricht
individuelle Freiheit, das chinesische Modell tut dies nicht. Daher
steht die Welt am Rande eines neuen globalen Wettstreits, der in erster
Linie in Asien stattfinden wird.“
Aus Sicht Russlands und Chinas umfasst diese „regelbasierte Ordnung“
aber vor allem Regeln und Prinzipien, die helfen sollen, die westliche
Vormachtstellung zu bewahren, weshalb sie vom Westen auch mit Klauen und
Zähnen verteidigt werden soll. „Peking teilt unsere Werte nicht“
verkündete beispielsweise NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kurz vor
Gipfelbeginn und begründete dies mit der Unterdrückung der Uiguren und
der Proteste in Hongkong sowie mit Drohungen gegenüber Taiwan. Sicher
ist vieles davon nicht von der Hand zu weisen, andererseits wäre es
angebracht, wenn sich der Westen auch zuallererst einmal an die eigene
Nase fassen würde, etwa was die Zusammenarbeit mit so lupenreinen
Demokraten wie in Saudi-Arabien oder der Türkei oder mit den Putschisten
in Mali wie auch mit Islamisten in Syrien anbelangt, um nur einige
Beispiele zu nennen. Ganz unabhängig davon dürften ohnehin nicht
irgendwelche abstrakten „Werte“ ursächlich für die sich immer weiter
verschärfenden Konflikte sein, sondern unterschiedliche sehr handfeste
Interessen. Jedenfalls durchzieht die gesamte Abschlusserklärung ein
auffällig alarmistischer Ton, wenn es etwa ebenfalls gleich zu Beginn
heißt: „Wir sehen uns vielfacher Gefahren und systemischer Konkurrenz
von energisch auftretenden Mächten gegenüber.“ (para. 3)
Russland: Gegner und Bedrohung
Endgültig vorbei sind die Zeiten, in denen gegenüber Russland noch
halbwegs freundliche Töne angeschlagen wurden: "Unser Verhältnis zu
Russland ist so schlecht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht
mehr", machte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg schon kurz vor
Gipfelbeginn klar. Und obwohl das Bündnis hierfür maßgeblich
verantwortlich ist, betonte Stoltenberg selbstredend, dies liege
ausschließlich an Russlands "aggressiven Handlungen". Auch in der
Gipfelerklärung selbst wird Russland als Gegner identifiziert:
„Russlands aggressives Verhalten stellt eine Bedrohung für die
Sicherheit der euro-atlantischen Region dar.“ (para. 3)
Es folgen dann Absatz um Absatz lange Aufzählungen, in welchen Bereichen
Russland massiv aufgerüstet und ein aggressives Verhalten an den Tag
gelegt hätte, weshalb es ein Zurück zur Normalität nicht geben könne
(para. 8-12). Besonders wird auf eine Aufrüstung der russischen
taktischen und strategischen Atomwaffen abgehoben – hier gelangt man an
eine ganz typische Stelle: nicht alle Kritikpunkte sind aus der Luft
gegriffen, aber das, was Russland vorgeworfen wird, sieht gegenüber dem,
was der Westen veranstaltet, bei näherer Betrachtung vergleichsweise
harmlos aus. So verblasst alles was Russland im Atomwaffenbereich
unternimmt gegenüber der laufenden „Modernisierung“ der US-Atomwaffen,
durch die sie für potenzielle Erstschlagszenarien treffsicherer und
durchschlagskräftiger und damit „besser“ einsetzbar werden (siehe
IMI-Analyse 2019/25). Der Kostenpunkt für die nukleare US-Aufrüstung für
die Jahre 2021 bis 2030 wurde jüngst vom Congressional Budget Office,
einer Art US-Rechnungshof, noch einmal auf nunmehr 634 Mrd. Dollar nach
oben korrigiert – allein bei dieser Summe handelt es sich um mehr als
das Zehnfache des gesamten russischen Militärhaushaltes.
Viel Schatten und etwas Licht gibt es bei den landgestützten Kurz- und
Mittelstreckenraketen, die seit der US-Aufkündigung des INF-Vertrages
2019 ja nicht mehr grundsätzlich verboten sind. Hier wird in der
Abschlusserklärung des NATO-Gipfels Russland einmal mehr vorgeworfen,
mit der Stationierung von Raketen des Typs 9M729 (SSC-8) den Vertrag
bereits vor Aufkündigung verletzt zu haben und deshalb für sein Ende
verantwortlich zu sein (para. 46). Das ist aber zumindest umstritten:
Russland bestreitet die Vorwürfe – Angebote zur Inspektion wurden vom
Westen nicht wahrgenommen (siehe IMI-Analyse 2019/25). Das außerdem kurz
vor Gipfelbeginn einmal mehr unterbreitete russische Angebot für ein
Moratorium für die Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen in
Europa wurde in der Abschlusserklärung erneut mit den Worten, dies sei
„nicht glaubwürdig und nicht akzeptabel“ abgelehnt (para. 46). Einer der
wenigen Lichtblicke ist die klare Absage an die Stationierung atomarer
Mittelstreckenraketen, für die es „keinen Plan“ gäbe (para. 26).
Allerdings lässt man mit diesem schon länger verwendeten Sprachgebrauch
vermutlich bewusst die Türe offen, konventionelle Mittelstreckenraketen
aufzustellen.
Ein letzter Punkt ist überaus auffällig, nämlich dass nun auch
sogenannte Hybride Angriffe unterhalb der Schwelle klassischer
Kriegshandlungen als mögliche Auslöser eines Bündnisfalles eingestuft
werden (para. 31). Vor allem Russland wird häufig solcherlei hybrider
Kriegsführung beschuldigt. Der Begriff selbst ist allerdings überaus
schwammig und häufig dazugezählte Elemente lassen sich nur schwer bis
überhaupt nicht eindeutig einem Staat zuordnen, was es umso
problematischer macht, sie in den Bereich zwischenstaatlicher
Kriegshandlungen zu rücken (siehe IMI-Studie 2017/13). Doch genau dies
geschieht in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels, wie Augengeradeaus
schreibt: „Sowohl ein hybrider Angriff als auch ein massiver Angriff auf
IT- und Kommunikationssysteme, also ein Cyberangriff, wird von den
NATO-Mitgliedern als möglicher Bündnisfall gesehen – der dann auch mit
konventionellen Waffen beantwortet werden könnte“.
Ohne dass man jede Aktion Russlands schönreden muss, der Alarmismus, den
die NATO auf ihrem Gipfeltreffen an den Tag legte, ist fast schon
lächerlich – oder ein Fall für den Rechnungshof. Die kurz vor dem
Gipfeltreffen noch einmal aktualisierten hauseigenen Schätzungen gehen
für das Jahr 2021 von Militärausgaben der NATO-Mitgliedsstaaten von
zusammengenommen 1.174 Mrd. Dollar aus – Russland brachte es 2020 gerade
einmal auf 61,7 Mrd. Dollar!
China: Geografisch-technologische Systemkonkurrenz
Auch China wird in der Abschlusserklärung Beachtung geschenkt –
allerdings nimmt es deutlich weniger Raum ein als Russland. Andererseits
spielte das Land im bislang letzten Strategischen Konzept von 2010 noch
überhaupt keine Rolle und auch in früheren Gipfelerklärungen fand es
allenfalls am Rande Erwähnung – das jedenfalls ist nun auch vorbei: „Die
selbsterklärten Ambitionen Chinas und sein bestimmtes Auftreten stellen
systemische Herausforderungen der regelbasierten internationalen Ordnung
und in Gegenden dar, die für die Sicherheit der Allianz wichtig sind.“
(para. 55)
Diese Systemkonkurrenz wird inzwischen auf allen möglichen Ebenen
ausgetragen, militärisch legt die NATO vor allem Wert auf den Erhalt
ihrer technologischen Vorherrschaft: „Wir sind entschlossen, unseren
technologischen Vorsprung zu bewahren“ (para. 37). Hier geht es vor
allem darum, Forschung in Bereichen neuer Technologien, insbesondere der
Künstlichen Intelligenz, zu fördern und für das Militär nutzbar zu
machen. Hierfür habe man sich auf einen NATO Innovation Fund
verständigt, mit dem Start-ups, die an dual-use und disruptiven
Technologien arbeiten, unterstützt werden sollen (para. 6d). Die immense
Abhängigkeit neuer Technologien von Satelliten dürfte dabei mit ein
Grund sein, weshalb die NATO auf dem Gipfeltreffen auch den Weltraum zum
Beistandsgebiet erklärte (para. 33). Ein Beispiel dafür, wie dies in den
Medien berichtet wurde, findet sich bei tagesschau.de: „Darüber hinaus
beschloss der Gipfel, dass auch Angriffe im Weltraum die
Beistandsklausel nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrages auslösen
können. Hier ist das Bündnis schon länger besorgt, dass China und
Russland, aber auch andere Länder Möglichkeiten zur Beeinträchtigung
oder gar Zerstörung von Satelliten getestet haben.“ Der Artikel
„versäumt“ es zu erwähnen, dass es Russland und China sind, die seit
Jahren den Westen vergeblich auffordern, den Vertrag zur Verhinderung
eines Wettrüstens im Weltraum (PAROS, „Prevention of an Arms Race in
Outer Space“) zu unterzeichnen, der eine Stationierung von Waffen im All
kategorisch verbieten würde (siehe IMI-Analyse 2019/22). Insofern ist
dieses Beispiel tatsächlich typisch für die Einseitigkeit, mit der die
erklärten Systemkonkurrenten in den deutschen Medien zumeist beschrieben
werden.
Geografisch liegt der Schwerpunkt auf der sogenannten indopazifischen
Region. Dort haben vor allem die USA, Großbritannien und Frankreich ihre
Militärpräsenz mit dem Ziel einer Eindämmung Chinas deutlich ausgebaut –
und auch Deutschland will im August eine Fregatte dorthin entsenden
(siehe IMI-Analyse 2020/19). Interessanterweise wurde im
Abschlussdokument des Gipfels der Begriff Indo-Pazifik vermieden, der
gemeinhin im Zusammenhang westlicher Eindämmungsversuche gegen China
Verwendung findet (siehe dazu etwa SWP-Studie 2020/S09). Stattdessen ist
die Rede davon, man werde künftig enger mit den „asiatisch-pazifischen
Partnern“ bei der „Förderung kooperativer Sicherheit und der
Unterstützung der regelbasierten Ordnung“ zusammenarbeiten (para. 73).
Was das genau bedeuten soll, bleibt aber im Dunkeln bzw. dürfte wohl
erst im nächsten Strategischen Konzept klarer werden. Damit folgt die
NATO aber in etwa einem Weg, den zum Beispiel vom ehemaligen Leiter der
Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Karl-Heinz Kamp, mit seiner
Forderung nach einem größeren Militärengagement der NATO in Ostasien
bereits vor einiger Zeit skizziert hatte. In Sirius - Zeitschrift für
Strategische Analysen schrieb er: „Will die NATO nicht einen großen Teil
ihrer Existenzberechtigung verlieren, wird sie ihre geografische
Orientierung ebenfalls deutlich ändern und ausweiten müssen. […] Eine
Hinwendung der Nordatlantischen Allianz in Richtung Asien könnte sich in
mehreren Stufen und Intensitäten gestalten. Der erste Schritt wäre, dass
die NATO mehr Interesse an der Region zeigen und auch als Allianz die
Entwicklungen im asiatisch-pazifischen Raum zur Kenntnis nehmen würde.
[…] Ein zweiter Schritt würde eine deutlich größere Bereitschaft Europas
zu einer fairen Lastenteilung mit den USA hinsichtlich Asien erfordern.
[…] Langfristig werden die großen europäischen Staaten allerdings,
sofern sich der chinesisch-amerikanische Bilateralismus realisiert,
nicht umhinkommen, in einem dritten Schritt ihrerseits Fähigkeiten zur
weitreichenden Machtprojektion vor allem im maritimen Bereich
aufzubauen. Das gilt nicht nur aus der Perspektive der NATO, sondern
auch aus der Sicht der EU, wenn diese ihrem eigenen Anspruch des ‚global
Player‘ gerecht werden will.“
Schritt eins ist nun mit dem Gipfeltreffen getan, die Schritte zwei und
drei sind in Bearbeitung.
NATO 2030: Geldagenda & Strategisches Konzept
Ungeachtet der riesigen Summen, die die Einzelstaaten in ihre Haushalte
pumpen, stehen der NATO selber nur vergleichsweise überschaubare Beträge
zur Verfügung: 1,55 Mrd. Euro (Militärhaushalt 2020) und 211 Mio. Euro
(Zivilhaushalt 2020). Schon im Vorfeld des Gipfels hieß es, man habe
sich auf eine Aufstockung der Eigenmittel verständigt, was dann auch in
der Abschlusserklärung bestätigt wurde. Allerdings ist unklar, um welche
Beträge es hier gehen soll, das soll erst 2022 festgelegt werden und ab
2023 in Kraft treten (para. 7).
Um riesige Summen dürfte es dabei aber ohnehin nicht gehen, wirklich an
die Substanz geht es nämlich nicht bei den Eigenmitteln, sondern bei den
Ausgaben der Mitgliedsstaaten. Zankapfel ist hier seit Jahren das sog.
„Verteidigungsinvestitionsversprechen“ (Defence Invstment Pledge) aus
dem Jahr 2014. Aus US-Sicht haben sich die Verbündeten darin darauf
verpflichtet, ihre Ausgaben bis 2024 auf 2 Prozent des
Bruttoinlandsproduktes anzuheben. Zufrieden notiert hier die
Abschlusserklärung des NATO-Gipfels, seit 2014 seien die Militärausgaben
der US-Verbündeten jedes Jahr real angestiegen, 10 Staaten würden
bereits in diesem Jahr über dem 2%-Ziel liegen, voraussichtlich zwei
Drittel dürften es 2024 sein (para. 35). Deutschland liegt mit Ausgaben
von 1,53 Prozent (nach NATO-Kriterien) aktuell auf Platz 19, wie
interessierte Kreise vor und nach dem Gipfeltreffen nicht müde wurden zu
betonen. Um die Auswirkungen zu verdeutlichen: der offizielle Haushalt
belief sich im Jahr 2020 auf 45,2 Mrd. Euro, bei Umsetzung des 2%-Ziels
wären es 66,8 Mrd. Euro gewesen. Obwohl dieses Geld dringend für
allerlei andere Dinge benötigt wird, schmiss sich nun auch
CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet kurz vor dem Gipfel hinter das
2%-Ziel. Bei tagesschau.de hieß es dazu: „Laschet bekräftigte zudem
seine Unterstützung für das Zwei-Prozent-Ziel, mit dem sich die
NATO-Staaten verpflichtet haben, darauf hinzuarbeiten, dass sie zwei
Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. ‚Wenn wir
international etwas verabredet haben, sollte man sich auch daran halten‘.“
Eine letzte wichtige Entscheidung auf dem Gipfeltreffen betrifft das
Strategische Konzept der NATO, mit dessen Aktualisierung der
Generalsekretär beauftragt wurde. Es soll auf dem nächsten NATO-Gipfel
voraussichtlich 2022 angenommen werden und dürfte viele Aspekte der
Systemkonkurrenz vertiefen und verschärfen. Das zumindest steht zu
befürchten, nachdem auf dem Gipfeltreffen zugestimmt wurde, dass das
Papier „NATO 2030: United for a New Era“ hierfür als Vorlage dienen
soll, in dem der erklärten Systemkonkurrenz große Bedeutung beigemessen
wird (para. 5). Dabei handelt es sich um ein von einer vom
NATO-Generalsekretär handverlesenen ExpertInnengruppe verfasstes
Dokument, an dem unter anderem auch Ex-Verteidigungsminister Thomas de
Maizière federführend beteiligt war (siehe IMI-Analyse 2020/44). Schon
bei seiner Erstellung war es als Vorlage für eine künftige
NATO-Strategie gedacht, da das alte Konzept von 2010 noch unter dem
Eindruck halbwegs freundschaftlicher Beziehungen zu Russland und ganz
ohne Erwähnung Chinas abgefasst worden war. Indem das NATO-2030-Papier
zur Richtschnur erklärt wurde, dürfte sichergestellt sein, dass sich
dies in der Neuauflage ändern dürfte: „Die Welt der NATO wird in den
nächsten 10 Jahren anders sein als die, die sie sowohl während des
Kalten Krieges als auch in den Jahrzehnten unmittelbar danach bewohnte.
Sie wird eine Welt konkurrierender Großmächte sein, in der aggressive
autoritäre Staaten mit revisionistischen außenpolitischen Agenden darauf
abzielen, ihre Macht und ihren Einfluss auszuweiten.“
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