[IMI-List] [0388] Bundeswehreinsatz in der Türkei

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Do Dez 13 16:47:53 CET 2012


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Online-Zeitschrift "IMI-List"

Nummer 0388 .......... 15. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563

Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.

Red.: IMI / Jonna Schürkes / Jürgen Wagner

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Liebe Freundinnen und Freunde,

morgen wird der Bundestag über einen weiteren Auslandseinsatz der 
Bundeswehr abstimmen, zu dem die SPD und die Grüne Fraktion bereits 
weitgehende Zustimmung signalisiert haben. Gerade auch, weil die Medien 
hierüber kaum berichtet haben, fasst ein aktueller Standpunkt der IMI 
die gestrige erste Debatte im Bundestag zu diesem gefährlichen Einsatz 
und die wichtigsten Gründe zusammen, warum auch und gerade dieser 
Auslandseinsatz der Bundeswehr abgelehnt werden muss.

IMI-Standpunkt 2012/067

Parlamentsbeteiligung als Farce? Deutschland demonstriert 
"Verlässlichkeit" im Konflikt zwischen der Türkei und Syrien

SPD und Grüne signalisieren Unterstützung für Patriot-Einsatz

http://www.imi-online.de/2012/12/13/deutschland-demonstriert-verlasslichkeit-im-konflikt-zwischen-der-turkei-und-syrien/

Christoph Marischka (13. Dezember 2012)

Am Mittwoch, dem 12. Dezember 2012, wurde im Bundestag in erster Lesung 
über den Antrag der Bundesregierung beraten, Patriot-Systeme und bis zu 
400 Soldate in die Türkei an die Grenze zu Syrien zu verlegen. Die 
Debatte hierüber schwelte bereits seit dem 17. November, nachdem Medien 
-- anders als über die gestrige Debatte im Bundestag -- über 
entsprechende Planungen berichteten. Am 4. Dezember dann beschloss 
zunächst der NATO-Rat und gleich am Tag darauf das Bundeskabinett die 
Entsendung von Waffen und Soldaten in die Türkei "zur Verstärkung der 
integrierten Luftverteidigung der NATO".(1) Dass der Bundestag bereits 
eine Woche später hierüber debattierte und die Abstimmung bereits zwei 
Tage nach der ersten Debatte vorgesehen ist, dafür bedankte sich Michael 
Link, Staatsminister im Auswärtigen Amt, der für die Bundesregierung 
sprach, in der Debatte gleich mehrfach. Man habe das "gemeinsam 
hinbekommen", so Link. Dabei sei "auch wichtig" gewesen, "dass aus allen 
Fraktionen immer wieder die eine oder andere kritische Frage kommt." Die 
Debattenbeiträge der SPD und der Grünen verwiesen jeweils auf diese 
"Fragen" (Mützenich) und "Bedingungen" (Nouripour), die von ihnen im 
Auswärtigen Ausschuss -- unmittelbar vor der Plenardebatte -- gestellt 
und "befriedigend beantwortet worden" (Mützenich) seien. Konkret nannten 
diese folgende "Bedingungen": Dass die Patriots "nicht direkt an der 
Grenze stehen", "dass in das syrische Territorium nicht hineingewirkt 
werden darf" und das "Kommando ... bei der NATO sein" muss. Das gab auch 
dem Verteidigungsminister Gelegenheit, Entgegenkommen zu suggerieren: 
"Dieser Ort [der Stationierung] wird sich nicht in unmittelbarer Nähe 
der türkisch-syrischen Grenze befinden ... Die Wirkung bleibt auf 
türkisches Gebiet begrenzt, um das unmissver ständlich zu sagen. Ich 
weiß, dass dies, wenn es darum geht, zuzustimmen, für viele ein 
wichtiger Punkt ist." Auch die Erfüllung der anderen Bedingungen 
versprach De Maizière. Mit den Debatten in den Ausschüssen hatte all das 
jedoch nichts zu tun, bereits im Antragsentwurf der Bundesregierung, der 
am Tag nach dem Kabinettsbeschluss zirkulierte, wurde festgehalten, dass 
das Kommando der NATO unterstellt wird, die Partiot-Systeme "nicht der 
Einrichtung oder Überwachung einer Flugverbotszone über syrischem 
Territorium" dienen und "nicht in den syrischen Luftraum hinein wirken" 
sollen. Eine Verlegung direkt an die Grenze würde militärisch gar keinen 
Sinn machen, da der abzuwehrende Flugkörper und seine Flugbahn zunächst 
per Radar erfasst werden müssen und dann noch Zeit für die Entscheidung, 
den Abschuss und den Flug der Patriot-Raketen eingeplant werden muss.

Gute Gründe

Aber durch die Erfüllung der vermeintlichen "Bedingungen" von SPD und 
Grünen war es ihren Rednern möglich, anzukündigen, dass sie ihrer 
Fraktion die Zustimmung empfehlen (Nouripour) bzw. diese "mit großer 
Mehrheit dem Mandat zustimmen" werde (Mützenich). Einzig Jan van Aken 
von der Linksfraktion stellte die Frage, "warum eigentlich?", die von 
den Wortnehmenden aller anderen Fraktionen einhellig mit 
"Bündnissolidarität" und "Verlässlichkeit", von De Maizière zusätzlich 
noch mit den "Sorgen" der "Menschen in der Türkei" begründet wurde. 
Nouripour brachte die vorherrschende Argumentation auf den Punkt: "Wenn 
ein Partnerstaat um Beistand bittet, dann braucht man sehr gute Gründe, 
wenn man nicht Ja sagen will." Normal ist also der Einsatz, die 
Unterstützung, es bleibt nur noch, wie gut die Gründe eigentlich sein 
müssen, damit zumindest die Opposition diesen ablehnt (oder sich 
zumindest enthält). Denn gute -- ja sehr gute Gründe -- gibt es in 
diesem Falle genug.

Da wäre zunächst einmal, worauf van Aken hinwies und was auch Nouripour 
ansatzweise einräumte, dass eine Bedrohung der Türkei durch das 
Assad-Regime nicht existiert. Selbst De Maizière musste, nachdem er das 
Schreckgespenst mit chemischen Waffen bestückter syrischer Raketen an 
die Wand malte, zugeben, dass es "keine Anzeichen dafür [gibt], dass 
Syrien die Absicht haben könnte, diese Waffen einzusetzen". Ein 
fehlender Grund für einen Einsatz könnte doch schon Grund genug sein, 
einem Einsatz nicht zuzustimmen. Ein geradezu zwingender Grund jedoch 
besteht darin, dass die Türkei längst Partei im syrischen Bürgerkrieg 
ist und sich deren Regierung vom Parlament bereits einen Einmarsch hat 
bewilligen lassen. Paradoxer Weise bezieht sich der Antrag der 
Bundesregierung als "völkerrechtliche Grundlage" des Einsatzes auf die 
Konsultationen des NATO-Rates nach Artikel 4 des Nordatlantikvertrages 
vom 26. Juni, die stattfanden, nachdem ein türkischer Militärjet in 
niedriger Höhe und hoher Geschwindigkeit in syrischen Luftraum 
eingedrungen und daraufhin abgeschossen worden war. Ob der Abschuss in 
syrischem oder internationalem Luftraum stattfand, ist bis heute 
ungeklärt und weder NATO noch Bundesregierung haben dazu bislang 
Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Der Kontext dieser 
Grenzverletzung, die von Syrien als Angriffshandlung interpretiert hätte 
werden können, ist allen bekannt: Bereits Monate zuvor hatte die Türkei 
zum Sturz des syrischen Präsidenten Assad aufgerufen und begonnen, der 
Freien Syrischen Armee und anderen bewaffneten Gruppen ein 
Rückzugsgebiet zur Verfügung zu stellen, ihre Bewaffnung und ein 
Hauptquartier mit Beteiligung zahlreicher NATO-Staaten auf türkischem 
Territorium zu dulden bzw. zu unterstützen. Diese Einmischung der 
türkischen Regierung in den syrischen Bügerkrieg ist Teil einer 
türkischen Großmachtpolitik und der Auseinandersetzung um die 
Vormachtstellung in der Region. Die Verlegung von Flugabwehrsystemen und 
Soldaten in dieser Situation ist, selbst wenn sie nur auf den Schutz des 
türkischen Territoriums beschränkt ist, eine unmittelbare Unterstützung 
und Beteiligung an dieser offensiven und brandgefährlichen Großmachtpolitik.

Dasselbe gilt für die NATO. Noch am Tag des entsprechenden Beschlusses 
zur "zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der NATO" des 
NATO-Rats hatte US-Präsident Obama der syrischen Regierung mit einer 
Intervention gedroht, wie zuvor schon die anderen NATO-Partner 
Frankreich und Großbritannien, es wurden konkrete militärische Planungen 
für eine solche Intervention eingeräumt. Unmittelbar nach dem Beschluss 
des NATO-Rates soll deren Generalsekretär eine "aktivere Rolle" der NATO 
in Syrien und zugleich bemerkenswerter Weise auch gegenüber dem Iran 
angemahnt haben. Der deutsche Außenminister soll darauf entschieden 
widersprochen haben, was die Linken-Abgeordnete Sevim Dagdelen jedoch 
als "Scheindebatte" charakterisierte. "Die Katze ist damit aus dem Sack: 
die NATO bereitet einen Angriff auf Syrien vor".(2) Vor diesem 
Hintergrund ist es kein Zugeständnis, sondern eine Gefahr, dass die 
Bundeswehrsoldaten und die Luftabwehrraketen unter das NATO-Oberkommando 
unterstellt werden, dem der Oberbefehlshaber der US-Truppen in Europa 
vorsteht. Ohnehin wird die vermeintliche Begrenzung auf syrisches 
Territorium durch die ebenfalls im Mandat vorgesehene Beteiligung der 
Bundeswehrsoldaten "an internationalen militärischen Hauptquartieren" 
und am "Austausch und Abgleich gewonnener Lagebildinformationen" (die 
deutschen Standorte Ramstein, Kalkar und Uedem werden dabei eine 
wichtige Rolle spielen) zur Makulatur. Die Argumentation der 
"Verlässlichkeit", die bereits jetzt ohne jede konkrete Bedrohung ins 
Feld geführt wird, wird es sowohl der Bundesregierung als auch den jetzt 
zustimmenden "Oppositions-"Fraktionen unmöglich machen, im Falle einer 
Eskalation die Luftabwehrsysteme aus der Türkei und die 
Bundeswehrsoldaten aus den gemeinsamen Stäben abzuziehen. Wie leicht 
eine solche Eskalation heraufbeschwört werden kann, darauf wies in der 
Debatte nicht nur van Aken hin, sondern auch Nouripour, weil es "auf der 
anderen Seite der Grenze einen Haufen von Provokateuren gibt ... Es sind 
in erster Linie nicht die Anhänger von Assad, die einen Nutzen davon 
hätten, die NATO in einen Konflikt hineinzuziehen, der mittlerweile 
dschihadistisch, der mittlerweile regional, konfessionell und ethnisiert 
ist."

Einmischung in den Bürgerkrieg und Implementierung des Raketenschildes

Damit kommen wir zu einem weiteren gewichtigen Grund, der eine Ablehnung 
eigentlich zwingend macht, in der Debatte jedoch keine Rolle spielte, 
obwohl Staatsminister Link in dieser die Neuigkeit verkündete, die das 
völkerrechtliche Koordinatensystem, in dem der Einsatz stattfinden soll, 
radikal verschob: "Außenminister Westerwelle nimmt heute in Marrakesch 
am Treffen der Gruppe der Freunde des syrischen Volkes teil. Einige von 
Ihnen werden es bereits über die Agenturen gehört haben: Die Gruppe hat 
heute in Marrakesch beschlossen, die Nationale Koalition der syrischen 
Revolution als die legitime Vertretung des syrischen Volkes anzuerkennen 
...". Er wies auch darauf hin, dass "die heute in Marrakesch 
versammelten Außenminister den Einsatz der NATO und die 
Patriot-Stationierung in der Türkei als einen Beitrag zur Reduzierung 
der Bedrohung der Türkei ausdrücklich begrüßen". Damit stellt sich nicht 
nur die Frage, wie der entsprechende Einsatz der Bundeswehr nicht als 
Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg, sondern als rein defensiver 
Akt gewertet werden kann und wie ein tieferes hineingleiten überhaupt 
verhindert werden kann. De Maizière etwa sagte in der Debatte einleitend 
dass "dieser Bürgerkrieg vielleicht schon bald in die Schlussphase 
übergeht, wofür es einige Anzeichen gibt" und begründete die zunächst 14 
Monate, die das Mandat umfassen soll, damit, dass man "auf der sicheren 
Seite" sein wolle. Mit der "Schlussphase" kann jedoch keinesfalls ein 
Frieden gemeint sein oder auch nur eine Entscheidungsschlacht, sondern 
ein bewaffneter Machtkampf zwischen mehr oder weniger irregulären 
Armeen. In gewisser Weise wurde diese Schlussphase nun durch die 
"Freunde Syriens" eigeleitet, indem sie selbst die syrische Armee zu 
einer solchen informellen Armee degradiert haben. Damit stellt sich 
bereits jetzt die Frage, wer im Falle eines Bündnisfalls, der ja die 
angebliche "völkerrechtliche Grundlage" des Einsatzes ist, überhaupt der 
Gegner sein könnte. Dieser Bündnisfall wurde bislang erst einmal 
ausgerufen und auch in diesem Falle nicht gegen einen staatlichen 
Gegner, sondern im Anschluss an die Anschläge vom 11. September 2001 als 
Grundlage des sogenannten "Krieg gegen den Terror", den die NATO bis 
heute in Afghanistan und weltweit führt. Betrachtet man die fehlende 
Sorgfalt, mit der bislang von Seiten der NATO der tatsächliche Ursprung 
des Beschusses aus Syrien untersucht wurde, und das sich entfaltende 
Geflecht bewaffneter Gruppen in Syrien, ist davon auszugehen, dass sich 
ein Eingreifen der NATO nicht auf die Bekämpfung eines präzise 
umrissenen militärischen Gegners beschränken, sondern nur eine 
umfassende Einmischung in einen entgrenzten Bürgerkrieg vergleichbar dem 
Krieg gegen den Terror in Afghanistan bedeuten kann. Die Türkei etwa 
kann wie viele interessierte Akteure einen solchen Kontext teilweise 
regulieren und nutzen, um ihren Krieg gegen kurdische 
Autonomiebestrebungen zu intensivieren, bei denen sie bereits jetzt mit 
djihadistischen Gruppen in Syrien kooperiert (weshalb auch "die 
Bevölkerung der Türkei", anders als De Maizière uns glauben machen will, 
weniger um Raketen aus Syrien, als um die Stationierung weiterer 
NATO-Kräfte besorgt ist). In der Region des Nahen und mittleren Ostens 
jedoch birgt das offene Eingreifen der NATO in einen solchen Bürgerkrieg 
die Gefahr einer weiteren Eskalation der Konflikte mit dem Iran und 
Russland. Erst bei einer solchen Zuspitzung würde die "Verstärkung der 
integrierten Luftverteidigung der NATO" mit der Stationierung von 
Patriots und dem Ausbau (bzw. der Aktivierung) gemeinsamer militärischer 
Lagezentren und Hauptquartiere, die in 14 Monaten sicher nicht aufgelöst 
werden, militärisch ihren vollen Sinn entfalten. Letztlich beschleunigt 
sie v.a. die Implementierung des NATO-Raketenschildes, indem sie das 
zugrundeliegende Konfliktszenario wahrscheinlicher macht -- in der 
"gefährlichsten Region der Welt".

Anmerkungen

(1) Alle nicht näher gekennzeichneten Zitate entstammen dem Antrag der 
Bundesregierung (BT-Drucksache 17/11783) oder dem Stenografischen 
Bericht der 213. Sitzung des Deutschen Bundestages (Plenarprotokoll 17/213).

(2) http://www.sevimdagdelen.de/de/article/2916.syrien_neuer_nato_krieg.html

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