[IMI-List] [0336] Bericht des IMI-Kongresses
IMI
imi at imi-online.de
Do Nov 11 16:55:58 CET 2010
----------------------------------------------------------
Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0336 .......... 14. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Jonna Schürkes / Jürgen Wagner
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
----------------------------------------------------------
Liebe Freundinnen und Freunde,
in dieser IMI-List findet sich
der Bericht vom IMI-Kongress vergangenes Wochenende:
IMI-Mitteilung
EUropas Staatsbildungskriege: Zerschlagen – Umbauen – Dirigieren
Bericht vom 13. Kongress der Informationsstelle Militarisierung
http://www.imi-online.de/2010.php?id=2201
11.11.2010, IMI
Am 6./7. November 2010 veranstaltete die Informationsstelle
Militarisierung (IMI) zum mittlerweile dreizehnten Mal ihren
alljährlichen Kongress. Insgesamt trugen über 100 Menschen zum guten
Besuch und dem Gelingen der Tagung bei, die sich mit dem Thema "EUropas
Staatsbildungskriege: Zerschlagen – Umbauen – Dirigieren" beschäftigte.
Auf dem Kongress wurde einerseits herausgearbeitet, dass sich die
Europäische Union mit dem in Kraft treten des Vertrags von Lissabon noch
einmal grundsätzlich verändert hat und zur Durchsetzung ihrer Interessen
immer aggressiver vorgeht. Andererseits wurde sich intensiv damit
beschäftigt, welche Strategien dabei zur Anwendung kommen. Vor allem die
Praxis des „Staatenbaus“ und der „Staatenzerschlagung“ gewinnt dabei
immer weiter an Bedeutung. Richtschnur hierfür ist nicht das
Völkerrecht, sondern die jeweilige Interessenslage, wie anhand
verschiedener Beispiele gezeigt wurde. Hierfür hat sich die Europäische
Union mittlerweile ein breites Instrumentarium zugelegt. Die besondere
"Qualität" der EU-Politik, so eines der wichtigsten Fazits des
Kongresses, liegt in der Kombination "sanfter" und "harter" Machtmittel
und ihrer systematischen Bündelung und Verzahnung im neuen Europäischen
Auswärtigen Dienst (EAD).
Zur Eröffnung argumentierte Tobias Pflüger, dass sich die Europäische
Union mit dem Vertrag von Lissabon fundamental verändert habe. Das
Ausmaß der hiermit einhergehenden Militarisierung erfordere eine
grundlegende Neubewertung des Verhältnisses zur Europäischen Union.
Hierfür formulierte er Eckpunkte einer linken EU-Kritik, die es weiter
zu entwickeln gelte und die vor allem darauf abzielen müsste, der
weiterhin weit verbreiteten Europhilie den Boden zu entziehen.
Zu dieser positiven Sichtweise auf die Union trage auch die Rhetorik der
Eliten maßgeblich bei. Zwar würde mittlerweile ganz offen gefordert, die
EU müsse eine Weltmacht werden und eingeräumt, sie sei "eine Art
Imperium" (Kommissionschef José Manuel Barroso). Allerdings werde dabei
stets betont, sie sei ein „gütiges Imperium“ (Wirtschaftskommissar Olli
Rehn). Zum Mythos der "gütigen EU" trage auch die gebetsmühlenartige
Berufung auf das Völkerrecht bei. Tatsächlich sei aber das Verhältnis
zum Völkerrecht rein instrumentell, man berufe sich darauf, wenn es den
Interesse diene, ignoriere es, wenn dem nicht der Fall sei: "Das
Völkerrecht ist verbal wichtig, praktisch nichtig", so Pflüger. Als
Beleg zitierte Pflüger den Autor der Europäischen Sicherheitsstrategie
Robert Cooper, der einen "liberalen Imperialismus" und eine Politik der
"doppelten Standards" propagiere, deren Kernelement in von Cooper
folgendermaßen beschrieben worden sei: "Unter uns halten wir uns an das
Gesetz, aber wenn wir im Dschungel operieren, müssen wir ebenfalls das
Gesetz des Dschungels anwenden."
Es werde immer deutlicher, dass die Europäische Union bei der
Durchsetzung ihrer Interessen immer aggressiver vorgehe. Die
Zerschlagung widerspenstiger und die Stützung befreundeter Staaten rücke
dabei immer weiter ins Zentrum der EU-Planungen. Hierfür würden alle zur
Verfügung stehenden Machtmittel eingesetzt, "sanfte" ebenso wie "harte",
die nun im Europäischen Auswärtigen Dienst zusammengefasst würden. Um
die Grundidee dieser Bündelung von Instrumenten zu verdeutlichen,
zitierte Pflüger aus einer Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei
der Münchner Sicherheitskonferenz: „Die zentrale außenpolitische
Zielsetzung lautet, Politik und Handeln anderer Nationen so zu
beeinflussen, dass damit den Interessen und Werten der eigenen Nation
gedient ist. Die zur Verfügung stehenden Mittel reichen von freundlichen
Worten bis zu Marschflugkörpern.“ Denselben „integrierten Ansatz“ habe
jüngst auch der Europäische Rat in seinen Schlussfolgerungen vom
16.09.2010 propagiert, nämlich „dass alle einschlägigen Instrumente und
Politiken der EU und der Mitgliedstaaten vollständig und auf kohärente
Weise im Dienste der strategischen Interessen der Europäischen Union
eingesetzt werden."
Im ersten Beitrag zu den „sanften“ Machtmitteln der Europäischen Union
gab Malte Lühmann einen Überblick über die neoliberale
Außenwirtschaftspolitik und die ihr zugrunde liegenden Interessen und
Strategien. Er machte deutlich, dass die EU als größter Wirtschaftsraum,
Handelsblock und Investor der Welt über ein enormes strukturelles
Machtpotential verfügt, um ihre geoökonomischen Interessen
durchzusetzen. Die aktive Nutzung dieser Potentiale im Sinne eines
„Global Player“-EU habe seit den 70er/80er Jahren stetig an Bedeutung
gewonnen, was im Zusammenhang mit Machtverschiebungen innerhalb der
herrschenden Eliten zu sehen sei. Diese Neuausrichtung manifestiere sich
in der Lissabon-Strategie (2000) und insbesondere der
Global-Europe-Strategie (2006), die interne und externe
Wettbewerbsfähigkeit zum ultimativen Ziel der EU-Politik proklamierten.
In der Folge versuche die EU ihre Agenda der Liberalisierung und
Privatisierung im Interesse europäischer Konzerne überall auf der Welt
durchzusetzen. Am Beispiel der im Jahr 2000 gestarteten
EPA-Verhandlungen mit 79 Staaten des Südens in Afrika, der Karibik- und
Pazifikregion machte Lühmann auf die desaströsen Auswirkungen dieser
Politik aufmerksam. Gleichzeitig würden anhand der schwierigen und noch
immer nicht abgeschlossenen Verhandlungen aber auch die Grenzen der
sanften Machtpolitik deutlich, die in naher Zukunft möglicherweise, so
Lühmanns Sorge, durch die beispiellose Verschmelzung von Handels-
Entwicklungs- und Sicherheitspolitik im Rahmen des Europäischen
Auswärtigen Dienstes (EAD) überwunden würden.
Mittels der Beitritts- und Nachbarschaftspolitik, so Jürgen Wager im
anschließenden Beitrag, werde derzeit ein "Empire Europa", ein
hierarchisch strukturierter Großraum geschaffen. Die Öffnung für
westeuropäische Kapitalinvestitionen und Waren über sog. "Aktionspläne"
sei die Vorbedingung für die EU-Osterweiterung 2004 gewesen, was einem
Ausverkauf gleichgekommen sei. Gleichzeitig seien die Ausgleichzahlungen
nahezu auf null reduziert und die Stimmgewichte innerhalb der EU massiv
zugunsten der Großmächte verschoben worden.
Nicht einmal mehr eine Beitrittperspektive sei für die 16 Länder
vorgesehen, die an der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP)
teilnehmen. Es handele sich deshalb um eine "Expansion ohne
Erweiterung", mit dem Ziel, eine umfassende Freihandelszone und damit
einen großeuropäischen Wirtschaftsraum zu schaffen. Auch die nächste
Expansionshase werde derzeit schon ausgeplant, etwa von Mark Leonard,
dem Direktor des "European Council on Foreign Relations", der
beabsichtige, den EU-Großraum, von ihm als "Eurosphere" bezeichnet, auf
80 Staaten, u.a. auf ganz Afrika und den Mittleren Osten auszudehnen. So
nähmen mittlerweile die Konturen des "Imperium Europa" Gestalt an. "Im
Kern befinden sich die EU-Großmächte, darum gruppieren sich die alten
Mitgliedsländer (EU-15) und darum herum die politisch und wirtschaftlich
peripher angebunden Staaten der EU-Osterweiterung. Den äußeren Ring
bilden die ENP-Staaten und schließlich die Mitglieder der 'Eurosphere',
jener Großraum, in dem sich die Europäische Union immer offensiver als
imperiale Ordnungsmacht gebärdet und auch bereit ist, militärische
Gewalt zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen
Interessen anzuwenden", so Wagners Fazit.
Wie die Europäische Union ihre "sanften" Machtmittel zur Durchsetzung
ihrer Interessen einsetzt, veranschaulichte Martin Hantke darauf hin
anhand zweier konkreter Finanzinstrumente. "Das eine, das 'Instrument
für Demokratie und Menschenrechte', dient der Zerschlagung von Staaten,
das 'Instrument für Stabilität' wiederum dem Aufbau und der Stützung
befreundeter Regime", so Hantke. Frappierend sei am
Menschenrechtsinstrument vor allem die räumliche Verteilung der
Programme. Während beispielsweise viele Maßnahmen in linken Staaten
Lateinamerikas finanziert würden, würden zahlreiche Länder mit
verheerender Menschenrechtsbilanz, die aber mit der Europäischen Union
verbündet seien, systematisch ausgespart. Durch die Finanzierung von
Oppositionsbewegungen würde über das Menschenrechtsinstrument der
Nährboden für "bunte Revolutionen" bereitet, Umstürze, in denen
pro-westliche Machthaber mit massiver Unterstützung aus Brüssel (und
Washington) an die Macht kämen und anschließend einen Kurswechsel in der
Politik ihres Landes einleiten würden.
Ganz entgegengesetzt hierzu funktioniere das Stabilitätsinstrument. Mit
ihm würden v.a. Maßnahmen zum Aufbau von Armeen und Polizeien und
generell die Stützung "befreundeter" Regime finanziert. Beispielhaft
nannte Hantke ein Terrorabwehrzentrum der Afrikanischen Union in
Algerien, einem Staat, in dem verheerende Menschenrechtsverletzungen
begangen würden. "Welches Instrument zur Anwendung kommt, richtet sich
nicht danach, ob ein Land die Menschenrechte achtet oder nicht, sondern,
ob es nach der Pfeife der Europäischen Union tanzt", so Hantkes Fazit.
Den "harten" Machtmitteln widmete sich das zweite Panel des Kongresses
unter dem Titel „Und bist du nicht willig... EUropas militärischer
Kontrollapparat"
Arno Neuber verwies zu Beginn seines Vortrages darauf, dass es sich bei
der "Militärpolitik um den sich am schnellsten entwickelnden
Politikbereich innerhalb der Europäischen Union handelt." Obwohl die EU
militärisch eine weitgehende Autonomie anstrebe, spiele die Kooperation
mit der NATO in vielen Breichen eine zentrale Rolle und werde derzeit
massiv ausgebaut: "Die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO gestaltet
sich derzeit enger als dies in der Vergangenheit der Fall war, weil USA,
EU und NATO einen Macht- und Bedeutungsverlust des Westens konstatieren
müssen. Das zwingt sie dazu, Konkurrenzen zurück und Kooperationen in
den Vordergrund zu stellen."
Als Beispiel nannte Neuber die Schnelle EU-Eingreiftruppe, die 60.000
Soldaten umfasse, innerhalb 60 Tagen einsatzbereit und für ein Jahr
durchhalte fähig sein solle. Diese Truppe, die bei Bedarf
zusammengestellt werde, solle nicht nur für EU Einsätze verfügbar sein,
sondern im Bedarfsfall auch mit NATO-Eisätzen gekoppelt werden können.
Wie weit die Ziele und Ambitionen der EU reichen, sei im Dezember 2008
deutlich geworden. Damals habe der Europäische Rat ein neues
Anspruchsniveau formuliert: in Zukunft wolle sie in der Lage sein, bis
zu 19 Missionen parallel zu entsenden.
Außerdem würden Mitgliedsstaaten der EU gemeinsam weitere militärische
Fähigkeiten aufbauen. Dazu gehöre das EUROCorp, das aus 60.000 Soldaten
bestehe und in dem Deutschland und Frankreich die Hauptrolle spielen
würden. Ferner sei hier die deutsch-französische Brigade zu nennen, die
ständig präsent sei und die sowohl unter NATO- als auch EU-Kommando
eingesetzt werden könne. Schließlich führte Neuber noch die European
Gendarmerie Force auf, an der sich alle EU-Mitgliedsstaaten mit
paramilitärischen Truppen beteiligt würden. Auch sie könne sowohl im
Rahmen von EU als auch von NATO-Missionen, im Inland und im Ausland
sowie unter zivilem und militärischem Kommando eingesetzt werden. "Dies
ist die Truppe für jeden Fall und für jeden Bedarf", so Neuber.
Jonna Schürkes beschäftigte sich in ihrem Vortrag mit den
Sicherheitssektorreformen (SSR), die die EU als geeignetes Instrument
zur Durchsetzung ihrer Interessen vor allem in Ländern des globalen
Südens entdeckt habe. Von den 24 Missionen, die die EU seit 2003
entsandte, würde ein Großteil Elemente zur Reform des Sicherheitssektors
enthalten. Diese Reformen beschränkten sich im Allgemeinen darauf,
Soldaten und Polizisten auszubilden und auszurüsten sowie Militär- bzw.
Polizeiberater in die jeweiligen Länder zu entsenden. Ziel dieser
Missionen sei es, die Kontrolle der EU über diese Sicherheitskräfte zu
erhöhen und Regime zu unterstützen, die ihre Bevölkerung im Sinne des
Westens kontrollieren. Befreundeten Staaten baue die EU somit
Repressionsorgane auf, wobei es gleichgültig sei, ob es sich dabei um
demokratische oder autoritäre Regime handele.
Die zunehmende Bedeutung von SSR sei einerseits mit einer veränderten
Bedrohungswahrnehmung zu erklären, da inzwischen nicht mehr Staaten,
sondern vielmehr einzelne Bevölkerungsgruppen wie Terroristen,
Kriminelle, Migranten etc. zur Bedrohung des Westens erklärt worden
seien. Zum anderen hätten die massiven Probleme bei groß angelegten
„Stabilisierungseinsätzen“, wie beispielsweise Afghanistan dazu
beigetragen, dass man nach neuen – schlankeren –
Interventionsmöglichkeiten suche, die mit weniger eigenen Opfern und
geringeren Kosten verbunden seien.
Die EU sehe sich selbst als einen Akteur, der besonders erfolgreich SSR
durchführen könne. Hier zitierte Schürkes eine Mitteilung der Kommission
an den Rat und das Parlament zur SSR, in dem dies begründet werde: zum
einen habe die EU weit reichende Erfahrungen mit SSR im Zuge der eigenen
Erweiterung. Des Weiteren sei sie aufgrund der kolonialen Vergangenheit
ihrer Mitgliedsstaaten seit langer Zeit und in vielen Ländern der Welt
präsent und verfüge über gute Kontakte zu den Sicherheitskräften dieser
ehemaligen Kolonien. Und schließlich verfüge die EU über eine breite
Palette von zivilen und militärischen Instrumenten, die im Rahmen von
SSR-Missionen unter einem meist militärischen Kommando eingesetzt werden
könnten.
"’Robuste’ Bevölkerungskontrolle – Repressionsinstrumente vom
Drohneneinsatz bis zur gezielten Tötung" war der Titel des Vortrags von
Claudia Haydt. Sie beschrieb, wie von der EU unliebsame Einzelpersonen
und Gruppen ausgeschaltet würden. Auf Grundlage eines vollkommen
entgrenzten Terrorismusbegriffs würden von der EU so genannte
„Terrorlisten“ erstellt. „Wer auf dieser Terrorliste steht, über den
wurde zwar nicht eine faktische Todesstrafe, aber zumindest eine ‚zivile
Todesstrafe’ verhängt, weil diese Person in fast allen Bereichen des
zivilen Lebens handlungsunfähig wird“, fasste Haydt die Folgen dieser
Liste zusammen. Trotz der weit reichenden Auswirkungen für die Personen
auf dieser Liste sei ihre Erstellung in keinster Weise rechtsstaatlich
nachvollziehbar. Anhand der Bombardierung der Tanklaster bei Kunduz im
September 2009 sehe man die schwer wiegenden Folgen solcher Listen.
Diejenigen, die den Tanklaster entführten hätten, hätten auf der so
genannten JPEL (Joint Priority Effects List) – einer Art Todesliste –
der NATO gestanden. Personen, die auf diesen Listen stehen, seien zum
Abschuss freigegeben. Der Abschuss dieser Einzelpersonen werde zunehmend
von Drohnen ausgeführt, dabei handele es sich um außergerichtliche
Tötungen auch außerhalb des Kriegsgebietes, wie beispielsweise in
Pakistan. Diese Form der Kriegsführung habe in den letzten Jahren
deutlich zugenommen. Bisher setzte vor allem die USA Drohnen zur Tötung
unliebsamer Personen ein, bei denen häufig auch vollkommen unbeteiligte
Menschen getötet würden. Europäische Mitgliedsstaaten würden ebenfalls
Elemente dieser Form der Kriegsführung entwickeln. Die Europäische
Rüstungsagentur habe von Anfang an die Entwicklung von unbemannten
Drohnen als ihr Flaggschiff erklärt und in diesem Bereich umfangreiche
Forschungs- und Sponsoringprogramme aufgelegt.
Der Abendvortrag von Martin Hantke beschäftigte sich mit dem
Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD), der am 1. Dezember 2010 seine
Arbeit aufnehmen wird. Nicht zu Unrecht würde der Dienst von
Befürwortern wie Ulrike Guérot vom "European Council on Foreign
Relations" als "Kronjuwel des Vertrags von Lissabon" bezeichnet, denn er
werde die Politik der Europäischen Union ganz grundsätzlich verändern.
"Vergleicht man es mit Deutschland, entsteht hier ein Superministerium,
das die Kompetenzen des Außen- und Verteidigungsministerium in sich
vereint. Dazu kommen noch die wesentlichen Abteilungen des
Entwicklungsministeriums und Teile des Wirtschaftsministeriums."
Ziel sei es, die "Schlagkraft" der Europäischen Union über die Bündelung
sämtlicher Machtkapazitäten zu erhöhen, so Hantke. Besonders
problematisch sei die Integration nahezu sämtlicher militärischer und
zivil-militärischer EU-Strukturen in den EAD: "Vor diesem Hintergrund
müsste man richtigerweise von einem Militärisch Auswärtigen Dienst
sprechen", so Hantke. "Militärs werden künftig mit am Tisch sitzen, wenn
es um Fragen ziviler Konfliktbearbeitung oder die Vergabe von
Entwicklungshilfe geht: zivile Außenpolitik wird zugunsten einer
imperialen Machtpolitik aus einem Guss systematisch vor den Karren
militärlogischer Erwägungen gespannt", so die Kritik. Dies wiege umso
schwerer, da die wesentlichen Posten innerhalb des EAD nahezu
ausschließlich von den EU-Großmächten besetzt würden und das neue
Superministerium weder vom Europäischen Parlament noch den
nationalstaatlichen Parlamenten kontrolliert werden könne: "Was hier
stattfindet ist die Entfesselung sämtlicher EU-Machtpotenziale bar
jeglicher demokratischer Kontrolle", so das Fazit.
Der zweite Kongresstages beschäftigte sich vor allem mit konkreten
Länderbeispielen zu den doppelten Standards der EU-Politik. Den Auftakt
machte Jürgen Wagners Beitrag zum Gutachten des Internationalen
Gerichtshofs (IGH) über die Unabhängigkeit des Kosovo, das im Juli 2010
veröffentlicht wurde. Tatsächlich komme das Gutachten zu dem Ergebnis,
die Unabhängigkeitserklärung des kosovarischen Parlaments habe nicht
gegen das Völkerrecht verstoßen. Die hieraus von Politik und Medien
abgeleitete Schlussfolgerung, dass hierdurch auch die Anerkennung des
Kosovo durch den Großteil der westlichen Staaten rechtens gewesen und
damit ein neuer Staat auf der Landkarte entstanden sei, sei jedoch
unzulässig. Als Beleg hierfür zitierte Wagner aus dem Gutachten: "Die
Frage der Generalversammlung ist eindeutig formuliert. […] Sie fragt
nicht nach den rechtlichen Konsequenzen dieser Erklärung. Insbesondere
fragt sie nicht danach, ob der Kosovo damit zum Staat geworden ist. Noch
fragt sie nach Gültigkeit und Folgen der Anerkennung durch jene Staaten,
die den Kosovo anerkannt haben."
Obwohl also das Gurtachten fälschlicherweise als Persilschein für die
Zerschlagungs- und Anerkennungspolitik des Westens auf dem Balkan
gewertet wurde, wurde gleichzeitig von der Europäischen Union betont,
daraus leite sich keinesfalls das Recht ab, in ähnlich gelagerten Fällen
ebenfalls auf eine Sezession zu drängen. "Der Umgang mit dem Gutachten
ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich Politik und Medien die
Realitäten, in diesem Fall Völkerrecht und IGH-Gutachten, nach Gutdünken
im Sinne ihrer eigenen Prämissen zurechtinterpretieren – was nicht
passt, wird eben passend gemacht", so Wagner.
Claudia Haydt führte anhand des Themas "Pulverfass Kaukasus" aus, wie
die Europäische Union einerseits versucht, ihre Einflusssphäre auf
Kosten Russlands weiter auszudehnen und andererseits, wie instrumentell
die Frage der Anerkennung sezessionistischer Regionen gehandhabt wird.
Seit Jahren versuche die Europäische Union sowohl über zahlreiche
Programme wie INOGATE oder TRACECA, aber auch über verschiedene zivile
EU- und OSZE-Missionen in der öl- und gasreichen kaspischen Region
stärker Fuß zu fassen.
Das Ringen um Einfluss habe dabei im Sommer 2008 einen gefährlichen
Höhepunkt erreicht, nachdem Georgien – vom Westen militärisch
aufgerüstet und politisch unterstützt - die abtrünnige Region
Süd-Ossetien angriff. Russland reagierte hierauf mit dem Einmarsch und
der anschließenden Anerkennung Süd-Ossetiens (und Abchasiens). "Die kurz
zuvor erfolgte westliche Anerkennung der Unabhängigkeitserklärung des
Kosovo hat die Büchse der Pandora geöffnet. Aus Moskaus Sicht handelte
es sich hierbei um einen Präzedenzfall, weshalb es argumentierte, wer
den Kosovo anerkenne, könne Süd-Ossetien und Abchasien die
Unabhängigkeit nicht verweigern." Dennoch weigerten sich sowohl die USA
als auch die Europäische Union strikt Süd-Ossetien und Abchasien
anzuerkennen, würden aber gleichzeitig eisern daran festhalten, dass die
Abspaltung des Kosovo "rechtens" gewesen sei. "Hier treten die doppelten
Standards offen zu Tage. Aus westlicher Sicht sind Sezessionen dann
legal, wenn es sich um pro-westliche Regionen handelt und illegal, wenn
dies nicht der Fall ist. Das Völkerrecht wird dabei durch bloße Willkür
ersetzt", so Haydt.
Im Hintergrund der Auseinandersetzungen stünden geostrategische
Interessen, insbesondere die Verlegung von Pipelinerouten. Dies sei umso
Besorgnis erregender, da es in der kaspischen Region zahlreiche weitere
Konflikte gäbe, die ähnlich gelagert seien, wie Georgien. "Hört das
Ringen um Einfluss in der Region nicht auf, so droht das Pulverfass
Kaukasus jederzeit wieder hochzugehen", so die Befürchtung.
Ausgehend vom DESERTEC-Projekt beschrieb Christoph Marischka, wie die
vorherrschende Wirtschaftsweise Räume im nördlichen Afrika als
„Hinterhof“ definiere und eine dauerhafte imperiale Politik in diesen
notwendig mache. Technische Fortschritte im Bereich der erneuerbaren
Energien hätten es in letzter Zeit möglich gemacht, die
Energieversorgung zu dezentralisieren und damit auch die Kosten, Risiken
– aber auch die Gewinne – stärker zu streuen. Desertec stelle hingegen
den Versuch deutscher Kapital- und Energieunternehmen dar, diese Gewinne
zu „remonopolisieren“. Fünfzehn Prozent des europäischen
Energieverbrauches sollten demnach bis 2050 aus Solar- und
Windkraftwerken in Nordafrika importiert werden. Diese hätten Ausmaße,
dass von ihnen erhebliche Einschränkungen und Gefahren für die dortige
Bevölkerung ausgingen. Vor allem aber würden damit massive
Abhängigkeiten geschaffen, die wiederum eine Militarisierung der
Europäischen Union unausweichlich machen würden. Die Investitionen im
dreistelligen Milliardenbereich müssten über Jahrzehnte geschützt werden
und daher „auf Biegen und Brechen verhindert werden, dass in den
einzelnen Staaten bestimmte gesellschaftliche Kräfte an die Macht
kommen.“ In diesem Kontext sei auch etwa die Nato-Strategie zu sehen,
die eine Unterbrechung der Energiezufuhr als Angriff werten wolle.
Desertec sei für solche Abhängigkeiten jedoch nur ein besonders
plakatives Beispiel. Die Europäische Kommission hätte im Juni in
Zusammenarbeit mit der Industrie eine Liste 14 „neuer strategischer
Rohstoffe“ vorgelegt, deren Versorgung in den nächsten Jahren kritisch
werden könnte und hierzu „politische Maßnahmen zur Verbesserung des
Zugangs zu Primärressourcen“ eingefordert.
Wie solche politischen Maßnahmen aussehen können, beschrieb Marischka
anschließend zunächst an den Beispielen der Westsahara und des Sudans.
So werde die Besetzung der Westsahara durch die EU geduldet und sogar
inoffiziell unterstützt, weil Marokko die Ausbeutung der dortigen
Fischgründe und Phosphatvorkommen (knapp 40% der weltweiten Reserven)
ermögliche. Im Sudan hingegen würde die Abspaltung des ölreichen Südens
mit dem Aufbau neuer Polizeikräfte und Infrastrukturprojekten
vorbereitet und unumkehrbar gemacht. Gleichzeitig würde versucht, die
Zentralregierung mit allen denkbaren Mitteln - vom Haftbefehl gegen
Al-Bashir über Wahlbeobachtungsmissionen und einen Militäreinsatz im
benachbarten Tschad - zu destabilisieren.
In Somalia unterstütze die EU hingegen eine „Übergangsregierung“, die
als „theoretischer Zusammenschluss verschiedener Milizen“ de facto keine
Kontrolle im Land habe, weil diese ihr im Gegenzug das Recht einräume,
auf ihrem Territorium und in ihren Küstengewässern Piraten zu jagen. Die
Unterstützung beinhalte v.a. die Ausbildung somalischer Soldaten in den
Nachbarstaaten. Daher bediene sich Al-Shabaab, welche Somalia
größtenteils kontrolliere, zunehmend terroristischer Mittel. Die
Bekämpfung des Terrorismus nehme deshalb in der EU-Strategie gegenüber
Ostafrika eine wachsende Rolle ein. Im Sahel drohe sie bereits jetzt die
dominante Strategie zu werden. Als Hauptbedrohung werde von der EU die
Präsenz der Al-Kaida im islamischen Maghreb (AQIM) definiert und
entsprechend würden Spezialeinheiten und Trainingszentren für Polizei
und Militär aufgebaut. Dabei sei unklar, inwieweit es sich bei der AQIM
um ein Konstrukt handle. In einigen Fällen sei etwa der algerische
Geheimdienst an Operationen beteiligt gewesen, die der AQIM
zugeschrieben worden sei. Auch die mutmaßlichen Verbindungen zur
Organisierten Kriminalität wirkten häufig konstruiert (als Beispiel
wurde auf dieses Dokument verwiesen:
http://s3.amazonaws.com/nytdocs/docs/60/60.pdf). Insgesamt drohe der
ganzen Region eine „Terrorisierung“ von Aufständen und sozialen
Bewegungen, so Marischka abschließend: „Einerseits indem diese mit
Mitteln des Krieg gegen den Terror bekämpft werden, andererseits durch
die Gefahr, dass zumindest Teile von ihnen sich gerade wegen dieser
Maßnahmen gezwungen sehen, tatsächlich auf die Infrastrukturen und
Rückzugsräume der AQIM zurückzugreifen“.
Im Abschlusspodium wurden einerseits die Ergebnisse des Kongresses
zusammengefasst, andererseits wurde nach Antworten auf die Frage
gesucht, was man dieser Politik der Europäischen Union entgegensetzen kann.
Andrés Schmidt vom Ökumenischen Büro in München zeigte am Beispiel
Honduras, wie internationale Solidaritätsarbeit heute funktionieren
könnte. Zur Erläuterung welche Gruppen in Honduras derzeit Unterstützung
benötigen, erinnerte er an den Putsch gegen den demokratisch gewählten
Präsidenten Manuel Zelaya im Juni 2009 durch das honduranische Militär.
Dieser Putsch sei sowohl von den USA als auch von der EU und ihren
Mitgliedsstatten einhellig verurteilt worden. Allerdings habe die EU zum
Zeitpunkt des Putsches die Unterzeichnung eines so genannten
Assoziierungsabkommens mit den zentralamerikanischen Ländern
vorbereitet, weshalb sie sehr daran interessiert gewesen sei, in
Honduras schnell eine Regierung zu haben, die ein solches Abkommen
unterzeichnen könne. Der unter sehr undemokratischen Umständen Ende 2009
zum Präsidenten gewählte Präsident Perfirio Lobo habe das Abkommen
schließlich unterzeichnet, womit die Regierung von der EU als legitim
anerkannt worden sei.
Seit dem Putsch bestehe eine breite und starke Oppositionsbewegung in
Honduras, die die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung
fordere. Allerdings sei über diese Oppositionsbewegung in den deutschen
Medien kaum etwas zu erfahren. Die Solidaritätsarbeit bestehe darin, das
Thema und die Anliegen der Bewegung hier bekannt zu machen. Zudem sei es
ein probates Mittel der Solidaritätsarbeit, Menschen aus Europa in die
Länder des Südens zu schicken, die dann Personen aus den Sozialen
Bewegungen begleiten. Die Angst vor einer kritischen internationalen
Öffentlichkeit sei in diesen Regimen meist so hoch, dass
Menschenrechtsverletzungen zurückgehen würden. Des Weiteren bestehe die
Internationale Solidaritätsarbeit auch darin, Gelder für die soziale
Bewegung in Honduras zu sammeln. Man müsse der Politik des Staatenbaus
und der Staatenzerschlagung somit nicht ohnmächtig zuschauen, so das
Fazit von Schmidt.
Tobias Pflüger betonte zum Abschluss des Kongresses, dass es sich bei
der Europäischen Union nach dem Lissabon-Vertrag um eine vollkommen
andere Union handele als zuvor. Er konstatiert eine nach wie vor weit
verbreitete Euphorie gegenüber dieser Europäischen Union und sah in dem
Kongress einen Beitrag zur „Desillusionierung über den (neuen) Charakter
der EU“. Er rief dazu auf, das, was man sich auf diesem Kongress
erarbeitet habe, in die anderen sozialen Kämpfe zu tragen. Die
antimilitaristischen Kämpfe müssten stärker mit den Kämpfen gegen
Sozialabbau verbunden werden, schließlich sei „die neokoloniale,
imperialistische Militärpolitik der EU“ und deren Wirtschaftspolitik
„zwei Seiten einer Medaille“.
Die Informationsstelle Militarisierung bedankt sich bei allen, die zum
guten Gelingen des Kongresses beigetragen haben!
Mehr Informationen über die Mailingliste IMI-List