[IMI-List] [0560] IMI-Analyse Strategiepapier Stärkung Rüstungsindustrie / Neue Texte
IMI-JW
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Fr Feb 14 14:06:03 CET 2020
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0560 .......... 23. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) Hinweise auf neue IMI-Texte zur Atommacht Europa, zum
Hannibal-Komplex und zur Gemeinnützigkeit;
2.) Eine IMI-Analyse zum „Strategiepapier zur Stärkung der
Verteidigungsindustrie“ sowie zur heute verabschiedeten dazugehörigen
Gesetzesänderung.
1.) Neue Texte auf der IMI-Homepage
Wir arbeiten aktuell mit Hochdruck am Relaunch unseres Magazins
„AUSDRUCK“, insofern war es die letzten Tage ein wenig ruhiger auf der
IMI-Homepage. Einige neue Texte sind aber dennoch erschienen. Zusätzlich
zur neuen Analyse zum „Strategiepapier zur Stärkung der
Rüstungsindustrie“, die sich weiter unten in der Mail findet, sind das:
IMI-Standpunkt 2020/004
Deutschland: Per EU-Umweg zur Atommacht?
Die Debatte über die „Europäisierung“ der Force de Frappe
http://www.imi-online.de/2020/02/13/deutschland-per-eu-umweg-zur-atommacht/
Jürgen Wagner (13. Februar 2020)
IMI-Standpunkt 2020/003 - in: Zeit/Störungsmelder, 4.2.2020
1.800 Euro Strafe für „Hannibal“
http://www.imi-online.de/2020/02/06/1-800-euro-strafe-fuer-hannibal/
Luca Heyer (6. Februar 2020)
Dokumentation - NachDenkSeiten vom 23.01.2020
Wie politisch dürfen gemeinnützige Vereine agieren?
http://www.imi-online.de/2020/02/03/wie-politisch-duerfen-gemeinnuetzige-vereine-agieren/
Rolf Gössner (3. Februar 2020)
Auch die Defender-2020-Analyse wurde noch einmal aktualisiert, nachdem
nun erstmals Aussagen der Bundesregierung zu den Kosten der deutschen
Beteiligung vorliegen (auch wenn die verdächtig gering ausfallen):
IMI-Analyse 2020/02 (Update 13.2.2020)
Großmanöver Defender 2020
Mit Tempo in den Neuen Kalten Krieg
http://www.imi-online.de/2020/01/10/grossmanoever-defender-2020/
Jürgen Wagner (10. Januar 2020)
2.) IMI-Analyse: Strategiepapier zur Stärkung der Rüstungsindustrie
Vorgestern wurde das „Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung
der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ verabschiedet und heute
passierte eine damit verknüpfte Gesetzesänderung die letzte Hürde im
Bundesrat. die folgende IMI-Analyse beschäftigt sich mit Papier und
Gesetz zur Aufpäppelung des deutschen Rüstungssektors [Quellenangaben
als Links auf der Homepage]:
IMI-Analyse 2020/06
Nationaleuropäisches Rüstungsspagat
Das Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie
http://www.imi-online.de/2020/02/14/nationaleuropaeisches-ruestungsspagat/
Jürgen Wagner (14. Februar 2020)
Bei der Vergabe großer Rüstungsaufträge steckt die Bundesregierung
zwischen Baum und Borke: Einerseits ist es das erklärte Ziel über
europaweite Ausschreibungen zu einer „Konsolidierung“ („Bündelung“) des
EU-Rüstungssektors beizutragen. Hierüber sollen größere Auftragsmargen
und damit deutlich geringere Stückpreise erzielt und so eine größere
militärische Schlagkraft pro investiertem Euro generiert werden. Auf der
anderen Seite wird ein solches Verfahren selbstredend überall dort für
besonders problematisch empfunden, wo deutsche Unternehmen keine
marktbeherrschende Stellung innehaben und dementsprechend leer ausgehen
könnten – dahinter stehen allerdings nicht allein industriepolitische
Erwägungen, sondern nicht zuletzt auch das machtpolitische Interesse am
Erhalt einer starken nationalen Rüstungsindustrie.
Die diesbezügliche Debatte nahm besonders im Vorfeld der Vergabe eines
milliardenschweren Auftrags zum Bau von vier Mehrzweckkampfschiffen
(MKS) 180 an Schärfe zu. Obwohl teils recht deutlich vor einem
„Ausverkauf der deutschen Marine-Schiffbaukompetenz“ gewarnt wurde,
wurde der Auftrag europaweit ausgeschrieben und ging dann Mitte Januar
2020 an das niederländisch geführte Konsortium „Damen Shipyards Group“.
Dementsprechend hitzig fielen die Reaktionen der Industrie wie auch von
Teilen der Gewerkschaften und der Politik aus. Diesen Spagat zwischen
nationalen und europäischen „Sachzwängen“ adressiert nun das am 12.
Februar 2020 als Gemeinschaftsproduktion von BMWI, BMVg, BMI, AA und
BMBF veröffentlichte „Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung
der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“.
Das Dokument ist gleich in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Zunächst
einmal betont es zwar den bedarf europaweiter Ausschreibungen, erweitert
aber im gleichen Atemzug die bereits im Vorgänger eingeführten
„Schlüsseltechnologien“ unter anderem um den „Überwasserschiffbau“. Die
entscheidende Neuerung dabei ist, dass dieser Schritt mit einer
Gesetzänderung flankiert wird, die am 14. Februar 2020 abschließend den
Bundesrat passierte und die es ermöglichen soll, besagte
Schlüsseltechnologien künftig vom europäischen Ausschreibungsverfahren
auszuklammern. Außerdem fasst das „Strategiepapier zur Stärkung der
Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“, wie der Name schon andeutet,
die zuvor getrennt behandelten Bereiche der Sicherheits- und
Verteidigungsindustrie unter besonderer Berücksichtigung neuer
Technologien und deren „Wert“ für künftige Militärprojekte zusammen. Und
schließlich geht es dem Papier darum, die „Rahmenbedingungen für
Unternehmen dieser Industrie zu verbessern.“ Ganz vorne auf dem dazu
präsentierten Maßnahmenkatalog heißt es unter anderem, man wolle,
„Exporte politisch flankieren.“
Bei genauerer Betrachtung zeigt sich dabei allerdings, dass es der
Bundesregierung nicht gelingen dürfte, die nationale und die europäische
Ebene auszutarieren. In dem Maße, wie sie sich der einen zuneigt,
verprellt sie die andere.
Protektionistischer Gegenwind
Beim MKS 180 handelt es sich um eines der wirklich großen künftigen
Rüstungsvorhaben: Als Auftragsvolumen sind inzwischen im Bundeshaushalt
5,27 Mrd. Euro vorgesehen, weshalb es nicht verwunderlich war, dass es
aus den Reihen der Politik eine Reihe von Fürsprechern gab, den Auftrag
an ein deutsches Konsortium zu vergeben. So meldete sich Anfang 2020
etwa der FDP-Politiker Hagen Reinhold erbost zu Wort, nachdem im Jahr
zuvor ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) und Lürssen aus dem
Bieterverfahren geworfen worden waren: „Mir ist schleierhaft, wie man
das Konsortium TKMS/Lürssen, einen rein deutschen Bieter, vor
Jahresfrist von der Vergabe ausschließen konnte.“
Nachdem dann im Februar 2020 auch noch „German Naval Yards Kiel“ leer
ausging, schalteten sich umgehend diverse Ministerpräsidenten in die
Debatte ein, wie der militärnahe Blog Augengeradeaus berichtete:
„Mehrere Bundesländer, in denen Schiffe und Zulieferteile für die
Deutsche Marine gebaut werden, haben Bundeskanzlerin Angela Merkel
dringend zu einem politischen Umsteuern aufgefordert: Wie bereits im
Koalitionsvertrag vereinbart, müsse der Marine Überwasserschiffbau
nunmehr umgehend als Schlüsseltechnologie definiert werden, schrieb
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther auch im Namen von
Bayern, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hamburg und
Mecklenburg-Vorpommern an die Kanzlerin.“
Auch die IG Metall Küste machte aus ihrem Unmut über die Entscheidung
(einmal mehr) keinen Hehl. Sie veröffentlichte umgehend nach der
Auftragsvergabe ein „Gemeinsames Positionspapier von IG Metall Küste und
Betriebsräten von Werften und Zulieferern“, das sich mit der „Zukunft
für den Marineschiffbau in Deutschland“ beschäftigte und das auch
„Forderungen an Bundesregierung und Unternehmen“ enthielt. Die
MKS-Vergabeentscheidung wird darin als „Fehlentscheidung“ gegeißelt:
„Keine andere Nation würde bei einem Beschaffungsprojekt solcher
Dimension und Bedeutung so vorgehen und damit Arbeitsplätze und
Standorte sowie die technische Zukunftsfähigkeit der Branche im eigenen
Land in Gefahr bringen. [...] Der Auftrag MKS 180 ist entscheidend für
die Sicherung der Grundauslastung der Werften und den Erhalt einer
leistungsfähigen wehr- und sicherheitstechnischen Industrie in
Deutschland.“
Und auch die Industrie wollte die Entscheidung buchstäblich nicht
klaglos hinnehmen, wie u.a. das Handelsblatt berichtete: „Die
Bundesregierung hat sich mit der Vergabe des Auftrags für den Bau neuer
Fregatten an die niederländische Werftengruppe Damen juristischen Ärger
eingehandelt. Der im Bieterverfahren unterlege Schiffbauer German Naval
Yards (GNY) will den Deal über Gerichte stoppen lassen, wie das
Handelsblatt aus informierten Kreisen erfahren hat.“
Offensichtlich wird die Bundesregierung in dieser Angelegenheit von
diversen einflussreichen nationalen Interessensgruppen erheblich unter
Druck gesetzt – und das „Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits-
und Verteidigungsindustrie“ ist dazu gedacht, dieses Problem zu lösen.
Militärisch-industrieller Spagat
Die 2020er Version des „Strategiepapiers der Bundesregierung zur
Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungsindustrie“ ist nicht die
erste ihrer Art – für die Rüstungsindustrie wurde bereits 2015 ein
entsprechendes Papier veröffentlicht, dem im Jahr darauf ein weiteres
folgte, diesmal mit Fokus auf die „zivile“ Sicherheitsindustrie.
Auch in der aktuellen Variante wird an der „strategischen Bedeutung“ der
heimischen Rüstungs- und Sicherheitsindustrie keine Zweifel gelassen:
„Industrielle Kernfähigkeiten und strategisch relevante
Entwicklungskapazitäten sind am Standort Deutschland und EU zu erhalten
und zu fördern.“ Auf der anderen Seite wird allerdings auch klar
bedauert: „Nicht zuletzt durch die unterschiedlichen nationalen
Anforderungen ist die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie in der EU
nach wie vor national ausgerichtet und stark fragmentiert. Insbesondere
ein Verteidigungsbinnenmarkt ist faktisch noch nicht realisiert.“ Dies
sei ein Problem, denn ein fehlender Rüstungsbinnenmarkt führe zu
„erheblichen Nachteilen in Bezug auf Kosten, internationale
Wettbewerbsfähigkeit und Zusammenarbeit.“
Europaweite Ausschreibungen hätten zur Folge, dass sich – wie in anderen
Sektoren bereits vorexerziert – wenige Großunternehmen herausbilden und
die Unternehmen in den kleinen und mittleren Staaten schlucken würden.
Obwohl vieles dafür spricht, dass derlei Annahmen reichlich optimistisch
sind, versprechen sich EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten von einem
Rüstungsbinnenmarkt mit seinen höheren Auftragsmargen jährliche
Einsparungen von 25 Mrd. bis hin zu 100 Mrd. Euro – die dann in
zusätzliches militärisches Gerät gesteckt werden könnten.
Aus diesem Grund ist auch der Bundesregierung sehr an einem
Rüstungsbinnenmarkt und der damit einhergehenden „Konsolidierung“ des
Sektors gelegen. Im „Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und
Verteidigungsindustrie“ heißt es dazu: „Die Bundesregierung wird daher
durch verschiedene Maßnahmen auf eine verstärkte industrielle
Konsolidierung innerhalb Europas hinwirken und erforderliche Prozesse im
Rahmen ihrer Möglichkeiten unterstützen, um so ökonomische Synergien zu
fördern und Kohärenz zu stärken.“
Bislang ist es möglich, die – an sich obligatorische – Pflicht zu
europaweiten Ausschreibungen im Militärbereich über einen Verweis auf
Artikel 346 des „Vertrags über die Arbeitsweise der EU“ (AEUV) zu
umgehen. Er erlaubt es Aufträge unter Berufung auf zentrale
sicherheitspolitische Bedenken rein national zu vergeben, eine
Möglichkeit, von der die Mitgliedsstaaten rege Gebrauch machen, sodass
bis heute 80 Prozent der europäischen Rüstungsaufträge national bedient
werden.
Die Kommission drängt deshalb auf eine sparsame Anwendung von Artikel
346 AEUV und auch die meisten deutschen Unternehmen sind durchaus darauf
erpicht, dass in Zukunft europaweit ausgeschrieben wird. Sie schätzen
ihre Marktstellung – wohl zu Recht – so ein, dass sie zu den Profiteuren
der hierdurch ausgelösten Fusions- und Übernahmewelle zählen dürften.
Misslich wird das Ganze aber in den Sektoren, in denen die deutschen
Unternehmen nicht oder nur bedingt konkurrenzfähig sind, die aber aus
macht- wie auch industriepolitischen Gründen am Leben gehalten werden
sollen.
Das Strategiepapier versucht dieses Problem nun mit Ansatz zu lösen, das
Ziel sei die „Europäisierung von Rüstungsvorhaben unter Wahrung
nationaler Schlüsseltechnologien.“
Protegierte Schlüsseltechnologien
Der wichtigste Part des Strategiepapiers betrifft den Bereich der
Schlüsseltechnologien, die es zu „schützen“ gelte: „Die Verfügbarkeit
der identifizierten sicherheits- und verteidigungsindustriellen
Schlüsseltechnologien ist aus wesentlichem nationalen
Sicherheitsinteresse zu gewährleisten, abhängig von der Einordnung der
Technologie gegebenenfalls auch im Rahmen von
europäischen/transatlantischen Kooperationen und diesbezüglichen bi- und
multilateralen Vereinbarungen.“
Das Papier führt drei Kategorien ein: Als Global werden Technologien
eingestuft, die keinerlei Beschränkungen unterliegen und problemlos im
Ausland beschafft werden können. Europäisch beinhaltet die „Sicherung
der Technologie in Kooperation mit europäischen Partnern“, schließt also
faktisch selbst manche NATO-Verbündete, insbesondere die USA aus. Sechs
Bereiche fallen hierunter, wobei jeder über Segmente verfügt, die global
und solche die europäisch zugeordnet werden. Genannt werden hier
Handfeuerwaffen, Dreh- und Starrflügler (v.a. Drohnen und
Kampfflugzeuge), ungeschützte Fahrzeuge, ABC-Abwehr,
Flugkörper/Lenkverteidigung sowie IT-/Kommunikationssoftware (siehe Grafik).
Was „Nationale Schlüsseltechnologien“ anbelangt, wurde bereits 2015 eine
erste Liste erstellt, die nun erweitert und mit der „zivilen“
Sicherheitsindustrie vermischt wurde – neu hinzugekommen sind die
Elektronische Kampfführung (EloKa), der Überwasserschiffbau, die
Künstliche Intelligenz sowie IT- und Kommunikationstechnologie, die sich
zu folgenden Bereichen gesellen: Geschützte/Gepanzerte Fahrzeuge,
Unterwasserplattformen, Schutz, Sensorik, Vernetzte
Operationsführung/Krypto.
Im Papier unterbleibt eine genauere Definition dieser teils doch recht
vagen Kategorien, bei der rüstungsnahen „Europäischen Sicherheit und
Technik“ (ESUT) werden aber einige Projekte genannt, die sich hier
einordnen: „Ein neues Mehrzweckkampfschiff würde also nicht mehr
zwingend europäisch ausgeschrieben werden, da der Marineschiffbau eine
nationale Schlüsseltechnologie darstellt. Dasselbe gilt für ein neues
Battle Management System (Vernetzte Operationsführung), Kampfpanzer
(Gepanzerte Fahrzeuge) oder das mittlere geschützte Sanitätsfahrzeug
(Geschützte Fahrzeuge), die alle rein national zu vergeben wären.
Zumindest, wenn die Aussagen des Strategiepapiers belastbar sein sollen.“
Für die rüstungsnahe ESUT ist hier der entscheidende „Lichtblick“, dass
der bisherige Papiertiger Schlüsseltechnologien Zähne in Form einer
Gesetzesänderung erhalten soll.
*
**Gesetzlicher Rüstungsprotektionismus*
Bereits im Oktober 2019 verabschiedete das Kabinett Änderungen zum
„Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ (GWB) und zur
„Vergabeverordnung für die Bereiche Verteidigung und Sicherheit“
(VSVgV). Die Änderungen passierten am 30. Januar den Bundestag und am
14. Februar 2020 den Bundesrat und ermöglichen es nun,
rüstungsindustrielle Kernbereiche von der Pflicht einer europaweiten
Ausschreibung nach Artikel 346 AEUV auszuklammern.
Konkret heißt es im „Entwurf eines Gesetzes zur beschleunigten
Beschaffung im Bereich der Verteidigung und Sicherheit und zur
Optimierung der Vergabestatistik“: „Dem § 107 Absatz 2 werden folgende
Sätze angefügt: ‚Wesentliche Sicherheitsinteressen im Sinne des Artikels
346 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union
können insbesondere berührt sein, ‚wenn der öffentliche Auftrag oder die
Konzession verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien betrifft.‘“
Im „Strategiepapier zur Stärkung der Sicherheits- und
Verteidigungsindustrie“ wird auch deutlich, dass über das Gesetz
weitgehende Ausnahmeregelungen von den Verpflichtungen aus Artikel 346
AEUV eingeführt werden sollen: „Die vom europäischen und nationalen
Gesetzgeber eingeräumten Spielräume in der Anwendung der
Ausnahmevorschrift des Artikels 346 des Vertrags über die Arbeitsweise
der Europäischen Union (AEUV) sollen genutzt werden, um die wesentlichen
nationalen Sicherheitsinteressen, insbesondere den Erhalt nationaler
Souveränität, zu wahren. Um dies im deutschen Vergaberecht zu
konkretisieren, hat die Bundesregierung einen Gesetzentwurf eingebracht,
der ‚sicherheits- und verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologien‘
als möglichen Fall der Betroffenheit wesentlicher Sicherheitsinteressen
nach Artikel 346 AEUV im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen
aus¬drücklich benennt.“
Mit anderen Worten: Der Wettbewerb auf dem Binnenmarkt soll überall dort
über das Vehikel der Schlüsseltechnologien ausgesetzt werden, wo die
Bundesregierung Sorge hat, dass deutsche Unternehmen ins Hintertreffen
geraten könnten.
*
**Exportförderung und weitere Unterstützungsmaßnahmen*
Ein weiteres „Highlight“ des Strategiepapiers ist die systematische
Vermischung von „zivilen Sicherheitstechnologien“ und „militärischen
Verteidigungstechnologien“. Wie bereits erwähnt, schlägt sich dies
allein schon darin nieder, dass die 2015 und 2016 jeweils getrennt
veröffentlichten Strategiepapiere nun in einem Dokument zusammengefasst
wurden.
Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Rüstungsinnovationen durch die
fortschreitende Digitalisierung in immer stärkerem Maße aus der zivilen
(Sicherheits-)Industrie kommen und nutzbar gemacht werden sollen. Im
Strategiepapier heißt es dazu: „Eine immer größere Bedeutung nimmt dabei
im Rah¬men der fortschreitenden Digitalisierung die
Informationstechnologie ein, durch die zunehmend neue zivile
Techno¬logien im Bereich der Sicherheit und Verteidigung zur Anwendung
kommen. [...] Fortschritte in der Forschung und der Entwicklung neuer
Technologien, wie z. B. in der Digitalisierung, im Bereich der
Künstlichen Intelligenz, unbemannter Systeme, der Hyperschalltechnik,
der Biotechnologien und der Cyberinstrumente, werden grundlegende
Auswirkungen auf die sicherheits- und verteidigungsrelevanten Systeme
der Zukunft haben.“
Aufgrund der Bedeutung des Sektors wird hier eine Art Topf zum „Schutz“
der „digitalen Souveränität“ aufgelegt: „Zur Erlangung einer digitalen
Souveränität und Resilienz gegenüber hybriden Bedrohungen soll die
Abhängigkeit von ausländischen Informationstechnologien reduziert
werden. Soweit die Souveränität bei heute bereits identifizierbaren,
aber erst zukünftig in der Masse relevanten und produktiv eingesetzten
Technologien gesichert werden muss, muss es möglich sein, einem
Ausverkauf bereits in frühen Stadien entgegenzuwirken. [...] Die
Bundesregierung arbeitet an entsprechenden Ansätzen, dieses Ziel zu
erreichen. Dazu soll insbesondere die Einrichtung eines
IT-Sicherheitsfonds vorangetrieben werden, um aktiv unerwünschten
Übernahmen begegnen zu können.“
Überhaupt kündigt das Strategiepapier allerhand Maßnahmen an, um die
scheinbar darbende Sicherheits- und Verteidigungsindustrie und ihre
Schlüsselindustrien zu fördern: „Zum Erhalt bzw. zur Stärkung der
sicherheits- und verteidigungsindustriellen Schlüsseltechnologien wird
die Bundesregierung diese vor allem bei den unten genannten Maßnahmen in
den Bereichen Forschung, Entwick¬lung und Innovation (V.1.), Produktion
(V.2.), Beschaffung (V.3.), Exportunterstützung und -kontrolle (V.4.)
sowie Investitionskontrolle (V.5.) besonders fördern und schützen.“
Besonders die Passagen zur Exportförderung lassen wenig an Klarheit
vermissen. So werde auf EU-Ebene eine „Harmonisierung der
exportkontrollpolitischen Entscheidungen im Bereich der Rüstungs- wie
der Dual-Use-Güter innerhalb der EU angestrebt.“ Dabei lehren die
bisherigen Erfahrungen, dass hier mit „Harmonisierung“ stets die
Angleichung der europaweiten Exportvorschriften auf den kleinsten
gemeinsamen Nenner gemeint ist. So soll es möglich sein, die – zumindest
im Verhältnis – relativ strengen deutschen Vorschriften über den
EU-Umweg zu schleifen.
In der Tat steht die Exportförderung ganz oben auf der Prioritätenliste
– das Strategiepapier benennt das dahinterstehende Kalkül in selten
gelesener Deutlichkeit: „Exporte, insbesondere in EU-, NATO- und
NATO-gleichgestellte Länder, liegen im sicherheits- und
verteidigungspolitischen Interesse Deutschlands. Sie tragen bei zu
höheren Stückzahlen und damit ggf. geringeren Beschaffungs- und
Nutzungskosten der zivilen Behörden und Organisationen mit
Sicherheitsaufgaben und der Bundeswehr. Zudem unterstützen sie das Ziel
einer höheren Interoperabilität mit verbündeten Streitkräften und
fördern Beschäftigung und Technologieentwicklung in Deutschland. Die
Bundesregierung wird daher Exportaktivitäten in Deutschland ansässiger
Unternehmen, insbesondere in EU-, NATO- und NATO-gleichgestellte Länder,
nach sorgfältiger Einzelfallprüfung über außenwirtschaftliche und
sonstige Instrumente unterstützen.“
*Nationale Rechnung ohne den europäischen Wirt?*
Rüstungsnahe Akteure sehen insbesondere in der Möglichkeit, europaweite
Ausschreibungen vermeiden zu können, einen großen Fortschritt für die
hiesige Industrie. Für interessierte Kreise scheint die Angelegenheit
klar zu sein – es wird einfach überhaupt nicht mehr europaweit
ausgeschrieben. So interpretiert beispielsweise der Ministerpräsident
von Schleswig-Holstein, Daniel Günther, das Ganze: „Wenn das definiert
wird [die Schlüsseltechnologien], heißt das auch automatisch, dass auf
Ausschreibungen im großen Stil verzichtet werden kann”.
Allerdings hat die Kommission in den letzten Jahren mehr als deutlich
gemacht, dass eine Umgehung von Artikel 346 AEUV nur in absoluten
Ausnahmefällen erfolgen darf. Sie hat sogar eine Reihe von Mahnungen an
Mitgliedsstaaten verschickt, die ihrer Auffassung allzu schnell dabei
waren, sich auf nationale Sicherheitsinteressen zu berufen, um die
einheimische Industrie zu schützen.
So könnte es sein, dass auch bei den Schlüsseltechnologien nur mit
Einzelfallprüfungen und dabei auch relativ sparsam hantiert werden
könnte, was wiederum auf Kritik bei Industrie und Gewerkschaften stoßen
dürfte. Sollte sich die Bundesregierung aber dazu entscheiden, den
Großteil ihrer Aufträge tatsächlich vom europäischen Rüstungsbinnenmarkt
auszuschließen, dürfte die Frage spannend werden, wie sie denn ihre
„Verbündeten“ in der EU davon überzeugen will, es ihr nicht gleich zu
tun. Da der Schaffung eines EU-Rüstungsmarktes aber mindestens ebenso
große Bedeutung wie dem Erhalt der Schlüsselindustrien zugemessen wird,
steht die Bundesregierung vor einem Dilemma, das sie auch mit dem
Strategiepapier nicht aufgelöst bekommt.
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