[IMI-List] [0296] Afghanistan-Abstimmung / Neuer AUSDRUCK / IMI-Kongress / Analyse zu Irak

Informationsstelle Militarisierung imi at imi-online.de
Do Okt 9 18:12:41 CEST 2008


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0296 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
Abo (kostenlos)........ IMI-List-subscribe at yahoogroups.com
Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1) der Hinweis auf eine Email-Aktion zur Bundestagsabstimmung über den 
Afghanistan-Einsatz;

2) Links auf alle Texte des neuen AUSRUCK (Oktober 2008);

3) Materialien und Programm zum IMI-Kongress am 9./10.11.2008;

4) eine Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak.


1) E-Mail Aktion an die Bundestagsabgeordneten

Die DFG/VK Baden-Württemberg hat mit anderen Friedensgruppen eine 
Email-Aktion vorbereitet, durch welche die Abgeordneten aufgefordert 
werden, gegen das erweiterte Mandat zu stimmen.
Wir dokumentieren die Presseerklärung zu dieser Aktion gemeinsam mit dem 
Verweis auf unsere neuesten Texte zum Krieg in Afghanistan.
http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1830


2) Neuer AUSDRUCK (Oktober 2008) erschienen

Die Oktober-Ausgabe des AUSDRUCK befasst sich intensiv mit dem Krieg in 
Georgien und der dort geplanten EU-Mission. Besonders empfehlen möchten 
wir auch die Analyse von Jonna Schürkes zur US-Militärpolitik gegenüber 
Lateinamerika. Wie immer erhalten unsere Mitglieder den AUSDRUCK per 
Post, alle Artikel werden aber auch im Internet zur Verfügung gestellt. 
Es folgt das Inhaltsverzeichnis mit den Links zu den einzelnen Texten. 
Die gesamte Ausgabe des Magazins kann hier herunter geladen werden:
http://www.imi-online.de/download/AUSDRUCK-Okt-2008.pdf

INHALTSVERZEICHNIS

Georgienkrieg

-- Martin Hantke
Georgienkrieg und imperiale Geopolitik
http://www.imi-online.de/download/MH-Okt08-Georgien.pdf

-- Tobias Pflüger
Die ESVP-Mission in Georgien
http://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-Georgien.pdf


Afghanistan und Irak

-- Claudia Haydt
Afghanistan: Chronik einer angekündigten Niederlage
http://www.imi-online.de/download/CH-Okt08-Afghanistan.pdf

-- Joachim Guilliard
Kein Weg vorwärts - Irak nach dem Surge
http://www.imi-online.de/download/JG-Okt08-Irak.pdf


Lateinamerika

-- Jonna Schürkes
"Homeland Security" an der "Südflanke"
http://www.imi-online.de/download/JS-Okt08-Lateinamerika.pdf


EU-Militarisierung

-- Tobias Pflüger
Militärische Meeresabenteuer der EU und Deutschlands
http://www.imi-online.de/download/TP-Okt08-NAVCO.pdf

-- Jürgen Wagner
Lissabon-Vertrag hin oder her
http://www.imi-online.de/download/JW-Okt08-Lissabon.pdf


3) Programm und Materialien zum IMI-Kongress

Das endgültige Programm des diesjährigen IMI-Kongresses mit dem Titel 
"Kein Frieden mit der NATO" ist fertig. Auf unserer Sonderseite können 
auch Plakate und Flugblätter herunter geladen werden:
http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1821


4) Analyse zur gegenwärtigen Situation im Irak

IMI-Analyse 2008/032 - in: AUSDRUCK (Oktober 2008)
Irak - kein Weg vorwärts
http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1829
8.10.2008, Joachim Guilliard

Kein Weg vorwärts
Der Irak nach dem surge

Nicht nur die US-Regierung, sondern auch die Mainstream-Medien zeichnen 
seit einiger Zeit wieder ein positives Bild von der Entwicklung im Irak. 
Die neue Strategie "Ein neuer Weg vorwärts" hätte Früchte getragen, die 
als "Surge" (dt.: Woge, Flut, Zunahme …) bezeichnete zeitweilige 
Erhöhung der Truppenstärke und die Ausweitung der Militäroperationen, so 
der Tenor, habe gewirkt. Die Lage sei nun unter Kontrolle und die Gewalt 
zurückgegangen.
Erfreulicherweise ging die Gewalt in der Tat spürbar zurück, allerdings 
nur verglichen mit dem extrem hohen Niveau zuvor. Verantwortlich für 
diesen Rückgang war auch weniger die neue US-Strategie, sondern 
innerirakische Faktoren. In den von ihr betroffenen Gebieten führte sie 
sogar zu einer Eskalation der Kampfhandlungen. Darüber hinaus sind, wie 
auch das General Accounting Office (GAO), der oberste Rechnungshof der 
USA, feststellte, keine grundlegenden Verbesserungen der allgemeinen 
Bedingungen zu erkennen, die Lage ist für den größten Teil der 
irakischen Bevölkerung so miserabel wie eh und je (siehe Kasten - nur in 
der PDF-Version).[1]

Die Surge hat vielmehr, so z.B. General William Odom, zu einer weiteren 
Fragmentierung der politischen Verhältnisse geführt, die den Irak - 
durchaus absehbar - weiter destabilisiert.[2] Die Bush-Administration 
traut dem Erfolg offenbar selbst nicht - nur ein Teil der zusätzlichen 
Truppen wurde wieder abgezogen und auch nach Ende der zweiten Amtszeit 
von George W. Bush werden weit mehr Truppen im Irak stehen, als zu Beginn.


Die "Surge" - eine Eskalation des Krieges

Wirklich belegbar bei den Erfolgsmeldungen aus Washington ist nur der 
Rückgang US-amerikanischer Verluste. Im Juli 2008 lag die Zahl getöteter 
US-Soldaten auf dem niedrigsten Stand seit Beginn des Krieges. Doch 
lässt sich daraus auch auf verbesserte Sicherheitsbedingungen für die 
irakische Bevölkerung schließen? Azzaman, eine der renommiertesten 
irakischen Zeitungen, verneint die Frage und verweist nicht zuletzt auf 
die zahlreichen Militäroperationen US-amerikanischer und irakischer 
Truppen, die nach wie vor in verschiedenen Provinzen "eine Spur der 
Zerstörung und zahlreiche Opfer zurücklassen" würden. "Der drastische 
Fall der US-Verluste geht einher mit einem drastischen Anstieg von 
irakischen Toten und Verletzten", so das Blatt. Doch "die USA führen 
keine Liste der Iraker, die sie töten, ebenso wenig die irakische 
Regierung."[3]

In der Tat liegen über die aktuelle Zahl irakischer Opfer keine 
verlässlichen Angaben vor. Gemäß Statistiken, die auf Basis von 
westlichen Medienberichten zusammengestellt wurden, ging die monatliche 
Zahl getöteter Iraker, nach Rekordhöhen in der Hochphase der "Surge", 
wieder auf das Niveau von 2005 zurück, d.h. auf den Stand, bevor die 
Gewalt nach dem Anschlag auf die Goldene Moschee in Samara 
explodierte.[4] Doch auch damals schon wurden gemäß der Lancet-Studie 
von 2006 fast 4.000 IrakerInnen pro Woche getötet.
Mit der Truppenerhöhung hat dieser Rückgang der Gewalt allerdings wenig 
zu tun, dort wo er am deutlichsten ist, in der sunnitischen 
Widerstandshochburg Anbar und in Basra, waren sogar Truppen abgezogen 
worden. Entscheidend waren vielmehr andere Faktoren, vor allem das 
Bündnis mit sunnitischen Stammesmilizen und die einseitige Waffenruhe, 
die der prominente Kleriker Muqtada al Sadr seiner Miliz, der 
Mehdi-Armee, verordnete. Auch das Ende der Angriffe und des Terrors 
durch schiitische Milizen und sunnitische Extremisten nach der 
erfolgreichen Vertreibung der bekämpften Minderheiten trug erheblich zum 
Rückgang innerirakischer Gewalt bei.[5]


Eskalation aus der Luft

Der Rückgang der US-Verluste ist vor allem auf die drastische 
Reduzierung des Einsatzes von Boden-Truppen zurückzuführen. Die 
US-Streitkräfte setzen stattdessen zunehmend auf die Luftwaffe und 
überlassen die Kämpfe am Boden den irakischen Hilfstruppen. Waren 
bereits 2006 insgesamt 10.500 Mal Kampflugzeuge und Hubschrauber zur 
"Luftunterstützung" angefordert worden, fast 30 Einsätze pro Tag, so hat 
die US Air Force nach eigenen Angaben die Zahl der Luftwaffeneinsätze 
2007 vervierfacht und die Zahl der Bombenabwürfe verzehnfacht.[6]

Bei allen größeren Militäroperationen dieses Jahres, ob in Mosul, 
Baquba, Basra oder Bagdad, setzten die Besatzungstruppen überwiegend auf 
Luftangriffe und die Feuerkraft ihrer Panzer und überließen die 
Straßenkämpfe den irakischen Fußtruppen. Während sie auf diese Weise im 
Frühjahr während der fast sechswöchigen Offensive gegen Sadr City kaum 
Tote zu beklagen hatten, ging die Zahl der getöteten und schwer 
verwundeten Anwohner in die Tausende.

Verstärkt kommen dabei auch ferngesteuerte Fluggeräte, wie die 
Kampfdrohnen Predator and Reaper, zum Einsatz. Ein Reporter der New York 
Times, der kürzlich die Leitzentrale dieser Drohnen besichtigen durfte, 
musste sich verpflichten, deren Standort geheim zu halten - aus 
Rücksicht auf das Gastland, in dem sie sich befindet. Ein Ort, der dafür 
sehr gut in Frage käme, wäre das Warfighting Headquarters der 
US-Luftwaffe im pfälzischen Ramstein.[7]
Schließlich geben die USA auch mehr Geld als je zuvor für private 
Söldner aus.[8] Die Zahl der sogenannten "Private Contractor", die für 
das US-Militär im Irak arbeiten, hat sich seit September letzten Jahres 
um 12.000 auf 149.00 erhöht. Das entspricht fast der Zahl, um die die 
Stärke der regulären US-Truppen wieder reduziert wurde.[9]


Krieg und Repression am Boden

Zunächst bedeutete die Truppenerhöhung um 38.000 auf insgesamt 165.000 
Soldaten für weite Teile der Bevölkerung in Bagdad und Umgebung 
allerdings eine massive Eskalation des Krieges und der Repression am 
Boden. Kritische Bilder und Berichte davon, wie wir sie z.B. beim 
Einrücken russischer Truppen in Grosny sahen, blieben jedoch aus. In den 
Medien erschienen die US-Truppen vielmehr als Retter, die antraten, der 
"mörderischen Gewalt" Einhalt zu gebieten - ihr Morden gilt hier 
offenbar nicht als Gewalt.

Der renommierte US-Journalist Nir Rosen jedoch, der im Dezember in 
Bagdad war, konnte mit eigenen Augen sehen, wie der Erfolg der Besatzer 
in den betroffenen, einst so geschäftigen Vierteln Bagdads aussieht. Er 
fand nur noch halbverlassene Geisterstädte vor, zerstört durch über fünf 
Jahre Krieg. Ein Haus neben dem anderen ist verwüstet, die sandfarbenen 
Mauern durch Kugellöcher zernarbt. Viele Türen stehen offen, die 
Wohnungen sind unbewacht und oft weitgehend leer geräumt.[10] Auch für 
den irakischen Fotojournalisten Ghaith Abdul-Ahad, der für den Guardian 
in einer gefährlichen Tour durch Bagdad die Behauptungen des US-Militärs 
überprüfte, die "Surge" hätte der Stadt Stabilität gebracht und das 
Leben verbessert, stand das, was er vorfand und in einer eindrucksvollen 
Filmserie festhielt "in völligem Widerspruch zu allen offiziellen 
Berichten." Die Menschen in Bagdad "sind hoffnungsloser als ich sie je 
zuvor sah."[11]

Über 40.000 US-amerikanische Kampftruppen und mehrere Divisionen der 
irakischen Armee waren in und um Bagdad zusammengezogen worden, die 
sukzessive und unter heftigen Kämpfen in überwiegend sunnitische 
Stadtteile eindrangen. Systematisch wurde Straßenzug um Straßenzug 
abgeriegelt und die Häuser gestürmt. Alle männlichen Bewohner zwischen 
fünfzehn und sechzig Jahren wurden erkennungsdienstlich erfasst, 
inklusive Fingerabdrücken und Iris-Scan, Tausende von Anwohnern, die als 
Oppositionelle bekannt waren oder der Zusammenarbeit mit dem Widerstand 
verdächtig schienen, wurden festgenommen. Die Zahl der politischen 
Gefangenen hat sich in der Folge fast verdoppelt. Die US-Truppen allein 
hielten Ende 2007 nach eigenen Angaben 25.000 Iraker gefangen, die 
irakischen Sicherheitskräfte weitere 50.000-75.000.[12]

In einige der nun schutzlosen Viertel drangen schiitische, meist den 
Regierungsparteien nahe stehende Milizen ein und begannen auch hier mit 
nächtlichem Terror Sunniten und sonstige Gegner zu vertreiben. 
Hunderttausende wurden so im Lauf der "Surge" aus der Hauptstadt gejagt 
oder flohen vor den Angriffen der Besatzer. Der Anteil der 
nicht-schiitischen Bevölkerung Bagdads sank Statistiken der US-Armee 
zufolge seit April 2006 von 35 auf 25 Prozent.[13]

Die Internationale Organisation für Migration der UNO, IOM, schätzt, 
dass sich die Zahl der Flüchtlinge aus Bagdad im Zuge der "Surge" 
verzwanzigfachte. Die Gesamtzahl der Binnenflüchtlinge hat sich zwischen 
Februar und August 2007 von 0,5 auf 1,1 Millionen verdoppelt. [14]


Gated Communities

Trotz massiver Proteste der Anwohner wurden die meisten der 
"befriedeten" Stadtteile durch fast vier Meter hohe, 
stacheldrahtbewehrte Betonmauern hermetisch eingeschlossen, alle nur 
durch einige wenige, enge und stark bewachte Check-Points durchbrochen. 
Nur Bewohner mit neuer ID-Karte können sie - nach Überprüfung ihrer 
biometrischen Merkmale - ohne weiteres passieren. Mauern in einer 
Gesamtlänge von über 30km zerteilen nun Bagdad, endlose Schlangen vor 
den Durchlässen sind die Folge. Handel und Wirtschaft kamen dadurch 
nahezu zum Erliegen. Offiziell als Schutz der Bevölkerung vor 
Übergriffen durch sektiererische Milizen gedacht, dienen sie vor allem 
dazu, die Bewegungsfreiheit des Widerstands einzuschränken und die 
Bewohner der Viertel einer lückenlosen Kontrolle unterwerfen zu können. 
Diese sind nun mehr denn je der Willkür der Besatzer und der irakischer 
Sicherheitskräfte ausgeliefert.

Die Errichtung dieser so genannten "Gated Communities" (eigentlich die 
Bezeichnung für bewachte Wohnanlagen der Reichen) erinnert an ähnliche 
Maßnahmen der französischen Besatzungstruppen in Algerien und an die 
"strategischen Dörfer" der USA im Vietnamkrieg. Mehr noch orientieren 
sich die US-Truppen jedoch an israelische Erfahrungen, wie durch 
Ausnutzung modernster Technik und durch Teilung der besetzten Gebiete in 
Enklaven, Widerstand in einem städtischen Umfeld eingedämmt werden kann. 
Iraker vergleichen ihre ummauerten Stadtteile daher oft auch mit dem 
Gazastreifen in Palästina.
Professor Steve Niva, Nahostexperte an der Universität von Olympia, 
fasste das Ergebnis der Surge treffend zusammen: "Während das allgemeine 
Ausmaß an Gewalt zweifellos vorübergehend sank, wurde der Irak faktisch 
in einen Panzer aus Betonmauern und Stacheldraht eingesperrt, verstärkt 
durch eine Besatzung aus der Luft."[15]


Teile und Herrsche - der Biddle-Plan

Eine zentrale Komponente in der US-Strategie zur Unterwerfung des Iraks 
ist die Spaltung der irakischen Gesellschaft nach 
ethnisch-konfessionellen Kriterien. Auch die Grenzen der eingezäunten 
Enklaven in Bagdad wurden nach diesen Kriterien gezogen. Die vom 
Oberkommandieren General David Petraeus ausgearbeitete neue Strategie 
setzte dadurch den von Beginn der Besatzung an eingeschlagenen Weg fort, 
der von Bernard Lewis, einem der führenden Neokonservativen, bereits in 
den frühen 1990er Jahren skizziert worden war: Der starke arabische 
Nationalismus in Ländern wie Irak könne, so Lewis, nur dann 
neutralisiert werden, wenn die Zentralgewalt ausreichend geschwächt 
würde. Dann "gibt es keine wirkliche Zivilgesellschaft mehr ... der 
Staat löst sich - wie im Libanon - in ein Chaos sich zankender und 
bekämpfender Sekten, Stämme, Religionen und Parteien auf."[16]

Die konkrete, aktuelle Umsetzung dieser Politik formulierte Stephen 
Biddle, Berater von General Petraeus in Bagdad in einem Beitrag für 
Foreign Affairs wie folgt: Durch ein Programm zur Bewaffnung ihrer 
sunnitischen Gegner soll die schiitisch-kurdische Maliki-Regierung unter 
Druck gesetzt werden, die Vorgaben aus Washington williger, rascher und 
vollständiger umzusetzen. Militante sunnitische und säkulare 
Nationalisten hingegen sollen durch die Drohung, den Regierungsparteien 
durch Aufrüstung der Armee mit Panzern und leichter Luftwaffe zu mehr 
militärischer Macht zu verhelfen, zum Einlenken gezwungen werden. Da 
dies die Fähigkeit der Regierungstruppen "Massengewalt gegen Sunniten zu 
verüben, dramatisch erhöhen" würde, wäre dies ein "mächtiger Anreiz", 
ihre Forderung nach einem raschen Abzug der Besatzungstruppen "zu 
relativieren".[17]

Tatsächlich gelang es den USA, Bündnisse mit sunnitischen Kräften unter 
Ausnutzung ihrer Sorge vor der Dominanz der pro-iranischen schiitischen 
Parteien zu schließen und Stammesmilizen aufzustellen, die ein 
Gegengewicht zu den von den schiitischen Parteien kontrollierten 
Sicherheitskräften darstellen.


Die Erweckung der Stämme

Diese Bündnisse bedeuteten eine radikale Abkehr der bisherigen Politik 
der US-Truppen gegenüber der sunnitischen Bevölkerung, gegen die sie - 
im Bemühen, Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen - im Verein 
mit ihren kurdischen und schiitischen Verbündeten von Beginn der 
Besatzung an mit besonderer Härte vorgegangen waren. Diese Brutalität 
wiederum befeuerte einen rasant wachsenden militärischen Widerstand, den 
sie nicht mehr in den Griff bekamen.

Die Besatzer hatten schließlich, wie durchgesickerten Geheimdokumenten 
der US-Armee zu entnehmen ist, 2006 eingesehen, dass sie militärisch 
nicht gewinnen können. [18] Sie begannen ihre Offensive in den Städten 
einzuschränken und nahmen Verhandlungen mit lokalen und regionalen 
Stammesbündnissen über die Aufstellung von Milizen für 
Sicherungsaufgaben und ein gemeinsames Vorgehen gegen Al-Qaeda auf. 
Stammesangehörige, die sich bereit erklärten, gegen al-Qaeda und 
sonstige Störenfriede zu kämpfen, erhielten Ausrüstung und einen 
monatlichen Sold. In der Folge entstand ein Vielzahl sogenannter 
"Awakening"-(Erweckungs)-Räte, irakisch "al Sahwa" oder "Sahwat", von 
den Besatzern gerne als "Söhne Iraks" bezeichnet.

Über die zahlenmäßige Stärke dieser Milizen gibt es keine verlässlichen 
Angaben. Die US-Armee spricht von 80.000-100.000 Milizionären, die für 
300 US-Dollar monatlich Polizei- und Wachaufgaben übernehmen und an 
ihrer Seite gegen Al-Qaeda vorgehen würden. Die Summen, die nach 
denselben Quellen für ihren Unterhalt aufgewandt wurden, deuten aber auf 
eine wesentlich geringere Zahl bezahlter Kämpfer hin.[19]

So widersprüchlich wie die Berichte über sie sind, so widersprüchlich 
ist die Awakening-Bewegung selbst. Sie reicht von echten Kollaborateuren 
und Warlords, die für gutes Geld zu allem bereit sind, bis hin zu 
strammen Nationalisten, die sich nur soweit mit den Besatzern einlassen, 
wie nötig, um vor Ort die Kontrolle übernehmen zu können. Traditionelle 
Stammeskultur und -rivalitäten sorgen für zusätzliche Dynamik.

US-Regierung und Armeeführung feiern die Stammesmilizen als großen 
Erfolg der "Surge" und stellen dabei - gemäß ihrer gängigen Propaganda - 
den gemeinsamen Kampf gegen Al-Qaeda in den Vordergrund. Doch die al 
Sahwa waren lange vor der "Surge" entstanden und bereits im Sommer 2005 
hatten viele Stämme im Verein mit Widerstandsgruppen begonnen, aktiv 
gegen die sunnitischen Extremisten vorzugehen. Sie mussten zu diesem 
Zeitpunkt zwei Kämpfe führen, so ein Sprecher der dem Widerstand nahe 
stehenden Vereinigung der islamischen Religionsgelehrten (AMS): einen 
"gegen die Besatzer und den von ihnen eingesetzten Regierungsapparat" 
und den anderen "gegen die terroristischen Banden."[20]
Doch nicht nur Al-Qaeda wurde von der Bevölkerung in den sunnitischen 
Gebieten als Bedrohung angesehen, sondern auch die Milizen der 
Regierungsparteien und die von ihnen dominierten Sicherheitskräfte. Für 
die meisten Sunniten, die sich der Awakening-Bewegung anschlossen, lag 
hier das wichtigste Motiv: Indem sie bewaffnete Kräfte gegen Al-Qaeda 
und zur Aufrechterhaltung der Ordnung stellen, verringerte sich auch die 
Präsenz der Regierungstruppen und konnte ein von den Besatzern 
tolerierter Schutz gegen schiitische Todesschwadrone und sonstige 
ortsfremde Kämpfer aufgestellt werden.

Ein hochrangiger Scheich, dessen Stamm einer solchen Allianz beitrat, 
erklärte einem Reporter des Guardian, dass dies für ihn eine simple 
Gleichung war. "Es ist einfach ein Weg, Waffen zu bekommen und eine 
legalisierte Sicherheitskraft zu werden, die fähig ist, den schiitischen 
Milizen Stand zu halten und zu verhindern, dass die irakische Armee und 
Polizei in ihr Gebiet eindringt." [21]

Den temporären Bündnissen mit den Besatzern war ein Paradigmenwechsel 
eines großen Teils sunnitischer und säkularer Nationalisten 
vorausgegangen. Stand zunächst das Ziel im Vordergrund, so schnell wie 
möglich die Invasoren aus dem Land zu jagen, so überwog bei vielen nun 
die Sorge, dass die kurdischen und schiitischen Parteien, die die 
Regierung stellen, sich im Bündnis mit den USA bereits so starke 
Machtpositionen sichern konnten, dass sie nach einem Abzug der Besatzer 
nur noch schwer verdrängt werden können. Der Einfluss des Irans über die 
schiitischen Regierungsparteien und ihre Milizen ist zudem in ihren 
Augen so groß, dass sie mittlerweile von einer doppelten Besatzung 
sprechen. Die "Gefahr der iranischen Besatzung war größer, als die 
Gefahr der amerikanischen, da letztere temporär ist, aber die iranische 
Besatzung würde permanent sein", so z.B. Abu Azzam Al-Tamimi, einer der 
führenden Politiker der Awakening-Bewegung.[22]

Die Mehrheit der Bewegung ist stramm nationalistisch und strebt die 
Wiederherstellung eines einheitlichen, starken und zentralisierten 
Staates an. Die sunnitischen Milizen könnten allerdings bei sich 
zuspitzenden Konflikten mit den Parteien an der Regierung zum Kern einer 
sunnitischen Armee werden. Zudem sind viele Führer von Awakening-Milzen 
dabei, sich als mächtige Warlords zu etablieren.

Auch den USA ging es bei der Aufrüstung der Awakening-Kräfte nicht nur 
um Al-Qaeda. Es bot zudem auch einen Weg, sich weit gehend aus der 
Provinz zurückziehen zu können, ohne das Feld dem organisierten 
Widerstand zu überlassen. Vor allem aber ist es ihnen damit gelungen, 
ein Gegengewicht zu den pro-iranischen Regierungsparteien aufzubauen und 
so - neben dem von Biddle formulierten Kalkül - den Handlungsspielraum 
der USA gegenüber dem Iran zu verbessern.

An sich richteten sich die al Sahwa nicht gegen den bewaffneten 
Widerstand. Indem sie jedoch alle bewaffneten Aktionen in den unter 
ihrer Kontrolle stehenden Gebieten zu unterbinden suchten, schränkten 
sie auch dessen Aktionsradius stark ein. Da es den Regierungsparteien 
bisher jedoch gelang, die politische Beteiligung der al Sahwa zu 
blockieren und die Aufnahme der sunnitischen Milizionäre in die 
regulären Sicherheitskräfte auf einige wenige Tausend zu beschränken, 
wächst die Unzufriedenheit in ihren Reihen massiv.


Die Bewegung Al Sadrs

Starken Anteil am Rückgang der Gewalt hatte auch der einseitige 
Waffenstillstand, den der populäre schiitische Geistliche Muktada al 
Sadr im Sommer letzten Jahres ausgerufen hatte. Dieser sollte helfen, 
die Kontrolle über seine Bewegung und ihre Miliz, die Mehdi-Armee, 
zurück zu gewinnen, um den kriminellen Elementen, die unter ihrem Cover 
Angriffe auf Sunniten durchführten oder im Stil von Straßengangs die 
örtliche Bevölkerung terrorisierten, Schutzgelder erpressten etc., die 
Deckung zu nehmen. Mit Hilfe loyaler Einheiten konnten die 
Gewalttätigkeiten tatsächlich eingedämmt und die angeschlagene 
Reputation al Sadrs entscheidend verbessert werden.

Die Sadr-Bewegung ist die mit Abstand stärkste oppositionelle Kraft 
unter den Schiiten. Die Zahl der Anhänger, vor allem in den ärmeren 
Schichten, geht in die Millionen. Die islamisch-konservative Bewegung 
kontrolliert weite Teile Bagdads und anderer Städte und war eine der 
maßgeblichen Widerstandskräfte, die die Briten aus den südlichen 
Provinzen getrieben hatte.
Daher, und aufgrund seiner starken Anhängerschaft, war al Sadr zu einem 
der Hauptfeinde der Besatzer geworden. Auch gegen ihn hatte sich die 
"Surge", unter dem Stichwort "Kampf gegen das Miliz-Unwesen", von Anfang 
an gerichtet.

Die Offensiven im Frühjahr dieses Jahr endeten jedoch mit 
Waffenstillstandsabkommen, in denen die Sadr-Bewegung zwar die Hoheit 
über einige ihrer Hochburgen an die Regierungstruppen abtreten musste - 
entscheidend geschwächt wurde sie dadurch jedoch nicht. Al Sadr verstand 
es darüber hinaus, sich während der Angriffe der irakischen 
Öffentlichkeit als nationaler Führer zu präsentieren, der bereit ist, 
für die Einheit des Landes und zur Beendigung innerirakischer Kämpfe 
weit reichende Kompromisse einzugehen.[23] Er steht nun mit an der 
Spitze einer recht wirksamen, breiten politischen Opposition gegen die 
Besatzung.


Drohende Eskalation

Angesichts der Beruhigung der Lage scheinen die Besatzer militärisch nun 
die Oberhand zu haben, viele in Washington sehen die USA bereits auf der 
Siegesstraße. Der bewaffnete Widerstand wurde aber keinesfalls besiegt, 
sondern musste nur in einigen Gebieten zurückweichen bzw. seine 
Aktivitäten einschränken. Trotz ihrer intensivierten Politik des Teile 
und Herrsche verlieren die Besatzer im Irak politisch immer mehr an 
Boden. Alle ihre Vorhaben, vom Öl-Gesetz, das ausländischen Konzernen 
die Förderung von Öl gestatten würde, bis zu einem 
Truppenstationierungsabkommen, das die Besatzungsherrschaft per Vertrag 
verewigen würde, werden von einer immer breiter werdenden, nationalen 
Opposition blockiert.

Angesichts der Erfolge dieser "nationalistischen Surge", wie Patrick 
Cockburn es nannte[24], hoffen viele Iraker die Besatzung mit 
politischen Mitteln beenden zu können. Doch unabhängig davon, wer 
künftig Präsident sein wird, werden die US-Eliten ihre Ziele einer 
dauerhaften militärischen Präsenz im Land und einer direkten Kontrolle 
des irakischen Öls kaum freiwillig aufgeben.

Die Auseinandersetzungen dürften sich daher bald wieder verschärfen. 
Gleichzeitig droht durch diese Politik - bei Fortsetzung der Besatzung - 
der zunehmende Zerfall des Landes in die Machtbereiche einzelner 
Warlords und Parteien.

Die fragile und gewaltgeladene Situation droht insbesondere in der von 
den Kurdenparteien beanspruchten, ölreichen Provinz um Kirkuk jeden 
Augenblick aufs Neue zu eskalieren, die Surge hat hieran nichts ändern 
können - im Gegenteil. Dies sollte auch all denen zu denken geben, die 
die US-Strategie im Irak als Vorbild für eine Eskalation der 
Kampfhandlungen in Afghanistan heranziehen wollen.


Anmerkungen

[1] “Securing, Stabilizing, and Rebuilding Iraq: Progress Report: Some 
Gains Made, Updated Strategy Needed”

GAO, 23.6.2008

[2] William E. Odom, Testimony before the Senate Foreign Relations 
Committee on Iraq, 2.4.2008

[3] “Lowest U.S. casualties not indication of better security conditions 
in Iraq”, Azzaman, 5.8.2008

[4] Siehe Iraq Coalition Casualty Count, http://icasualties.org
/>
[5] Vgl. Steven Simon, “The Price of the Surge”, Foreign Affairs, 
May/June 2008

[6] At Odds With Air Force, Army Adds Its Own Aviation Unit, NYT, 
22.6.2008, s.a. Tom Engelhardt, “U.S. Continues to Brutalize Iraqis in 
the Cause of the 'Surge'”, Tomdispatch.com, 30.6.2008,

[7] Air Force Plans Altered Role in Iraq, New York Times, July 29, 2008

[8] “U.S. increases spending on contractors in Iraq”, USA TODAY, 27.8.2007

[9] Siehe "Contractors’ Support of U.S. Operations in Iraq", 
Congressional Budget Office, August 2008 und “In Iraq, private 
contractors outnumber U.S. troops”, AP, 20.9.2007

[10] Nir Rosen, The Myth of the Surge, Rolling Stone, 6.3.2008

[11] Ghaith Abdul-Ahad, “Baghdad: City of Walls”, 18.3.2008

[12] Nir Rosen, a.a.O. “The business end”, Financial Times, 27.6.2008, 
“U.S. military says it keeps 21,000 detainees in Iraq”, Xinhua 2.8.2008

[13] Juan Cole, “A Social History of the Surge”, Informed Comments, 
24.7.2008, “Changing Baghdad -- Ethnic violence has changed the city”, 
Washington Post, 15.12.2007 und “Balkanized Homecoming”, Washington 
Post, 16.12.2007

[14] “More Iraqis Said to Flee Since Troop Increase”, New York Times, 
24.8.2007

[15] Steve Niva, “The New Walls of Baghdad -- How the U.S. is 
Reproducing Israel's Flawed Occupation Strategies in Iraq”, Foreign 
Policy In Focus, 21.4.2008

[16] Zitiert nach Tom Hayden, “The New Counterinsurgency”, The Nation, 
6.9.2007

[17] “What to Do in Iraq: A Roundtable” By Larry Diamond, James Dobbins, 
Chaim Kaufmann, Leslie H. Gelb, and Stephen Biddle, Foreign Affairs , 
Juli/August 2006

[18] “Anbar Picture Grows Clearer, and Bleaker, Washington Post, 28.11.2006

[19] Steven Simon a.a.O. s. a. “'Awakening' Forces Arouse New 
Conflicts”, IPS, 26.12.2007 und “US buying loyalty of 'concerned' 
Iraqis”, AFP, 17.10.2007

[20] siehe J. Guilliard „Strukturen der irakischen Befreiungsbewegung“ 
in junge Welt 22./24.9.2007 sowie Michael Eisenstadt, “Tribal Engagement 
Lessons Learned” Military Review, Sept.-Okt. 2007

[21] “Meet Abu Abed: the US's new ally against al-Qaida”, Guardian, 
10.11.2007

[22] "’Honor Front’ for Sunni collaborators“, Missing Links, 14.4.2008

[23] “Moqtada: Open war against the ocupation ‘and no other’”, Missing 
Links, 25.4.2008

[24] Patrick Cockburn, “Iraq's Nationalist Surge”, ZNet, 9.8.2008. Siehe 
auch Robert Dreyfuss, „Nationalists Stirring in Iraq“, The Nation, 
16.1.2008