[IMI-List] [0589] Analyse: Heimatschutztruppe / Studie FCAS / Neue Artikel
IMI-JW
imi at imi-online.de
Mi Mai 12 14:44:05 CEST 2021
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0589 .......... 24. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
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Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) Eine Analyse zur Eurodrohne und eine neue Studie zum
Kampfflugzeugsystem FCAS;
2.) eine soeben erschienene IMI-Analyse zur neuen Heimatschutztruppe der
Bundeswehr;
3.) Hinweise auf zahlreiche weitere neue Artikel (Drohnen in Karabach,
Tschad…).
1.) Eurodohne & FCAS
Seit der letzten IMI-List ist einiges geschehen – unter anderem hat der
Bundestag leider die Gelder für den Bau der Eurokampfdrohne bewilligt,
weshalb wir unsere diesbezügliche Analyse auf einen aktuellen Stand
gebracht haben:
IMI-Standpunkt 2021/015b (Update: 12.5.2021)
Eurodrohne: Milliardengrab mit Ansage beschlossen
http://www.imi-online.de/2021/04/14/berg-karabach-und-der-erste-echte-drohnenkrieg/
Jürgen Wagner (14. April 2021)
Nach dem Rüstungsprojekt ist vor dem Rüstungsprojekt: Spätestens wohl am
23. Juni sollen die Gelder für die nächste Phase des derzeit wichtigsten
Rüstungsprojektes Future Combat Air System durch den Bundestag bewilligt
werden. Dazu wurde eine ausführliche IMi-Studie veröffentlicht:
IMI-Studie 2021/4
Future Combat Air System
Das größte Rüstungsprojekt Europas
http://www.imi-online.de/2021/04/16/future-combat-air-system/
Jürgen Wagner (16. April 2021)
INHALTSVERZEICHNIS
Atomares KI-Luftkampfsystem
Meilenstein: Aus Millionen werden Milliarden
Schlüsselprojekt in deutsch-französischer Hand
Tempest-Konkurrenz
French Combat Air System?
Deutschland liefert I: Freie Bahn für Rüstungsexporte
Deutschland liefert II: Entwicklung von Kampfdrohnen
Deutschland liefert III: Die Sache mit der Ethik
Deutschland liefert IV: Outsourcing der Rüstungskosten?
Ausblick: Nach der Wahl
http://www.imi-online.de/2021/04/16/future-combat-air-system/
2.) IMI-Analyse zur neuen Bundeswehr-Heimatschutztruppe
IMI-Analyse 2021/22
Reserve für die Heimatfront
Freiwilliger Wehrdienst im Heimatschutz
http://www.imi-online.de/2021/05/12/reserve-fuer-die-heimatfront/
Martin Kirsch (12. Mai 2021)
Auf einer Pressekonferenz am 6. April 2021 verkündete
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer feierlich den Start des neuen
„Freiwilligen Wehrdienstes im Heimatschutz“ mit dem zusätzlichen
Werbeslogan „Dein Jahr für Deutschland“. In diesem Kontext ließ sie
verlautbaren: „Heimat ist für mich und für viele andere Menschen in
Deutschland mehr als nur ein Ort, es ist ein Gefühl, etwas was man im
Herzen trägt“.[1] Die militärische Perspektive ist deutlich nüchterner.
In einem nicht zufällig im selben Monat auf dem Youtube-Kanal der
Bundeswehr veröffentlichten Video mit Filmausschnitten einer
Heimatschutzübung der Bundeswehr von 1976 heißt es: “Heimat, das
bedeutet nicht nur Freunde, Familie, die Landschaft, in der man
aufgewachsen ist. Heimat, das sind auch Fabriken, Nachrichtenanlagen,
Straßen, Brücken – kurz all das, was man mit dem neudeutschen Wort
Infrastruktur bezeichnet“.[2]
So soll auch die neue Heimatschutztruppe der Bundeswehr nicht primär
Gefühle, Landschaften, Freund*innen und Familie, sondern eben diese
kriegswichtige Produktions-, Kommunikations- und Verkehrsinfrastruktur
im Kriegsfall schützen.
In Skandinavien, den baltischen Staaten und in Polen wurden die
Heimwehren, Nationalgarden und Territorialverteidigungseinheiten im Zuge
der Aufrüstungspolitik der letzten Jahre längst reaktiviert oder
aufgestockt. Reservist*innen üben die Sicherung von Infrastruktur und
Verkehrswegen, um im Fall der Fälle den Kampftruppen auf ihrem Weg zur
Front den Rücken freihalten zu können.
Seit Anfang April 2021 sind auch bei der Bundeswehr wieder Rekrut*innen
in die Kasernen eingerückt, um sich explizit für den Reservedienst im
Heimatschutz ausbilden zu lassen. Vorerst als einjähriges Pilotprojekt
soll mit dem Freiwilligen Wehrdienst (FWD) im Heimatschutz das Personal
gewonnen werden, um eine neue Heimatschutztruppe aufzubauen.
Freiwilliger Wehrdienst im Heimatschutz
Der neue Freiwillige Wehrdienst im Heimatschutz ist formal auf ein Jahr
ausgelegt und besteht aus sieben Monaten Ausbildung in der aktiven
Truppe und fünf Monaten Reservedienst – die allerdings über sechs Jahre
verteilt werden. Im Gegensatz zum bisherigen Freiwilligen Wehrdienst,
der neun bis einundzwanzig Monate dauert, nach der Grundausbildung in
der aktiven Truppe stattfindet und Auslandseinsätze mit einschließen
kann, dient der Heimatschutzdienst in der ersten Phase ausschließlich
als Ausbildung für den späteren Reservedienst.
Zum Beginn der sieben Monate Ausbildung in der aktiven Truppe
durchlaufen die Heimatschutzrekrut*innen die dreimonatige
Grundausbildung gemeinsam mit angehenden Zeit- und Berufssoldat*innen.
Danach trennen sich die Wege. Während die angehenden Soldat*innen in
ihrer Spezialgrundausbildung auf den späteren Dienst auf einem Schiff,
in einem Panzer, an einem Flugzeug oder in einem Krankenhaus vorbereitet
werden, dreht sich bei den künftigen Reservist*innen alles um
Heimatschutz. In drei eigens kurzfristig eingerichteten
Ausbildungsstützpunkten in Wildflecken, Berlin und Delmenhorst werden
die Rekrut*innen für den Objektschutz sowie in den Bereichen
Sanitätsdienst, ABC-Abwehr und Brandschutz geschult.[3] Darin
inbegriffen ist die Ausbildung an Infanteriewaffen wie Pistole,
Sturmgewehr und Panzerfaust. In einem letzten Ausbildungsabschnitt im
siebten Monat lernen die angehenden Heimatschützer*innen unter Aufsicht
des zuständigen Landeskommandos die lokalen Gegebenheiten und die
Heimatschutzkompanie kennen, in der sie später als Reservist*in
zugeteilt werden. Nach sieben Monaten verlassen sie die Kasernen und
kehren als frisch ausgebildete Reservist*innen ins Zivilleben zurück.
Für die folgenden sechs Jahre haben sie sich allerdings verpflichtet,
insgesamt mindestens fünf Monate für kleinere Übungen und Einsätze in
der Heimatschutztruppe zur Verfügung zu stehen.[4] Bis April 2022 sollen
insgesamt 1.000 angehende Heimatschützer*innen dieses Programm
durchlaufen haben. Die Ergebnisse werden dann ausgewertet und für
künftige Ausbildungsjahrgänge weiter angepasst.
Ein Schnupperkurs bei der Bundeswehr
Seit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht 2011 kämpft die
Bundeswehr mit Rekrutierungsproblemen. So sanken auch die Zahlen der
freiwillig Wehrdienstleistenden über die Jahre. Während 2013 noch rund
12.000 Freiwillige ihren Wehrdienst bei der Bundeswehr ableisteten, sank
diese Zahl auf rund 9.000 in 2020. Damit blieben gut ein Viertel der im
Bundeshaushalt vorgesehenen und finanzierten 12.500 Stellen[5]
unbesetzt. Die Einführung des neuen FWD im Heimatschutz erfüllt daher
mindestens eine Doppelfunktion für die Bundeswehr. Offensichtlich geht
es darum, neues Personal für die Reserve-Heimatschutztruppe zu gewinnen.
Zudem gilt der FWD auch als Schnupperkurs für diejenigen, die sich
aufgrund der hohen Einstiegshürden nicht gleich für Jahre und Jahrzehnte
verpflichten wollen, der Idee aber nicht grundsätzlich nicht abgeneigt
sind. Laut dem scheidenden Staatssekretär im Verteidigungsministerium,
Peter Tauber, handelt es sich um den Versuch, eine spezifische Gruppe
Jugendlicher zu erreichen, die ein generelles Interesse an der
Bundeswehr haben, sich aber von längeren Verpflichtungszeiten,
Dienstorten fern des Wohnortes und der Option, in Auslandseinsätze
geschickt zu werden, abschrecken lassen. Eben diese Gruppe, die es wohl
häufiger bis ins Karrierecenter der Bundeswehr schafft, dann aber für
keine der bisherigen Optionen zu gewinnen war, soll jetzt erreicht
werden.[6]
Massive Kritik an eben dieser Rekrutierungspolitik kommt von den
Sozialverbänden. So meldeten sich im Sommer 2020 die Vorsitzenden des
Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der Caritas und der Arbeiterwohlfahrt
zu Wort und bezeichneten das Missverhältnis von Finanzierung und Werbung
für den Bundeswehrdienst und die zivilen Freiwilligendienste als „große
Ungerechtigkeit“.[7] Während die zivilen Freiwilligendienste mit 130 bis
411 Euro Taschengeld und kaum Ressourcen für Aus- und Fortbildung als
massiv unterfinanziert gelten, wird den freiwillig Wehrdienstleistenden
im Heimatschutz mit 1.550 Euro Sold und freien Bahnfahrten der Dienst
vergoldet – Budget für Werbekampagnen, Aus- und Fortbildung nicht
einberechnet.
“Wo ist die Wertschätzung für die Arbeit, die unsere Freiwilligen im
sozialen und ökologischen Bereich leisten?“ fragt Ulrich Schneider,
Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und
veranschaulicht die ungleiche Behandlung mit einem Beispiel: „Menschen,
die freiwillig in der Pflege, Alten- oder Behindertenhilfe arbeiten,
bekommen nicht mal ihr S-Bahn-Ticket ersetzt”.
Grundlegende Kritik an der Verwendung der Bezeichnung als
Freiwilligendienst kam von Caritas und Arbeiterwohlfahrt. So kritisierte
Caritas-Chef Peter Neher: „Die Bundeswehr sollte es als das bezeichnen,
was es ist: Es ist eine Art Schnupperkurs für die Bundeswehr.
Freiwilligendienste sind das Vorrecht der Zivilgesellschaft und nicht
des Staates.“[8]
Heimatschutz: zwischen konservativem Populismus und Rechtsterrorismus
Ebenfalls bereits im Sommer 2020 wurde Kritik aus der Partei Die Linke
am neuen Heimatschutzdienst laut. Neben der Ablehnung der Rekrutierung
Minderjähriger – unter den ersten 1.800 Bewerber*innen war fast ein
Viertel unter 18 Jahre alt – nahm die Kritik der Linken den Begriff
Heimatschutz und dessen Implikationen in den Blick.
Der damalige Vorsitzende der Partei, Riexinger, kritisierte etwa
gegenüber dem Spiegel: "Faschisten verwenden ihn seit je her gern für
Nazi-Kameradschaften, 'Bürgerwehren' und paramilitärische Einheiten. Ich
erinnere nur an den 'Thüringer Heimatschutz', der auch die
NSU-Terroristen hervorgebracht hat".[9] Der verteidigungspolitischen
Sprecher der Linken, Tobias Pflüger, ging weiter darauf ein, wer von
Begriffen wie Heimatschutz und Dienst für Deutschland angezogen wird:
„Mit dieser Wortwahl riskiert die Bundeswehr, speziell rechte Kreise
anzuziehen. Zumal gerade für rechte Kreise eine Ausbildung an der Waffe
attraktiv ist. Der neue Dienst darf nicht dazu führen, dass nun noch
mehr rechtslastige Akteure an scharfen Waffen ausgebildet werden.”[10]
Erst kürzlich wurde bekannt, dass der Militärgeheimdienst MAD 1.200
Reservist*innen als „Rechtsextremisten“ eingestuft hat. Dieser Gruppe
wird jetzt der Dienst an der Waffe und das Tragen der Uniform und damit
die Teilnahme an Reserveübungen verboten.[11]
Dass auch die Reserve der Bundeswehr und die RSU-Kompanien – die
Vorgänger der künftigen Heimatschutzverbände (s.u.) – ein deutliches
Problem mit rechten bis rechtsterroristischen Strukturen haben, zeigen
die Enthüllungen der letzten Jahre deutlich auf. So fiel der Fokus im
Rahmen der Aufdeckung des Hannibal-Netzwerks auch auf die Gruppe
Nordkreuz aus Mecklenburg-Vorpommern. Dort hatten sich Polizisten und
aktive Reservisten in Chatgruppen organisiert, um an einem Tag X
politische Gegner*innen massenhaft zu entführen und umzubringen. Bei
Durchsuchungen wurden neben Feindeslisten, Waffen- und Munitionslagern
auch Chatprotokolle gefunden, in denen sich darüber ausgetauscht wird,
an besagtem Tag X Bundeswehrfahrzeuge und Uniformen zu benutzen. Den
Zugang dazu hatten sie.[12] Ein Mitglied der Gruppe, Horst S., war zu
diesem Zeitpunkt Kommandeur der RSU-Kompanie Mecklenburg-Vorpommern.
Zudem hatten weitere Mitglieder der Gruppe über ihren Reservistenstatus
Zugang zu Kriegswaffen, Schieß- und Taktiktrainings der Bundeswehr.
Als Replik auf diese Kritik antwortete Verteidigungsministerin
Kramp-Karrenbauer Anfang April 2021 mit einer besonderen Spielart des
konservativen Populismus. So ließ sie verlauten: „Wir haben diesen
Dienst bewusst Heimat und Heimatschutz genannt“ und führte weiter aus:
„Ein Fehler war es, dass wir in der Vergangenheit den Begriff Heimat,
der uns allen am Herzen liegt, einfach den Rechten in diesem Land
überlassen zu haben“. „Es wird Zeit, dass wir diesen Begriff wieder in
die demokratische Mitte holen und dass wir ihn zurückerobern, wenn sie
so wollen“. Zudem sei es die Bundeswehr, die sich dazu verpflichtet
habe, die „Heimat Bundesrepublik Deutschland“ und die damit
einhergehenden Werte „Freiheit, Demokratie und Vielfalt“ zu beschützen.[13]
Dabei handelt es sich allerdings um einen durchsichtigen Versuch, sich
einerseits von Rechten und Neonazis abzugrenzen, andererseits aber die
konservativsten Ränder von Parteibasis und Wählerschaft anzusprechen,
die sich - nicht nur im Vokabular - mit dem rechten Rand überschneiden.
Diese Form der gleichzeitigen Abgrenzung und Anbiederung nach Rechts
führt allerdings, abgesehen von der Option auf kurzfristige
Stimmgewinne, zu einer Normalisierung des rechten Diskurses.
Erschreckendes Beispiel dafür ist die Debatte um Flucht und Migration in
den 1990er Jahren.
Mit Pilotprojekten zur neuen Heimatschutztruppe
Bereits 2012, nur fünf Jahre nach der Auflösung der letzten Einheiten
des ehemaligen Territorialheers, wurde mit einem ersten Pilotprojekt
begonnen, an einer neuen Heimatschutztruppe – wenn auch unter anderem
Namen – zu arbeiten.[14] Die damals als Pilotprojekt neuen aufgestellten
sogenannten Regionalen Sicherungs- und Unterstützungskompanien
(RSU-Kompanien), bestehend aus Reservist*innen aus der Region, werden
jetzt die Startmasse für die neuen Heimatschutzregimenter bilden.
Da es die 30 RSU-Kompanien in vielen Regionen allerdings nicht
schafften, genügend Reservist*innen zu rekrutieren, wurde 2017 unter
Federführung des Reservistenverbandes mit der Erprobung von Kursen für
Quereinsteiger*innen begonnen. Durch eine zweijährige
Wochenendausbildung können berufserfahrene Interessierte, die zuvor
keinen Wehrdienst geleistet hatten, seitdem mit einer Art
„Grundausbildung Light“ in den aktiven Reservedienst in den
RSU-Kompanien aufgenommen werden.[15]
Im Dezember 2018 wurde ein weiteres Pilotprojekt ins Leben gerufen:
Zwischen April 2019 und Dezember 2021 wird mit dem Landesregiment Bayern
getestet, in welchen Strukturen die bisherigen RSU-Kompanien zu
eigenständigen Großverbänden zusammengeführt werden können, die dann in
der Lage sein sollen, unabhängig von der aktiven Truppe zu agieren.[16]
Aufbauend auf den Erfahrungen und mit dem Personal aus diesen drei
Pilotprojekten - aufgestockt durch die neuen Heimatschützer*innen aus
dem Freiwilligen Wehrdienst - soll jetzt die neue Heimatschutztruppe der
Bundeswehr entstehen. Bis 2025 ist geplant, die Einsatzbereitschaft von
fünf Heimatschutzregimentern mit insgesamt 5.000 Reservist*innen
herzustellen.[17] Bewähren sich die Strukturen in dieser Aufbauphase,
ist davon auszugehen, dass die Heimatschutztruppe der Bundeswehr bis
Anfang der 2030er Jahre auf deutlich über 10.000 Reservist*innen
anwachsen wird.
Regimenter an der Heimatfront
Der Begriff Heimatschutz ist bei der Bundeswehr kein unbekannter und
wurde nicht erst von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer für
dieses Aufgabenfeld gewählt.
Bereits von den 1960er bis Mitte der 2000er Jahre existierte ein
Territorialheer für den Heimatschutz in der Bundeswehr. Nach der
Aufbauphase standen in den 1970er Jahren bereits über 100.000
Reservisten und wenige aktive Soldaten in den Heimatschutzverbänden
bereit. Größtenteils bestehend aus ehemaligen Wehrdienstleistenden wäre
es der Auftrag des Territorialheeres gewesen, den Kampftruppen des
Feldheeres unter NATO-Kommando den Rücken frei zu halten. Nach Ende des
Kalten Krieges wurde das Territorialheer zwischen 1992 und 2007
schrittweise aufgelöst.
Mit den aktuellen Beschlüssen zur Wiederherstellung einer voll
funktionsfähigen Heimatschutztruppe stellt sich allerdings die Frage,
welche Aufgaben aktuell für den Heimatschutz vorgesehen sind. Drei
zentrale Handlungsfelder des neuen Heimatschutzes der Bundeswehr werden
in einer aktuellen Broschüre des Verteidigungsministeriums zum FWD im
Heimatschutz benannt.[18]
Das erste Aufgabenfeld, das auch die Struktur und Ausbildung der
Heimatschutzkräfte bestimmt, erinnert dabei stark an den letzten Kalten
Krieg: „In Krisenlagen müssen sich die Heimatschutzkräfte darauf
einstellen, die für die Verteidigung wichtige Infrastruktur in
Deutschland als rückwärtigem Raum einer möglichen Bündnisverteidigung zu
sichern und zu schützen. Dazu zählen beispielsweise Häfen und
Bahnanlagen, Güterumschlagplätze, die NATO-Pipeline, Marschstraßen,
Brücken, Verkehrsknotenpunkte und digitale Infrastrukturen.
Aufmarschierende Verbände der Bundeswehr und auch befreundeter
Streitkräfte, die sich für einen Transfer in die Einsatzräume zeitlich
befristet in Deutschland aufhalten, können ebenfalls geschützt werden“.[19]
Weiter heißt es: „Angesichts heute vorstellbarer hybrider Bedrohungen
gilt es hier, sich auch auf verdeckt operierende irreguläre
Gruppierungen einzustellen. Die Heimatschutzkräfte werden daher mit
Infanteriewaffen ausgestattet sein und z.B. über Mittel zur lokalen
Aufklärung verfügen“. In besagtem Filmchen über eine Heimatschutzübung
aus dem Jahr 1976, tauchen die nahezu gleichen Aufgaben, allerdings mit
älterem Vokabular und damit vielleicht klarer auf: „Im Hinterland
operiert der Gegner häufig mit den Mitteln des verdeckten Kampfes. Daher
ist die wichtigste Aufgabe eines Spähtrupps, feindliche Kommandos und
Partisanen ausfindig zu machen und ihren Standort dem
Kompaniegefechtsstand zu melden“.[20]
Diese Aufgabe an der Heimatfront, im Hinterland der Kampftruppen,
schlägt auch den Bogen zu den zwei weiteren Aufgabenfeldern. Kommt es in
Friedenszeiten zu Naturkatastrophen oder Großunfällen wie Hochwasser,
extremen Schneefällen, einem Zugunglück oder einer Pandemie, konnten
bereits die alten und werden auch die neuen Heimatschutzverbände zur
Unterstützung für den zivilen Katastrophenschutz eingesetzt werden
können. Bei Übungen und Einsätzen mit dem zivilen Katastrophenschutz
knüpfen die Kommandostrukturen der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit
auf Bundes- und Länderebene und die Heimatschutz-Reserve vor Ort
Kontakte und pflegen den Austausch. Diese direkte Zusammenarbeit nutzt
ihnen dann nicht nur im Kriegsfall oder bei Naturkatastrophen.
Auch für das dritte mögliche Einsatzspektrum, den Einsatz gegen Feinde
im Inneren, sind diese Kontakte und die Normalisierung der Bundeswehr
als Akteur im Inland für die Truppe von Vorteil. Bei diesen
Einsatzoptionen handelt es sich um die Ausrufung des Inneren Notstandes
oder die explizit vom Verteidigungsministerium erwähnte Option, die neue
Heimatschutztruppe gemeinsam mit der Polizei zur Terrorabwehr im Inland
einzusetzen. So wird in der besagten Broschüre auch die „Unterstützung
von Polizeikräften in Terrorlagen beim Einrichten von Kontrollpunkten
und Durchführen von Absicherungsmaßnahmen“ als möglicher Aufgabenbereich
der Heimatschutzkräfte benannt. Zur Rechtsinterpretation heißt es
weiter: „Sind die Voraussetzungen eines katastrophischen Ausmaßes
gegeben, können - unter Führung der Polizei - hoheitliche Zwangs- und
Eingriffsbefugnisse wahrgenommen werden“. Damit reiht sich die
Aufgabenbeschreibung der neuen Heimatschutztruppe in eine Reihe von
Vorstößen aus der CDU/CSU ein, die seit Jahren versucht die Bundeswehr
an den äußersten Grenzen der Verfassung aktiver in der Terrorabwehr im
Inland einzubinden.
Ob aus bürgerrechtlicher Perspektive mit Blick auf die Ausweitung der
Fähigkeiten und Kompetenzen der Bundeswehr im Inland, aus
antifaschistischer Perspektive mit Blick auf neue Zugänge zu Strukturen
und Waffen der Bundeswehr für rechtes Klientel oder aus
friedenspolitischer Perspektive mit Blick auf Rekrutierung und die
Rückkehr zu Strukturen aus dem letzten Kalten Krieg: die Wiederbelebung
des Heimatschutzes der Bundeswehr ist ein deutlicher Beleg dafür, dass
autoritäre Tendenzen in der Innenpolitik und die aktuelle
Aufrüstungspolitik kaum voneinander zu trennen sind.
Anmerkungen
[1] Bundesministerium der Verteidigung: Heimatschutz - Neuer
freiwilliger Wehrdienst gestartet, 06.04.2021, bmvg.de.
[2] Bundeswehr: CLASSIX - Übung der Heimatschutztruppe (1976),
30.04.2021, youtube.com.
[3] Phoenix: Pressekonferenz mit Annegret Kramp-Karrenbauer zum neuen
Freiwilligen Wehrdienst am 06.04.21, youtube.com.
[4] Bundesministerium der Verteidigung: Heimatschutz in Deutschland -
Zum Start des neuen Freiwilligen Wehrdienstes, Broschüre, März 2021,
bundeswehr.de.
[5] Bundesfinanzministerium: Bundeshaushaltsplan 2021 - Einzelplan 14 -
Bundesministerium der Verteidigung, Seite 21, bundeshaushalt.de.
[6] Phoenix: "Dein Jahr für Deutschland" - AKK stellt neuen
Bundeswehr-Freiwilligendienst vor, 23. Juli 2021, youtube.com.
[7] Redaktionsnetzwerk Deutschland: Wohlfahrtsverbände kritisieren
Kramp-Karrenbauers neuen Wehrdienst, 23.07.2020, rnd.de.
[8] Deutschlandfunk: Der neue Freiwilligendienst im Heimatschutz,
06.04.2021, deutschlandfunk.de.
[9] Spiegel: Linke kritisiert "Heimatschutz"-Begriff für neuen
Freiwilligendienst, 20.07.2020, spiegel.de.
[10] Die Linke im Bundestag: Die Bundeswehr schwächt zivile
Freiwilligendienste - Pressemitteilung von Tobias Pflüger, 06.04.2021,
linksfraktion.de.
[11] Focus: Bundeswehr-Geheimdienst suft 1200 Reservisten als
rechtsradikal ein, 08.05.2021, focus.de.
[12] Luca Heyer: Der Hannibal-Komplex, IMI-Studie 2019/04 (13.06.2019),
imi-online.de.
[13] Phoenix: Pressekonferenz mit Annegret Kramp-Karrenbauer, 06.04.21.
[14] Martin Kirsch: Der neue Heimatschutz der Bundeswehr, AUSDRUCK
3/2013, imi-online.de.
[15] Reservistenverband – Landesgruppe Brandenburg: Ausbildung
Ungedienter erfolgreich beendet, 14.02.2019, reservisten-brandenburg.de.
[16] Martin Kirsch: Experiment Landesregiment Bayern - „Nationale
Reserve“ als eigenständige Truppe für Inlandseinsätze?, IMI-Analyse
2019/07 (08.02.2013), imi-online.de.
[17] Bundesministerium der Verteidigung: Heimatschutz in Deutschland,
Broschüre, Seite 4, März 2021.
[18] Ebd.
[19] BMVg: Heimatschutz in Deutschland, Broschüre, Seite 5, März 2021.
3.) Neue Texte auf der IMI-Homepage
IMI-Analyse 2021/21 (Update: 11.5.2021)
Globale Ökonomie, Militarisierung und Nachhaltigkeit
http://www.imi-online.de/2021/05/06/globale-oekonomie-militarisierung-und-nachhaltigkeit/
Karl-Heinz Peil (6. Mai 2021)
IMI-Standpunkt 2021/023
Campen mit Komfort
Das Beschaffungsvorhaben „Bewegliche Unterbringung im Einsatz Streitkräfte“
http://www.imi-online.de/2021/05/06/campen-mit-komfort/
Emma Fahr (6. Mai 2021)
IMI-Analyse 2021/20
Tschads Langzeit-Herrscher stirbt, Sohn übernimmt, Frankreich billigt
http://www.imi-online.de/2021/04/29/tschads-langzeit-herrscher-stirbt-sohn-uebernimmt-frankreich-billigt/
Pablo Flock (29. April 2021)
IMI-Standpunkt 2021/022
Flucht aus Afghanistan – Dauereinsatz im Sahel
http://www.imi-online.de/2021/04/27/flucht-aus-afghanistan-dauereinsatz-im-sahel/
Christoph Marischka (27. April 2021)
IMI-Standpunkt 2021/021
Tschad: Machthaber Déby ist tot
http://www.imi-online.de/2021/04/20/tschad-machthaber-deby-ist-tot/
(20. April 2021)
IMI-Standpunkt 2021/020
Repression gegen die Hafenarbeiter*innen in Genua
http://www.imi-online.de/2021/04/20/repression-gegen-die-hafenarbeiterinnen-in-genua/
Jacqueline Andres (20. April 2021)
IMI-Standpunkt 2021/019 (Update 22.4.2021)
Afghanistan: Zeit der Bilanzen
http://www.imi-online.de/2021/04/20/afghanistan-zeit-der-bilanzen/
Jürgen Wagner (20. April 2021)
IMI-Analyse 2021/19 - in: Telepolis, 14.4.2021
Berg-Karabach und der „erste echte Drohnenkrieg“
Europas Anteil und deutsche Konsequenz
http://www.imi-online.de/2021/04/14/berg-karabach-und-der-erste-echte-drohnenkrieg/
Christoph Marischka (14. April 2021)
Mehr Informationen über die Mailingliste IMI-List