[IMI-List] [0440] „Seenotrettung“: Teil des Problems // Ausdruck (April 2015)
IMI
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Di Apr 21 15:17:34 CEST 2015
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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0440 .......... 18. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Thomas Mickan/ Jürgen Wagner / Christoph Marischka
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
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Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
1.) die aktuelle Ausgabe April 2015 des IMI-Magazins AUSDRUCK mit vielen
neuen Texten;
2.) Ein IMI-Standpunkt „Seenotrettung als Teil des Problems“ zur Debatte
um die italienische Marineoperation „Mare Nostrum“.
1.) AUSDRUCK – IMI-Magazin (April 2015)
Soeben ist die neue Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK erschienen, mit
der wir wieder eine Reihe neuer Texte online stellen.
Komplette Ausgabe: http://www.imi-online.de/download/April2015_web.pdf
WISSENSCHAFT UND KRIEG
-- Die Verteidigung der Völkerkunde – Anthropologie und Militär
[Langfassung in Arbeit] (Benjamin Hirschfeld)
http://www.imi-online.de/download/April2015_01hirschfeld.pdf
DEUTSCHLAND UND DIE BUNDESWEHR
-- Ein Weißbuch für die Weltmacht (Jürgen Wagner)
http://www.imi-online.de/download/April2015_02Wagner1.pdf
-- Führungsanspruch als Zitat (Christoph Marischka)
http://www.imi-online.de/download/April2015_03Marischka1.pdf
-- Rekrutierung in Stadien – Die Bundeswehr und der Fußball (Ralf
Buchterkirchen)
http://www.imi-online.de/download/April2015_04Buchterkirchen.pdf
-- Rüstungshaushalt: Kräftiger Schluck aus der Pulle (Jürgen Wagner)
http://www.imi-online.de/download/April2015_05Wagner2.pdf
-- Neue Aufgaben für die Bewegung gegen Drohnen (Christoph Marischka)
http://www.imi-online.de/download/April2015_06Marischka2.pdf
-- AFRICOM und EUCOM in Stuttgart. Zusammenarbeit und Widerstand (Thomas
Mickan)
http://www.imi-online.de/download/April2015_07Mickan.pdf
NEUER KALTER KRIEG
-- Münchner Sicherheitskonferenz: Alle gegen Alle oder Front gegen
Russland? (Jürgen Wagner)
http://www.imi-online.de/download/April2015_08Wagner3.pdf
-- NATO: Aufrüstung gegen Russland, Deutschland führt Speerspitze der
NATO (Tobias Pflüger)
http://www.imi-online.de/download/April2015_09Pflueger.pdf
-- Ukraine: Eskalation vs. Deeskalation (Mirko Petersen)
http://www.imi-online.de/download/April2015_10Petersen.pdf
2.) „Seenotrettung“ als Teil des Problems
IMI-Standpunkt 2015/018
“Seenotrettung” als Teil des Problems: Dass Menschen ihr Leben riskieren
müssen
http://www.imi-online.de/2015/04/21/seenotrettung-als-teil-des-problems-dass-menschen-ihr-leben-riskieren-muessen/
Christoph Marischka (21. April 2015)
Nach der neuerlichen Katastrophe mit womöglich über 900 toten
Migrant_innen im Mittelmeer wird zu Recht von einer Schande für Europa –
genauer müsste es heißen: die Europäische Union – gesprochen. Zugleich
fordern v.a. linke Oppositionspolitiker_innen der verschiedenen
Mitgliedsstaaten eine Neuauflage der italienischen Militärmission “Mare
Nostrum”, die von Oktober 2013 bis Oktober 2014 stattfand und durch die
bis zu 140.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet worden sein
sollen.(1) In Deutschland wurde zunächst insbesondere die
Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, mit
der Forderung nach einer Neuauflage des “Programm[s], das sich Mare
Nostrum nennt”, zitiert. Auch der Vorsitzende der Linksfraktion, Gregor
Gysi, bezeichnete das Ende der Mission als “katastrophal und absolut
inhuman”.(2) Selbst das ansonsten durchaus die Interessen westlicher
Sicherheitspolitik zuverlässig durchschauende Nachrichtenportal
German-Foreign-Policy.com übernimmt die aktuell herrschende Beschreibung
der italienischen Marineoperation als “Seenot-Rettungsmission”.(3)
Stilisierung militärischer “Seenotrettung”
Tatsächlich war die Grundlage für solche Fehlinterpretationen der
Intention italienischer Außenpolitik bereits lange zuvor gelegt worden.
Neben dem Gründer der Hilfsorganisation Cap Anamur, Rupert Neudeck, der
die italienische Marine für Mare Nostrum gleich mit dem
Friedensnobelpreis ausgezeichnet sehen wollte, haben auch viele
ausgewiesene Kenner_innen und Kritiker_innen des Migrationsregimes im
Mittelmeer die Mission begrüßt. Pro Asyl etwa bezeichnete sie in einem
Vergleich mit der an sie anschließenden Operation “Triton” der
Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den
Außengrenzen (Frontex) als “Großtat” und “Rettungsoperation”.(4)
“Aktive” der tendenziell radikal für die Öffnung der Grenzen
eintretenden Netzwerke “Afrique Europe Interact”, “Welcome to Europe”,
“transact!” und der “Forschungsgesellschaft Flucht und Migration” hatten
in der AK596 (Zeitung für Linke Debatte und Praxis) die “These”
aufgestellt, “als Seenotrettungsprogramm” sei “Mare Nostrum … für eine
große Zahl von Flüchtlingen und MigrantInnen zur (halben) Brücke nach
Europa geworden”. Es sei “in erster Linie die Hartnäckigkeit der
sozialen Bewegung der Migration, die dem unerbittlichen EU-Grenzregime
diesen Erfolg abgerungen hat”. Kurz gesagt: “Widerstand von unten zwingt
Europa zur Rettung”.(5)
Das ist gar nicht so weit entfernt von der Argumentation
Göring-Eckardts, der es in ihrem Interview mit dem NDR zunächst v.a. um
die durch den tausendfachen Tod von Flüchtlingen und Migrant_innen auf
dem Mittelmeer schwer beschädigte “Europäische Identität” zu gehen
scheint, wenn sie eine Neuauflage der “Seenotrettung” durch die
italienische Marine einfordert. Dabei redet sie aber nur von
“Flüchtlingen … Menschen, die sind auf der Flucht, häufig seit Jahren,
Menschen in äußerster Not”. Zwar fordert sie einen “legalen Weg, wie die
Menschen nach Europa kommen können”, sagt aber auch: “Wir brauchen diese
Seenotrettung und wir brauchen dann ordentliche europäische
Asylverfahren”.(6) Beides passt nicht zusammen: gäbe es für diese
Menschen legale oder auch nur weniger gefährliche Wege der Einreise,
müssten sie sich nicht in die Hände skrupelloser Krimineller und damit
in Lebensgefahr begeben. Eine militärische “Seenotrettung” wäre dann gar
nicht nötig.
Auch die Aktiven migrationspolitischer Netzwerke sprechen von einer
“handfesten Legitimationskrise des Migrationsregimes”, welche eine zu
Recht allgemeiner gefasste und nicht auf Flüchtlinge beschränkte
“Bewegung der Migration” durch die lebensgefährliche Überfahrt übers
Mittelmeer heraufbeschworen und damit eine “auf Abschreckung durch
vorverlagerte Präsenz” ausgerichtete Militäroperation in ein
“Seenotrettungsprogramm” transformiert hätte. Die Fraktionsvorsitzende
der Grünen wie die Aktivist_innen überhöhen dabei willentlich oder
unwillentlich sowohl die vermeintlich der EU zugrunde liegenden Werte
als auch den Bedarf der EU wie ihres Migrationsregimes auf Legitimität.
Die Linken-Politiker europaweit ignorieren vollständig die Interessen
der italienischen Außenpolitik, neue Handlungsfelder für ihr Militär zu
erschließen (flankiert durch die Operation Strade Sicure),(7)
Migrant_innen zum Spielball und Machtmittel in innereuropäischen
Konflikten (und einer Renationalisierung italienischer Außenpolitik) zu
machen und eine dauerhafte nationale Marinepräsenz und -überwachung im
Mittelmeer auszubauen. Die “Seenotrettung” durch das Militär und das
dafür notwendige Aufs-Spiel-Setzen des eigenen Lebens wird damit
einerseits zum Ersatz eines legalen Weges der Einreise, andererseits zum
erfolgreichen “Widerstand von Unten” stilisiert.
Sicherheitspolitische Agenda
Es dauerte dann auch kaum einen Tag nach der Katastrophe, bis auch die
rechteren Parteien und die Regierungen eine Neuauflage der Seenotrettung
einforderten. Parallel dazu versuchte jeder noch für sein Ressort neue
Spielräume, zumindest Argumente zu mobilisieren. Der deutsche
Innenminister und frühere Verteidigungsminister Thomas de Maizière etwa
forderte ein härteres Vorgehen gegen Schlepper und kündigte an, zu
prüfen, wie Erfahrungen aus der EU-Militäroperation Atalanta gegen die
Piraterie am Horn von Afrika für den “Kampf gegen die Schlepper” mit
“robusten Kräften” im Mittelmeer genutzt werden könnten.(8)
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief seinerseits dazu
auf, „die Fluchtgründe an der Wurzel zu bekämpfen“.(9) Dieselben
Schlussfolgerungen zog Karl Hoffmann in seinem Kommentar für den
Deutschlandfunk, der nicht nur “eine effiziente Meeresüberwachung vor
der nordafrikanischen Küste” einklagt, sondern in mit der Forderung nach
einer aktiveren EUropäischen Außenpolitik endet: “Schließlich muss
endlich die gemeinsame europäische Außenpolitik auf die Beine gestellt
werden. Nur sie wird in der Lage sein, bei der Beseitigung jener Krisen
entscheidend mitzuhelfen, die die Ursachen der jetzigen Völkerwanderung
sind.”(10)
Der Zehn-Punkte-Plan der Kommission, dem die EU-Innen- und Außenminister
am Montag nach der Katastrophe grundsätzlich zustimmten, stellt
entsprechend nichts anderes dar, als die erneute Instrumentalisierung
der Flüchtlingskatastrophe für die Zwecke der Sicherheitspolitiker.
Unter Punkt “1. Mehr Seenothilfe” sollen die Mittel für die
Grenzüberwachungsprojekte “Triton” und “Poseidon” erhöht und das
überwachte Gebiet ausgeweitet werden. Die Ermittlungsbehörden Europol
und Eurojust sowie Frontex sollen gestärkt, Asylanträge an den Grenzen
schneller bearbeitet und “illegale Einwanderer” schneller abgeschoben
werden können. Demgegenüber befassen sich zwei Punkte eher vage mit
neuen Mechanismen zur “Verteilung” anerkannter und zuvor geretteter
Flüchtlinge. Zuletzt sollen die Zusammenarbeit mit den nordafrikanischen
Staaten verbessert, Boote von Schleppern beschlagnahmt und zerstört und
in wichtigen Drittstaaten “Verbindungsbeamte für Immigrationsfragen
eingesetzt werden, die zum Beispiel Informationen zu
Flüchtlingsbewegungen sammeln.”(11)
Insbesondere die letzten Punkte verstärken genau die Gründe, warum es
für viele lebensgefährlich ist und sein muss, nach Europa einzureisen.
Die Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitstaaten illegalisiert
bereits die Ausreise und verstellt den Weg zu legalen Einreisepapieren.
Verbindungsbeamte – eine besondere deutsche Spezialität – stellen nicht
nur Verstöße gegen diese Zusammenarbeit fest, sondern unterrichten auch
Grenzbeamte und das Personal von Transportunternehmen darin, keine
Menschen ohne gültige Papiere durchzulassen oder mitzunehmen.(12) Dabei
handelt es sich im Zusammenspiel mit den sogennannten Carrier Sanctions
– Sanktionen gegen Unternehmen, die Menschen ohne entsprechende Visa
mitnehmen – um den effektivsten Weg der Illegalisierung. Die nun
anvisierte Beschlagnahmung und Zerstörung von “Schleuser-Booten” stellt
dabei nur eine Exterritorialisierung einer an Südeuropas Küsten längst
gängigen Praxis dar, die diese Sanktionen auf die Spitze treibt – und
wesentlich dazu beiträgt, Migrant_innen auf seeuntüchtige Boote ohne
Besatzung zu zwingen.
Keine Utopie!
Ohne die genannten Maßnahmen, die – ebenso wie die
militärisch-aufklärungstechnische Aufrüstung des Mittelmeers – stets
auch von Italien aufgegriffen und forciert wurden, könnten Flüchtlinge
und Migrant_innen auf sicherem (und deutlich günstigerem) Wege einreisen
und den skrupellosen Schlepperbanden – de facto Spiegelbilder der
Sicherheispolitiker, die Aufrüstung und Illegalisierung vorantreiben –
wäre die Geschäftsgrundlage entzogen. Die Migrant_innen wären dann auch
nicht in die diskursiv und normativ überfrachtete (und überregelte)
Figur des Flüchtlings gezwungen und viele würden – wenn es die Umstände
zulassen, nach getaner Arbeit oder Desillusionierung – bald wieder
weiter- oder zurückziehen (was ihnen im Asylverfahren oft verwehrt ist).
Das Ergebnis wäre keine Flut, wie häufig und seit der Katastrophe wieder
verstärkt durch grob irreführende Schaubilder von Migrationsrouten – die
zum Beispiel westliche, “legale” und erwünschte Migration vollkommen
ausblenden – suggeriert wird, sondern ein Austausch. Ein solche
Bewegungsfreiheit wurde beispielsweise im Schengenraum mit der
Osterweiterung für Millionen Menschen ohne die stets implizit
prognostizierten negative Folgen möglich und wird von vielen Menschn in
Europa als selbstverständlich angenommen. Die Möglichkeit einer
visafreien Einreise für Millionen Menschen aus Lateinamerika stellt ein
weiteres Beispiel dar.
Utopisch wirken solche Vorstellungen nur aus dem einen Grund, weil damit
nicht nur die Organisierte Kriminalität, sondern auch
Rüstungsunternehmen und Sicherheitspolitiker einen wesentlichen Teil
ihrer Spielräume und Geschäftsgrundlage verlieren würden, die leider das
Gefüge der Europäischen Union deutlich stärker prägen, als ihre
vermeintlichen Werte und Legitimationsprobleme. Dass in der aktuellen
Diskussion angesichts des Dramas im Mittelmeer solche Positionen jedoch
kaum zu finden sind, liegt auch an der vorschnellen Idealisierung der
Operation Mare Nostrum als “Seenotrettung”. Dass Menschen ihr Leben
riskieren müssen, um Europa zu erreichen, kann nicht hingenommen werden.
Quellen
(1) European Council on Refugees and Exiles (ECRE): Maintain Mare
Nostrum – Stop Deaths in the Mediterranean, Pressemitteilung vom
17.10.2014, http://www.ecre.org/component/downloads/downloads/929.html.
(2) “Opposition fordert Neuauflage von Mare Nostrum”, Zeit Online vom
20.4.2015,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2015-04/mittelmeer-fluechtlinge-mare-nostrum-deutsche-debatte.
(3) “Die Flüchtlings-Todesregion Nr. 1″ Meldung von GFP vom 20.4.2015,
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59095.
(4) Europas Schande: ‘Triton’ und ‘Mare Nostrum’ im Vergleich”,
http://www.proasyl.de/de/news/detail/news/europas_schande_triton_und_mare_nostrum_im_vergleich/.
(5) Die Bewegung der Migration rüttelt an der Festung Europa – Sieben
Thesen zur italienischen Marineoperation Mare Nostrum, in analyse &
kritik Nr. 596, http://www.akweb.de//ak_s/ak596/08.htm.
(6) “Katastrophe für die europäische Identität”, Interview des NDR mit
Katrin Göring-Eckardt vom 20.4.2015,
http://www.ndr.de/info/Katastrophe-fuer-die-europaeische-Identitaet,audio240402.html.
(7) Weitere Beispiele und Quellen hierzu siehe: Jacqueline Andres:
Drohnen und Militär gegen die Umweltmafia in Italien, IMI-Standpunkt
2014/004 – in: AUSDRUCK (Februar 2014).
(8) “Europa will mehr für Flüchtlinge tun”, Faz.net vom 20.4.2015,
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/europa/europa-will-mehr-fuer-fluechtlinge-tun-13548798.html.
(9) Eric Bonse/Astrid Geisler: Sogar de Maizière gibt sich liberal,
taz.de vom 20.4.2015, http://www.taz.de/!158518/.
(10) Karl Hoffmann: Europa braucht eine gemeinsame Außenpolitik,
Deutschlandfunk “Kommentar” vom 20.4.2015,
http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingskatastrophe-europa-braucht-eine-gemeinsame.720.de.html?dram:article_id=317669.
(11) Die Zusammenfassung der zehn Punkte wurde einem “Hintergrund” der
Seite Tagesschau.der entnommen
(http://www.tagesschau.de/ausland/eu-fluechtlinge-10-punkte-plan-101.html).
Es handelt sich dabei nicht um die ursprüngliche Formulierung der
Kommission.
(12) Christoph Marischka: Frontex – Das nachrichtendienstliche Vorfeld,
in: IMI (Hrsg.): Widersprüche im erweiterten Grenzraum, Materialien
gegen den Krieg, Repression und für andere Verhältnisse Nr. 7,
http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf.
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