[IMI-List] [0323] AUSDRUCK (Februar 2010) / Analyse Hungeraufstände

Informationsstelle Militarisierung e.V. imi at imi-online.de
Fr Feb 19 11:57:05 CET 2010


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0323 .......... 14. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
Abo (kostenlos).. https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1) Viele neue Texte im IMI-Magazin AUSDRUCK (Februar 2010)

2) Eine Analyse zum Thema Hungeraufstände



1) AUSDRUCK (Februar 2010)

Mit dieser IMI-List stellen wir eine ganze Reihe neuer Texte ins 
Internet, die soeben in der neuen Ausgabe IMI-Magazins AUSDRUCK 
erschienen sind. Darunter finden sich u.a. Analysen zum Jemen als neuem 
Aufmarschgebiet im "Krieg gegen den Terror", über die sprachlichen 
Klimmzüge der Bundesregierung im Kontext des Afghanistan-Krieges sowie 
zum EU-Sicherheitsforschungsprogramm, das sich zu einem verdeckten 
Rüstungsetat entwickelt.

Mit der ersten Ausgabe im neuen Jahr haben wir auch das Layout gründlich 
überarbeitet und - hoffentlich - damit verbessert. Mitglieder und 
Förderer der Informationsstelle Militarisierung erhalten den AUSDRUCK 
kostenlos in gedruckter Form (siehe: 
http://www.imi-online.de/2003.php?id=658).

Die komplette Ausgabe findet sich aber wie immer auch als download auf 
der IMI-Homepage:
http://www.imi-online.de/download/AusdruckFeb2010_web.pdf


INHALTSVERZEICHNIS

NEUE KRIEGE
-- Klaus Pedersen
Hungerrevolten sind keine "chaotischen Gewaltausbrüche"
http://imi-online.de/download/KP_FootRiots_AusdruckFeb2010.pdf

-- Christoph Marischka
Eindimensionales Sicherheitsdenken in Haiti oder: Die bejubelte Invasion
http://imi-online.de/download/CM-Haiti-AusdruckFeb2010.pdf

-- Jürgen Wagner
Jemen: Nächstes Aufmarschgebiet im "Krieg gegen den Terror"
http://imi-online.de/download/JW-Jemen-AusdruckFeb2010.pdf

-- Jonna Schürkes und Christoph Marischka
The world at peace is a very dangerous place: Weniger letale Waffen in 
"kleinen" Kriegen
http://imi-online.de/download/JS-CM-NLW-AusdruckFeb2010.pdf


AFGHANISTAN
-- Arno Neuber

Den Krieg führen - mit noch mehr Soldaten: Die Bundeswehr sucht nach 
einer Sprachregelung für den Kriegseinsatz in Afghanistan
http://imi-online.de/download/AN-Afghanistan-AusdruckFeb2010.pdf

-- Michael Haid
Showveranstaltung: Zur Londoner Afghanistan-Konferenz
http://imi-online.de/download/MH-Afghanistan-AusdruckFeb2010.pdf


DEUTSCHLAND UND DIE BUNDESWEHR
-- Michael Schulze von Glaßer
Psychologische Kriegsführung: Wie die Bundeswehr die Klassenzimmer erobert
http://imi-online.de/download/MSG-BWSchule-AusdruckFeb2010.pdf

-- Andreas Seifert
Ein Zivilkläuselchen - Zur Rüstungsforschung an der Universität Tübingen
http://imi-online.de/download/AS-Zivilklausel-AusdruckFeb2010.pdf


NATO
-- Jürgen Wagner
Alle Jahre wieder: Säbelrasseln auf der Münchner Sicherheitskonferenz
http://imi-online.de/download/JW-Siko-AusdruckFeb2010.pdf


EU-MILITARISIERNG
-- Sabine Lösing und Jürgen Wagner
Rüstung durch die Hintertür: Das EU - Sonderforschungsprogramm
http://imi-online.de/download/SL-JW-EUSicherheitsforschung-AusdruckFeb2010.pdf 


-- Sabine Lösing und Jürgen Wagner
EU-Militarisierung 2020: Ein Blick in die Kristallkugel
http://imi-online.de/download/SL-JW-EuMil-AusdruckFeb2010.pdf



2) IMI-Analyse zu Hungeraufständen


IMI-Analyse 2010/006 - in: AUSDRUCK (Februar 2010)
Food Riots sind keine "chaotischen Gewaltausbrüche"
http://www.imi-online.de/2010.php?id=2076
http://imi-online.de/download/KP_FootRiots_AusdruckFeb2010.pdf
16.2.2010, Klaus Pedersen


Die Zukunft verheißt nichts Gutes. Experten rechnen mit einer 
Verdopplung der Zahl der chronisch hungernden Menschen bis zum Jahr 
2030.1 Das Scheitern des Klimagipfels in Kopenhagen im Dezember 2009 und 
das kaum überraschende Beharren auf den bisherigen Positionen der 
Landwirtschafts- und Ernährungspolitik seitens der führenden 
Industrieländer lassen vermuten, dass die Zuspitzung der 
Welternährungskrise noch dramatischer verlaufen wird als bisher 
eingestanden -- ein Trend, der Erinnerungen an die Hungerrevolten der 
jüngsten Zeit wach ruft. In den Jahren 2007/2008 wurde über "Food Riots" 
in 39 Ländern berichtet. Zeitliche Dichte und globale Verbreitung dieser 
Ereignisse waren beispiellos und weckten auf unsanfte Weise 
entsprechende Sicherheitsbedenken in den Zentren der Macht. Da die 
Wiederkehr von Hungerrevolten nur eine Frage der Zeit ist, macht es 
Sinn, sich mit diesem Thema auch dann zu beschäftigen, wenn es nicht 
unmittelbar die Schlagzeilen der Weltpresse beherrscht.


Die Sorgen der Eliten

"Wenn es zu einem Klassenkampf kommt, dann unterminiert das die 
Stabilität der Gesellschaft", konstatierte Ifzal Ali, Chef-Ökonom der 
Asiatischen Entwicklungsbank, in Bezug auf die Welle von Food Riots.2 
Bettina Rudloff von der Stiftung Wissenschaft und Politik glaubt einen 
zweistufigen Prozess zu erkennen: zunächst die Entstehung einer 
Versorgungskrise (Versorgungsengpässe, Preisanstieg), gefolgt vom 
Ausbruch des Konflikts. Sie ruft nach "umfassenden Maßnahmen zur 
politischen Stabilisierung", ohne zu verraten, was sie bei der 
Aufzählung der Maßnahmen mit "last but not least stabilen effektiven 
Governance-Strukturen" meint.3 Doch das "Modell Haiti", bei dem jetzt 
die US-Streitkräfte jene "Stabilisierung" vollenden, die nach den 
Hungerprotesten im April 2008 von UNO-Truppen begonnen wurde,4 lässt 
erahnen, worum es geht. Das Online-Magazin NATO Brief widmete im Mai 
2008 eine komplette Ausgabe diesem Thema.5 Drei Hauptsorgen wurden in 
den Beiträgen zum Ausdruck gebracht: Erstens wurde die Zunahme sozialer 
und politischer Unruhen in vielen Ländern als die "alarmierendste und 
unmittelbare Folge" der Nahrungsmittelkrise bezeichnet.6 "Früher oder 
später werden wahrscheinlich zig, wenn nicht hunderte Millionen 
reagieren", wenn sie erleben, dass die Lebensmittel für sie aufgrund der 
Preisentwicklung außer Reichweite rücken.5 Zweitens wurde die Sorge 
artikuliert, dass sich "enttäuschte junge Männer" radikalen Lösungen 
zuwenden könnten. "Das würde ... kurzfristig einen Einfluss auf unsere 
Soldaten haben und mittel- bis langfristig unsere eigene Sicherheit 
beeinflussen."5 Teil dieser radikalen Lösungen seien Überfälle auf 
Lebensmitteltransporte, die -- speziell in Afghanistan -- im Rahmen des 
"Comprehensive Approach" in die zivil-militärische Zusammenarbeit 
integriert sind. Afghanistan ist eines der vom Welternährungsprogramm 
(WFP) am stärksten unterstützten Länder. Dort hat es 30 Angriffe auf 
Nahrungsmitteltransporte des WFP allein im Jahr 2007 gegeben.7 Drittens 
entstanden bei den europäischen Regierungen Ängste vor einem erhöhten 
Migrationsdruck nicht nur durch Naturkatastrophen und die allgemeine 
soziale Misere in den Ländern des Südens, sondern nunmehr auch durch 
Preisexplosionen bei Lebensmitteln.8 Die reflexartige Reaktion der 
Institutionen auf solche Szenarien findet in Gebilden wie FRONTEX ihren 
Niederschlag.9


Historischer Rückblick

Food Riots hatten in Europa eine lange Tradition, die von der Mitte des 
16. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts reichte, 
bis sie dann durch die entstehenden Gewerkschaftsbewegungen abgelöst 
wurden. Die Food Riots von 2007/2008 bestätigen die von Walton und 
Seddon10 beschriebenen Gemeinsamkeiten zwischen den historischen Food 
Riots in Europa und den heutigen Hungerrevolten in den Ländern des 
Südens. Das vielleicht wichtigste Merkmal ist, dass das 
Schlüsselargument westlicher Sicherheitsstrategen, es handele sich um 
chaotische Gewaltausbrüche, nicht zutrifft. Mit dieser Behauptung wird 
jedoch die gewaltsame Unterdrückung derartiger Proteste gerechtfertigt. 
Deshalb soll nachfolgend diese Behauptung ausführlich untersucht und 
damit ihre Unhaltbarkeit belegt werden. Denn, was auf die historischen 
Brotrevolten zutrifft und für die Food Riots von 2007/2008 belegt werden 
kann, darf auch für die Proteste der Zukunft unterstellt werden: Zwar 
ist der konkrete Zeitpunkt des Beginns solcher Aktionen oftmals spontan 
(der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt). Doch bereits Thompson 
erkannte, dass Aktionen dieser Art einen kohärenten politischen Zweck 
verfolgen und "eine hoch komplexe Form der direkten Aktion darstellen, 
diszipliniert und mit klaren Zielvorstellungen."11

Walton und Seddon, die ihre Analyse der Food Riots aus der Periode der 
vom Internationalen Währungsfonds verordneten 
Strukturanpassungsprogramme mit einem Rückblick auf die historischen 
Brotrevolten verbanden, kamen zu dem Schluss, dass die am besten belegte 
Tatsache jene ist, dass es sich bei den Food Riots nicht um "chaotische, 
gewalttätige Ausbrüche irrationaler Massen handelt, sondern um 
organisierte, zweckbestimmte Aktionen", was sich ihrer Ansicht nach vor 
allem anhand der Selektion der Zielobjekte dieser Revolten belegen 
lässt.10 Die Protestierenden randalieren nicht wahllos, sondern richten 
ihren Zorn gegen bestimmte Personen und Institutionen, denen von den 
Massen die Verantwortung für die herrschenden Ungerechtigkeiten 
zugeschrieben werden. Organisiertheit und Selektivität der Aktionen sind 
auch für 2007/2008 dokumentiert.12


Die Riots von 2007/2008

Die landesweiten Proteste, die am 28. Februar 2008 in Kamerun begannen, 
waren ursprünglich von mehreren Transportgewerkschaften ausgerufen 
worden, die jedoch einen Tag später ihren Aufruf ängstlich zurücknahmen. 
Daraufhin wurden die Proteste von einer weitgehend "anonymen Masse" 
Jugendlicher (meist mit Abitur oder Realschulabschluss) getragen, die 
sich als Moped-Taxifahrer mehr schlecht als recht durchs Leben 
schlagen.13 Allein in der Wirtschaftsmetropole Douala wird ihre Zahl auf 
42.000 geschätzt.14 Einerseits über Mobiltelefone gut vernetzt, hatten 
sie andererseits weder eine sichtbare Struktur noch erkennbare 
Führungspersönlichkeiten, auch keine nach außen vorgetragenen 
Forderungen. Doch sie koordinierten die Proteste so effektiv, dass die 
Millionenstadt Douala am Morgen des 25. Februars innerhalb einer Stunde 
lahm gelegt war. Diese Jugendlichen gehören laut Peltzer nicht zu den 
extrem marginalisierten Bevölkerungsteilen, sind aber ohne Perspektive 
und "im Übrigen auch diejenigen, die sich am ehesten an die Küsten 
Senegals und Mauretaniens aufmachen, um nach Europa zu gelangen."13 
Binnen kurzer Zeit breitete sich der Streik auf die zehn größten Städte 
aus, es kam zur Blockade der großen Überlandstraßen, und selbst der 
internationale Flughafen von Douala war zeitweise geschlossen. Ziel der 
Aktionen waren Rathäuser, Polizeikommissariate und Steuerbüros. Es kam 
zu zahllosen Attacken gegen französische Firmen und Firmen, die zum Clan 
des verhassten Präsidenten Paul Biya gehörten. Die Protestierenden 
brachten also ziemlich genau zum Ausdruck, wen sie meinten. Nach vier 
Tagen war die Revolte im Blut erstickt. Die mit massiver Gewalt 
unterdrückten Proteste kosteten nach Einschätzung der kamerunischen 
Menschenrechtsorganisation Maison des Droits de L'Homme 200 
Menschenleben. Hinzu kamen Dutzende Schwerverletzte und 1.500 in 
Schnellverfahren Verurteilte.

Ende Februar 2008 gab es in Burkina Faso in den Städten Banfora, 
Bobo-Dioulasso, Ouhigouya und der Hauptstadt Ouagadougou militante 
Proteste gegen die drastisch steigenden Lebensmittelpreise und es wurde 
zu einem zweitägigen Generalstreik Anfang April aufgerufen. Während der 
Proteste in Bobo-Dioulasso, der zweitgrößten Stadt des Landes, griffen 
die DemonstrantInnen Regierungsgebäude an und setzten Geschäfte, Autos 
und Tankstellen in Brand. Eine Regierungsdelegation wurde mit Steinen 
beworfen und verjagt. Am 15. März 2008 gab es in mehreren Städten große 
Kundgebungen, denen am 08. und 09. April der angekündigte Generalstreik 
folgte, der von den Organisatoren - einer nationalen Koordination, 
bestehend aus Gewerkschaftszentralen, autonomen Gewerkschaften sowie 
Gruppierungen sozialer Bewegungen - als enormer Mobilisierungserfolg 
gewertet wurde. Während des Generalstreiks kam es laut Polizeiangaben zu 
264 Verhaftungen. Zugleich wurden aber dem Regime von Blaise Compaorés 
(der 1986 die Volksregierung von Thomas Sankara durch einen Putsch 
beseitigt hatte) Preissenkungen bzw. Preisfestschreibungen abgetrotzt, 
und die Importzölle für Nahrungsmittel wurden gesenkt. Es gab eine 
"informelle" Blockade von Lebensmittelexporten, und ein Teil der 
strategischen Notvorräte der Regierung wurde in Umlauf gebracht, um den 
Preisdruck auf die Lebensmittel zu verringern.15

Die Demonstrationen in Haiti begannen am 3. April 2008 in Le Cayes, 
breiteten sich über andere Städte aus und erreichten am 7. April die 
Hauptstadt Port-au-Prince. Seit vielen Monaten war es zu einem Anstieg 
der Preise für Grundnahrungsmittel gekommen. Der Anblick von 
attackierten Gebäuden und Autos wurde zur Normalität. Die Menschenmengen 
machten ihrem Zorn über die Gleichgültigkeit der haitianischen Eliten 
Luft. Am 12. April trat Premier Jacques Edouard Alexis zurück, was 
allerdings nicht zu einem Politikwechsel führte -- er wurde von den 
herrschenden Eliten als Sündenbock geopfert. Als er zuvor in einer Rede 
sagte, bei vielen Protestierenden handle es sich nur um Gangster und 
Drogendealer (eine Sichtweise, die von den internationalen Medien 
allgemein kolportiert wurde), eskalierten die Proteste. Einige 
DemonstrantInnen sagten, seit dem Staatsstreich 2004 habe sich ihre 
Situation dramatisch verschlechtert. Selbst unter einem nahezu totalen 
Embargo habe die damalige Regierung Aristide weiterhin subventionierte 
Nahrungsbanken in den ärmsten Slums unterhalten. Unterstützung für die 
Fanmi Lavalas, die politische Bewegung unter Führung des heute 
exilierten Präsidenten Aristide, schien unter den Demonstranten weit 
verbreitet zu sein. Im März, kurz vor den Food Riots, hatten 
studentische AktivistInnen dem Landwirtschaftsminister Francois Severin 
sieben spezielle Empfehlungen zur Revitalisierung des haitianischen 
Landwirtschaft übergeben, die gegen jene ruinöse, von IWF und Weltbank 
diktierte Agrarpolitik gerichtet war, die das Land seit 1986 plagt. Die 
Einkommen auf dem Land und die Ernten fielen seither in den Keller. Die 
Nahrungsversorgung wurde (insbesondere bei Reis) von Billigimporten und 
damit von der internationalen Preisfluktuationen abhängig und ließ 
Haitis Bauern zu Arbeitslosen werden. Von seiner ursprünglichen Aussage, 
dass er die studentischen Empfehlungen akzeptiere, rückte Severin kurze 
Zeiter später wieder ab -- ein weiterer Affront im Vorfeld der Food 
Riots.16

Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. In Ägypten, das 
jährlich 7 Millionen Tonnen Weizen importieren muss, wurde angesichts 
steigender Brotpreise und bevorstehender Scheinwahlen für den 06. April 
2008 ein Generalstreik ausgerufen, für den im Vorfeld eine Reihe 
unabhängiger Organisationen mobilisiert hatte (die offiziellen 
Gewerkschaften sind ein Arm der Regierung) -- kaum ein Ausdruck für 
chaotische Gewaltausbrüche des "Mobs".17 In Gabun war für den 22. April 
2008 eine Demonstration gegen die steigenden Lebensmittelpreise 
angemeldet worden, die dann kurz vorher verboten wurde. Die 
Mobilisierung dafür erfolgte gemeinsam durch zwei Initiativen, die 
"Koalition gegen die Teuerung" und den "Schrei der Frauen". Die 
Demonstration fand trotzdem statt und wurde gewaltsam unterdrückt.18 
Verschiedene soziale Bewegungen dokumentierten in einer am 29. April 
2008 veröffentlichten Preseerklärung ("Répression des organisations de 
la société civile") die erlittene Repression und riefen zum Protest 
auf.19 In Honduras hatte für den 17. April 2008 die "Koordination des 
Volkswiderstands" (der alle Gewerkschaften und alle Bauernvereinigungen 
des Landes angehörten) zu einem nationalen Streiktag aufgerufen, um den 
Forderungen eines 12-Punkte-Plans Nachdruck zu verleihen. Die 
wichtigsten Punkte dieses Forderungsprogramms betrafen die Verteuerung 
der Grundnahrungsmittel, die Wasserprivatisierung und die Durchführung 
einer wirklichen Landreform. Vergeblich versuchte die damalige Regierung 
Zelaya (zu jenem Zeitpunkt noch auf neoliberalem Kurs) mit massiver 
Polizeigewalt die zahlreichen Straßenblockaden, die sich quer durchs 
Land zogen, zu zerschlagen.20 Am 23. September 2007 demonstrierten in 
Sefrou, Marokko, mehrere tausend Menschen wegen der gestiegenen Brot-, 
Kaffee-, Tee-, Zucker- und Milchpreise. Mehrheitlich aus Frauen und 
Jugendlichen bestehend, versuchte die Menge zum Verwaltungsgebäude der 
Stadt zu gelangen. Armee und Polizei blockierten die Straßen, woraufhin 
die Demonstration eskalierte und zur Beschädigung öffentlicher Gebäude 
führte.21 In Tunesien, einem Land über das in der Weltpresse wenig zu 
erfahren ist, gab es seit Januar 2008 immer wieder heftige Proteste in 
der Region Gafsa, dem wirtschaftlich wichtigen Phosphatrevier. Die 
Proteste richteten sich gegen die auch in Tunesien heftigen 
Preissteigerungen für Lebensmittel. Der Gewerkschaftsbund UGTT war ein 
maßgeblicher Organisator dieser Proteste.22


"Chaotische Gewaltausbrüche" -- ein mediales Konstrukt

Was mit dieser Aufzählung verdeutlicht werden soll, ist, dass der 
tatsächliche Ablauf der Ereignisse in diesen Ländern deutlich von dem 
durch die Medien vermittelten Bild abweicht. Es besteht also der 
begründete Verdacht, dass die gebetsmühlenartig wiederholte Behauptung, 
Food Riots seien chaotische Gewaltausbrüche, einem bestimmten 
politischen Zweck dient, nämlich der Legitimierung des Einsatzes 
staatlicher, in manchen Fällen internationaler Repression. Dabei 
beeinflusst diese mediale Konstruktion nicht nur die breite öffentliche 
Meinung, sondern auch die Ansichten von MeinungsträgerInnen, die es 
eigentlich besser wissen müssten. So scheint die Leiterin der Abteilung 
für Ökonomische Sicherheit des Internationalen Roten Kreuz Komitees, 
Barbara Boyle Saidi, die Akteure verwechselt zu haben, als sie am 27. 
Mai 2008 in einem Interview "die Behörden und insbesondere die 
Sicherheitskräfte [dazu drängte], die Bevölkerung vor möglichen 
Gewaltausbrüchen im Zusammenhang mit hohen Nahrungsmittelpreisen zu 
schützen", auch wenn sie zugleich die Sicherheitskräfte aufforderte, vom 
Einsatz exzessiver Gewalt abzusehen.23 Äußerungen von J. M. Sumpsi 
Viñas, Assistant Director-General der Welternährungsorganisation (FAO), 
stellen eine indirekte Diffamierung der sozialen Bewegungen in den 
Ländern des Südens dar, wenn er schreibt, dass das "Risiko [sozialer und 
politischer Unruhen] besonders hoch in Ländern [ist], die gerade einen 
gewalttätigen Konflikt hinter sich haben und in denen die brüchige 
Sicherheit und der politische oder wirtschaftliche Fortschritt recht 
einfach entgleisen können."6 Wie die oben genannten Beispiele zeigen, 
sind es eben nicht die sogenannten "failed states", sondern eher Länder 
mit etablierten sozialen Bewegungen, in denen es zu Protesten gegen die 
Auswüchse des neoliberalen Wirtschaftssystems kommt. Aus seiner 
Perspektive fordert Sumpsi folgerichtig das "Einbeziehen von 
ernährungsbezogenen Unruhen in die Konflikt-Frühwarnsysteme" und 
"Überlegungen, wie Behörden und Missionen zur Friedensförderung (sprich: 
Militäreinsätze, P.C.) besser mit Massenaufständen umgehen können." Zu 
den "Überlegungen zur Friedensförderung" dürften auch die Kurse für hohe 
Polizeibeamte aus den Ländern des Südens gehören, die im Center of 
Excellence for Stability Police Units (COESPU) in Vicenza, Italien, 
durchgeführt werden.4 Unter den Kursteilnehmer, waren auch Polizisten 
aus Kamerun, Kenia, Pakistan und Senegal, also Ländern, wo 
Hungerproteste brutal unterdrückt wurden. Im oben zitierten NATO Brief 
klagt die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan 
über "praktische Sicherheitsfragen" wie Demonstrationen, die nach ihrer 
Ansicht "auf das mangelnde Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit in 
Afghanistan zurückzuführen sind, dass die steigenden Lebensmittelpreise 
Teil eines globalen Phänomens sind."7 Wollten die Autoren damit sagen, 
dass "globale Phänomene" als unabwendbar hinzunehmen sind? Insgesamt ist 
zu erkennen, dass in den Zentren der Macht mehr Wert auf die "Kontrolle" 
der Ernährungskrise und ihrer Folgen gelegt wird, als auf deren Lösung.

Das Streben nach einer tatsächlichen Lösung würde dringende und 
grundlegende Veränderungen in der globalen Landwirtschaftspolitik 
bedeuten. Doch diese sind nicht in Sicht. So erinnert das Beharren auf 
einer perspektivlosen Welternährungspolitik24 in Kombination mit den 
Food Riots an die alte Formel, dass der Kapitalismus seinen eigenen 
Totengräber schafft. Die modernen Food Riots spielten sich bislang vor 
allem in der Peripherie des globalen Kapitalismus ab, wenngleich in 
deren urbanen Zentren. Dabei enthält die Liste der Länder mit Food Riots 
der Periode von 1976 bis 1992, die Walton und Seddon10 präsentierten, 
ein aus heutiger Sicht interessantes Detail. In ihrer Tabelle der 39 
Riot-Länder ist nicht nur das Jahr der ersten (und in etlichen Fällen 
einzigen) Hungerrevolte aufgeführt, sondern auch die Summe dieser 
Ereignisse in der gesamten Periode. Mit 14 Food Riots nimmt Peru die 
Spitzenposition ein. In zwölf Ländern gab es jeweils nur eine 
Brotrevolte. Doch unter den sieben Spitzenplätzen (Länder mit 7 Food 
Riots und mehr innerhalb der 17jährigen Erfassungperiode) befinden sich 
Bolivien (13) und Venezuela (7). Außerdem sind mit Brasilien (11) und 
Argentinien (11) zwei weitere Länder unter den Top-Sieben, die in 
jüngerer Zeit zumindest ansatzweise eine anti-neoliberale Politik bzw. 
eine Politik zu mehr sozialem Ausgleich erkennen ließen. Der Rückblick 
auf die vergangenen drei Jahrzehnte liefert also Indizien dafür, dass 
Food Riots Teil eines komplexeren Prozesses der Transformation zu mehr 
sozialem Ausgleich zu sein scheinen.


Schlussfolgerungen

Betrachtet man die globale Sicherheits-(=Repressions-)Politik des 
Westens, die Geschichte der Food Riots und die Sackgasse, in der sich 
die globale Landwirtschaft heute befindet, im Zusammenhang, lassen sich 
folgende Thesen ableiten: (1) Empirische Befunde weisen darauf hin, dass 
Food Riots Teil komplexer gesellschaftlicher Prozesse zur 
gesellschaftlichen Veränderung bis hin zu Ansätzen eines Systemwandels 
darstellen. (2) Trotz einer sich konsolidierenden landwirtschaftlichen 
Alternative,25 ist in näherer Zukunft keine globale Trendwende zu einer 
sozial und ökologisch verträglichen Landwirtschaft zu erwarten. Food 
Riots finden in urbanen Zentren statt. Mit der zu befürchtenden weiteren 
Ausbreitung eines Modells der industriellen Landwirtschaft in den 
Ländern des Südens setzt sich die Urbanisierung der Weltbevölkerung 
fort, d. h. das Riot-Potenzial in den Ballungsräumen des Südens 
verstärkt sich, insbesondere wenn die gravierenden 
Verteilungsungerechtigkeiten beibehalten oder gar verstärkt werden. 
Parallel dazu lässt sich eine Zunahme von Unruhen in einigen Ländern 
West- und Osteuropas prognostizieren, die "eine tiefe Verzweiflung über 
die ökonomischen Perspektiven, die selbst für junge Leute mit guter 
Ausbildung" und "eine scharfe Kritik am starren Klassensystem und an der 
Korruption der politischen Klasse" reflektieren.26 (3) Die herrschenden 
Eliten werden auch künftig darauf setzen, Unruhen mit 
"Sicherheitspolitik" unter Kontrolle zu bringen, wobei sich die globale 
Sicherheitspolitik, ähnlich wie die Landwirtschafts- und Klimapolitik, 
in einer Sackgasse befindet.

Die Ereignisse der Jahre 2007/2008 bestätigen und relativieren die 
Analyse von Walton und Seddon.10 Einerseits bestätigen sie deren 
Erkenntnis, dass in der Regel zwar eine enge allgemeine Beziehung 
zwischen Food Riots und Preiserhöhungen bzw. Versorgungsengpässen für 
Lebensmittel besteht. Eine unmittelbare zeitliche Verknüpfung zu Hunger 
als sozialem Phänomen (Hungersnot) besteht jedoch meistens nicht. In der 
Vergangenheit war der fehlende Zugang zu Lebensmitteln meist nur einer 
von mehreren Gründen für den Ausbruch von Food Riots. Diese Proteste 
begleiten den Neoliberalismus des ausgehenden 20. und beginnenden 21. 
Jahrhunderts ähnlich wie sie den Wirtschaftsliberalismus des 18./19. 
Jahrhunderts begleiteten. Doch während Food Riots vor 200 Jahren eine 
frühe Form des collective bargaining waren, mit dem kurz gesteckte Ziele 
gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zur Verhandlung gebracht wurden, 
gibt es Indizien dafür, dass die heutigen Proteste in den afrikanischen, 
asiatischen und lateinamerikanischen Ländern Teil eines komplexen 
gesellschaftlichen Transformationsprozesses sind. Häufig werden sie von 
Basisinitiativen, Gewerkschaften und anderen oppositionellen Gruppen 
vorbereitet und organisiert. Diese Analyse scheint von den Zentren der 
Macht geteilt zu werden, denn die stereotyp wiederholte Behauptung, Food 
Riots seien chaotische Gewaltausbrüche (womit der Einsatz staatlicher 
bzw. internationaler Repression legitimiert wird), lässt darauf 
schließen, dass man die drohende gesellschaftliche Transformation ernst 
nimmt. Da "Armutsbekämpfung das heiligste Ziel der internationalen 
Rhetorik" ist und der Reflex des herrschenden Systems in technological 
fixes besteht, um der "Knappheitsschere" zu begegnen,27 statt tragfähige 
gesellschaftliche Lösungen durchzusetzen, scheint das Riot-Potenzial für 
die Zukunft gesichert zu sein.


ANMERKUNGEN:

1 De Schutter, O. (2010) : Herausforderungen des Agrarhandels im 
Spannungsfeld der Ernährungs-, Klima- und Wirtschaftskrise. Keynote. 
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.
2 "Biosprit-Anbau lässt Reispreise steigen", 04.04.2008, www.tagesschau.de
3 Rudloff, B.(2009): Aufstand der Ausgehungerten. Internationale Politik 
Nr. 11/12, S. 38-44.
4 Marischka, C. (2008): Haiti und der Krieg gegen die Armut, Ausdruck, 
Juni 2008, http://www.imi-online.de/download/CM-HaitiHunger-juni-08.pdf
5 NATO Brief 5/2008, http://www.nato.int/docu/review/2008/05/DE/index.htm
6 Sumpsi Viñas, J. M. (2008): Ein hungriger Mann ist ein zorniger Mann, 
NATO Brief 5/2008.
7 "Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?", Interview mit 
Vertretern der UNAMA, NATO Brief 5/2008.
8 "Ernährung und Sicherheit -- Fragen und Antworten", NATO Brief 5/2008.
9 Informationsstelle Militarisierung (2009): Frontex -- Widersprüche im 
erweiterten Grenzraum, 
http://www.imi-online.de/download/frontex2009-web.pdf
10 Walton, J., Seddon, D. (1994): Free markets and food riots. The 
politics of global adjustment. Oxford UK & Cambridge USA.
11 Thompson, E.P. (1971): The moral economy of the English crowd in the 
eighteenth century. Past and Present 50, S. 76-136.
12 Pedersen, K. (2008): Die weltweiten Hungerrevolten (Food Riots) 
2007/2008. Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 76, Dez. 2008, S. 
42-50.
13 Peltzer, R. (2008): Neue Brotaufstände? Die Proteste in Kamerun. Im 
Schatten steigender Lebensmittel- und Ölpreise, in: Informationsbrief 
Weltwirtschaft & Entwicklung, 4.3.2008.
14 Wiedemann, C. (2008): Dunkle Krawalle. Freitag Nr. 27, 04.07.2008.
15 "Burkina Faso", 24.10.2008, www.labournet.de.
16 Sprague, J. (2008): Hunger-Proteste auf Haiti, 
http://zmag.de/artikel/hunger-proteste-auf-haiti
17 "Brotpreis, Streiks und Staatsgewalt: Ein Regime zittert - und 
schlägt um sich...", 11.04.2008, http://www.labournet.de
18 "Gabun", 24.10.2008, www.labournet.de
19 "Communique de Presse des Organisations de la Societe Civil 
Gabonaise", 29.04.2008, www.presseafricaine.info
20 "Privatisierung und Widerstand", 21.11.2008, www.labournet.de
21 Schmid, B. (2007): Marokko nach den jüngsten "Brotrevolten", 
02.10.2007, www.labournet.de
22 "Gafsa: Ben Alis Polizei kann Proteste nicht stoppen - seine Partei 
auch nicht", Interview mit Adnan Birbaoun, 18.04.2008, www.labournet.de
23 Boyle Saidi, B. (2008): Food crisis: the rising human cost. 
http://www.icrc.org/web/eng/siteeng0.nsf/html/food-crisis-interview-270508
24 Hoering, U. (2009): Weltgipfel Ernährungssicherheit: Hauen und 
Stechen. http://www.globe-spotting.de/comments.html#anker
25 Martínez-Torres, M.E., Rossett, P.M. (2010): La Vía Campesina: the 
birth and evolution of a transnational social movement. J. Peasant 
Studies 37, S. 149-175.
26 Klare, M.T. (2009): Von Haiti bis Wladiwostok. Eine Weltkarte der 
Krise. Le Monde Diplomatique, Ausgabe v. 8.5.2009. 
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2009/05/08.mondeText.artikel,a0022.idx,21 

27 Sachs, W. (2010) : Von Doha nach Rom, Genf und Kopenhagen -- wie geht 
es weiter mit dem internationalen Agrarhandel? Einführung. 
Eco-Fair-Trade-Konferenz. Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin, 12.01.2010.



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