[IMI-List] [0294] Studie zu Georgien / China in Afrika / Standpunkt zu Afghanistan

Informationsstelle Militarisierung imi at imi-online.de
Di Sep 9 14:52:16 CEST 2008


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Online-Zeitschrift "IMI-List"
Nummer 0294 .......... 12. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563
Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V.
Red.: IMI / Christoph Marischka / Jürgen Wagner
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Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste.php3
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Liebe Freundinnen und Freunde,

in dieser IMI-List finden sich

1) der Hinweis auf eine neue Studie zum Krieg in Georgien;

2) der Hinweis auf eine Studie zur chinesischen Wirtschafts- und 
Sicherheitspolitik gegenüber Afrika;

3) ein IMI Standpunkt zum Afghanistankrieg und der deutschen Beteiligung 
daran anlässlich der Demonstrationen am 20 September.


*1.) Neue IMI-Studie zum Konflikt in Georgien*

IMI-Studie 2008/010
"Alles wieder offen": Georgienkrieg und imperiale Geopolitik
http://imi-online.de/2008.php3?id=1819
http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf
8.9.2008, Martin Hantke

Mit dem Angriff georgischer Truppen im Südkaukasus auf die südossetische 
Hauptstadt sowie auf russische "peacekeeping"-Truppen haben die 
Konflikte in der Region eine grundlegend neue Qualität angenommen, sie 
sind der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Ein Kalter Krieg zwischen 
Russland und dem Westen ist seit dem 8. August Wirklichkeit geworden.

Die neue IMI-Studie "Georgienkrieg und imperiale Geopolitik" analysiert 
die machtpolitischen Interessen der jeweiligen Akteure, insbesondere 
auch Deutschlands und der Europäischen Union im Kontext dieses neuen 
Kalten Krieges.


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
2. Georgien: Geopolitisches Filetstück
3. Deutschland und die Europäische Union: (un)kontrollierte Eskalation
4. Deutsche und Europäische (Militär-)Hilfe für Georgien
5. US-Militärausbilder und Kriegsgerät
6. Westliches Plazet für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg?
7. Der georgische Angriff und die russische Gegenoffensive
8. Kontroverser Waffenstillstand
9. Perspektive Kalter Krieg

http://www.imi-online.de/download/IMI-Studie2008-10.pdf



*2.) IMI-Studie zu China in Afrika*

In Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat die 
Informationsstelle Militarisierung eine umfangreiche Studie zum 
wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Engagement Chinas in Afrika 
erstellt:

IMI-Studie 2008/09
China in Afrika - oder: Zu einem anstehenden Paradigmenwechsel in der 
Frage der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten
http://www.imi-online.de/download/AS-China-Studie.pdf
2.9.2008, Andreas Seifert

Die vorliegende Studie versucht dem Engagement Chinas in Afrika eine 
Gestalt zu verleihen und beschreibt Akteure und Methoden. Es wird 
deutlich werden, dass China keineswegs, wie landläufig unterstellt, 
einen "Plan" für Afrika hat, als vielmehr mit einer Reihe von quasi 
experimentellen Maßnahmen Erfahrungen sammelt, die Chinas Afrikapolitik 
immer wieder verändern werden. Es wird auch deutlich, dass die 
chinesischen Akteure immer tiefer auch in regionale Probleme 
hineingezogen wurden und werden, die eine "externe" Position immer 
weniger zulassen werden. Die Frage ist dabei: Weicht in diesem Prozess 
die strikte Position Chinas zur "Nichteinmischung" auf oder gelingt es 
China, das Grundprinzip zu retten?

Der Text gliedert sind in fünf Abschnitte. Eingangs werden die 
Grundlagen der Außenpolitik der VR China und eine kurze Geschichte der 
Beziehungen zu Afrika beschrieben. Es folgt eine Analyse der 
Wirtschafts- und Entwicklungspolitik Chinas in Afrika, sowie ein 
Abschnitt zu den bisherigen Erfahrungen mit Militär und Waffenhandel auf 
dem Kontinent. Das Beispiel des Sudan wird dann herangezogen, um die 
Verschränkungen der Bereiche deutlich zu machen und das Feld 
abzustecken, in dem sich die chinesische Regierung bewegen kann. Der 
letzte Abschnitt besteht darin, die Frage von Nichteinmischung oder 
Intervention anhand der vorhergehenden Fragen aufzuarbeiten.


*
3.) IMI-Standpunkt zum Krieg in Afghanistan*

Anlässlich der Demonstrationen am 20. September in Berlin und Stuttgart 
gegen den Krieg in Afghanistan zeigt Christoph Marischka auf, dass die 
Bundeswehr stets in die Kriegsführung zur Durchsetzung einer neuen 
Staatlichkeit eingebunden war, wie und warum sie dabei in die Defensive 
geriet und weshalb der sofortige Abzug der Bundeswehr ein wichtiger 
Schritt des Übergangs zu ziviler Konfliktbearbeitung wäre.

IMI-Standpunkt 2008/053
Der Krieg in Afghanistan ist verloren!
Anatomie einer Eskalation
http://www.imi-online.de/2008.php3?id=1816
Christoph Marischka, 8.9.2008


Der Krieg in Afghanistan ist verloren! - Anatomie einer Eskalation

Nur wenige Monate nachdem die Koalition der Willigen den Krieg gegen 
Afghanistan begonnen hatte galt das Taliban-Regime als besiegt. In der 
Hauptstadt Kabul, aus der wie aus den übrigen nördlichen Provinzen die 
Taliban tatsächlich vertrieben waren, wurde eine Regierung eingesetzt, 
die den Interventionstruppen freundlich gesinnt war. Doch deren 
Herrschaft reichte nicht weit über die Hauptstadt hinaus und verlor sich 
in den entfernteren Provinzen in die traditionellen Beziehungen der 
Regierungsmitglieder zu den lokalen Stammesfürsten, die ihren eigenen 
Interessen folgten, weshalb Karzai gelegentlich auch als Bürgermeister 
von Kabul bezeichnet wurde. Auch der Krieg war mitnichten vorbei: Im 
Süden und Osten bestanden noch bewaffnete Verbände der Taliban und 
insbesondere in den Siedlungsgebieten der Paschtunen erhoben sich 
zahlreiche lokale Führer gegen die neue Zentralmacht in Kabul und die 
hinter dieser stehenden internationalen Koalition. Conrad Schetter vom 
Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn beschrieb jüngst, wie die 
Eliten der einstmals autonomen Stammesgebiete durch die wiederholten 
Interventionen in Afghanistan geschwächt wurden und militante Geistliche 
von deren Autonomiestreben profitieren konnten. Aus einer "externen" 
Sonderrolle heraus konnten sie Allianzen zwischen den Stämmen schmieden 
und zunächst den gottlosen Kommunismus der Sowjetunion und später den 
Westen als einigendes Feindbild etablieren.[1]

Es gab und gibt in diesen Regionen seit Beginn des Krieges gut 
organisierte Milizen mit sicheren Rückzugsgebieten. Folglich mussten die 
hier stationierten us-amerikanischen, niederländischen und später 
kanadischen Kräfte also von Anfang an eine ganz andere Strategie 
verfolgen, als die deutschen Soldaten im je nach Sichtweise "befreiten" 
oder auch "aufgegebenen" Norden: Sie mussten gut bewaffnete Milizen in 
ihre Rückzugsgebiete verfolgen, aggressiv Geländegewinne erzielen und 
feindlich dominierte Täler gegen regelmäßige Angriffe verteidigen.[2] 
Dabei kam es natürlich auch zu höheren Opfern in einer tendenziell eher 
feindlich gestimmten Bevölkerung und häufiger wurde Close Air Support, 
also Unterstützung durch Kampfflieger und Hubschrauber angefordert, als 
im deutschen Einsatzgebiet. Hier gestaltete sich die strategische Lage 
anders: Es gab kaum bewaffneten Verbände, gegen die die deutschen 
Soldaten hätten kämpfen müssen, militante Gegner der Intervention 
bewegten sich eher in die umkämpften Gebiete im Süden, in der 
Bevölkerung herrschte eher die Haltung vor, abzuwarten und zu sehen, was 
die neue Regierung bringt. Entsprechend bestand die Strategie der 
"Opposing Militant Forces" (OMF), die hier weniger Möglichkeiten hatten, 
nach Anschlägen in der Bevölkerung unterzutauchen, eher darin, in 
einzelnen Selbstmordkommandos oder mit Selbstmordanschlägen gegen die 
Interventionstruppen vorzugehen. Da die Besatzungstruppen im Norden sich 
näher an der Zivilbevölkerung aufhielten, wurden bei Anschlägen auf 
diese auch mehr ZivilistInnen getötet. Viele Selbstmordanschläge 
richteten sich gar nicht erst gegen die ausländischen Truppen, sondern 
abstrakter gegen deren Ziel, den Aufbau eines neuen Staatswesens, also 
gegen Polizeianwärter oder einfach auch gegen größere 
Menschenansammlungen, um ein Klima der Unsicherheit zu erzeugen. Es mag 
überraschen, aber diese Strategie ist aufgegangen. Mittlerweile sind 
auch die deutschen und französischen Soldaten in die Defensive geraten 
-- sowohl im militärischen Sinne als auch was die öffentliche Meinung 
angeht. Dieser Übergang war aber keineswegs so abrupt, wie es nun 
scheinen mag.


Vom Aufstand zu Aufständen

Bereits zu Beginn des Jahres 2007 hatte sich auch in den westlichen 
Medien der Begriff des Aufstands eingebürgert, um die Situation in 
Afghanistan zu beschreiben, der UN-Beauftragte des Landes sprach gar von 
einer "Widerstandsbewegung".[3] Ein halbes Jahr zuvor war das neue Field 
Manual 3/24 mit dem Titel "Aufstandsbekämpfung" erschienen und zur 
offiziellen US-Doktrin für den Irak geworden. Seine Kernpunkte, die 
Soldaten noch intensiver in den Wohnvierteln patrouillieren zu lassen 
und noch offensiver auch gegen die Zivilbevölkerung vorzugehen, wurden 
aber auch in Afghanistan umgesetzt und heizten die Situation weiter an. 
Im März 2007 hatte die Bundesregierung die Entsendung von bis zu 500 
weiteren Bundeswehrsoldaten sowie sechs Aufklärungstornados beschlossen, 
deren Mandat nicht mehr auf den Norden begrenzt war, sondern ganz 
Afghanistan umfasste. Während der Bundestag hierüber noch debattierte, 
erschütterte eine Protestwelle Afghanistan, weil US-Streitkräfte nach 
einem Selbstmordattentat auf einer belebten Straße wahllos acht 
Zivilisten töteten und nur 24 Stunden später offenbar versehentlich ein 
Haus derselben Familie bombardierten, zu der auch die Opfer auf dem 
Highway gehörten.[4] Solche Ereignisse finden laufend statt und 
zunehmend sieht sich auch Präsident Karzai gezwungen, die 
Besatzungstruppen für die zivilen Opfer zu rügen, um nicht alle 
Glaubwürdigkeit bei der eigenen Bevölkerung zu verspielen. Die 
Reaktionen der internationalen Gemeinschaft bestehen dann zumeist in 
Leugnungen und anschließenden Drohungen gegenüber Karzai, die auch den 
aufgeklärteren Teilen der afghanischen Gesellschaft zeigen, von wem der 
Präsident der Zentralregierung abhängig ist.

Bereits im Juni 2007 schrieb ein deutscher Militärberater aus 
Afghanistan an das Auswärtige Amt, er stelle "zunehmend fest, dass die 
militärische Lage unzulässig geschönt dargestellt wird. Auch deutsche 
Generale beschönigen oder verschweigen eigene Probleme. Die ständigen 
Forderungen nach Truppenverstärkung, die steigenden Kosten des 
militärischen Engagements, das Anwachsen eigener Verluste und die 
steigende Zahl ziviler Opfer verdeutlichen die Ungeeignetheit und 
Auswegslosigkeit der militärischen Gewalt als Lösung der inneren und 
äußeren Probleme Afghanistans. Es ist unerträglich, dass unsere 
Koalitionstruppen und ISAF inzwischen bewusst Teile der Zivilbevölkerung 
und damit erhoffte Keime einer Zivilgesellschaft bekämpfen. Die 
Paschtunen müssen dies als Terror empfinden! Westliche Jagdbomber und 
Kampfhubschrauber verbreiten Angst und Schrecken unter den Menschen in 
den Kampfgebieten. Aus den verschiedensten Motiven wenden sie sich den 
Aufständischen zu. Wir sind dabei, durch die unverhältnismäßige 
militärische Gewalt das Vertrauen der lebenden Generationen der Afghanen 
zu verlieren."[5] Im darauf folgenden Monat lieferte Lothar Rühl, 
ehemaliger Staatssekretär im Verteidigungsministerium und noch heute 
Vordenker der deutschen Außenpolitik, in der Zeitschrift "Strategie & 
Technik", ein Beispiel für die genannten geschönten Darstellungen -- 
nicht ohne die zunehmend defensive Lage der Bundeswehr anzudeuten: Er 
schrieb, dass "auch 2007 weiter höchst unsicher und fragwürdig [ist], ob 
diese ?selbst tragende Stabilität? [die Minister Jung als Voraussetzung 
für einen Abzug definiert hatte] in absehbarer Zeit zustande kommen 
kann." Die strategische Frage laute also: "Zwei Jahrzehnte Hindukusch?" 
Gleichzeitig müsse man "allerdings erkennen, dass längere Präsenz auch 
fremder Beschützer schließlich als fremde Besatzung wahrgenommen wird." 
Deshalb wiederum müssten die ISAF-Kräfte "das Einvernehmen mit den 
regionalen Machthabern, den Stammesfürsten und Clanchefs, von denen 
einige auch Drogenbarone und Clanchefs sind, suchen" und könnten "nicht 
auch noch einen Opiumkrieg in ihrer Umgebung führen oder darauf dringen, 
dass Frauen unverschleiert auf der Straße gehen oder Mädchen in die 
Dorfschule".[6] Ebenfalls im Juni 2007 veranstaltete die einflussreiche 
RAND Corporation gemeinsam mit dem Royal Danish Defence College eine 
Konferenz zur Lage in Afghanistan und zu den Zielen der westlichen 
Intervention. Auch hier wurde festgestellt, dass sich das öffentliche 
Ansehen der Besatzertruppen wie auch die allgemeine Sicherheitslage 
verschlechterte, dass die Zahl der Anschläge und Angriffe hingegen 
kontinuierlich steige und diese immer mehr Opfer auf beiden Seiten 
forderten. Nur 20% der Aufständischen gehörten ideologisch zu den 
Taliban, hieß es außerdem: "Die Taliban erfahren Unterstützung von 
Neulingen und Alliierten, die nicht ihre Ideologie teilen, sich aber aus 
anderen Gründen gegen Kabul, lokale Führern oder die internationalen 
Präsenz stellen und dies unter dem Banner der Taliban tun. Es gibt 
fluide Allianzen und Absprachen auf der lokalen Ebene, wenn auch mit 
wenig Kohärenz und Kohäsion."[7] Ein Jahr später, im August 2008, ist 
gar nicht mehr von "Aufstand", sondern von "Aufständen" die Rede. 
UN-Vertreter sprechen von "hunderten, wenn nicht tausenden von Gruppen 
in einem komplexen und sich ständig verschiebenden Geflecht von 
Interessensallianzen ... Manche dieser Gruppen bestehen gerade aus sechs 
Leuten und hassen die sechs Leute aus dem nächsten Dorf".[8]


Im Krieg sind die Soldaten gleich

Die jüngsten Ereignisse in der Umgebung von Kabul und dem deutschen 
Verantwortungsbereich, bei denen zehn französische Soldaten getötet, 
mehrere deutsche Soldaten verletzt wurden und der 28. deutsche Soldat in 
Afghanistan gefallen ist, zeigen die veränderte taktische Lage, mit der 
die deutschen und französischen Soldaten konfrontiert sind, seit sich 
die Aufstände in den letzten 18 Monaten auch auf den Norden ausgebreitet 
haben. Die entscheidende Entwicklung besteht darin, dass die Soldaten 
auch hier mittlerweile direkt angegriffen werden. Die Tatsache, dass die 
Angreifer ihre Attacken direkt gegen die ausländischen Soldaten richten 
und sich anschließend zurückziehen können, zeugt von ihrer Stärke und 
auch von einer tendenziell größeren Unterstützung durch Teile der 
Bevölkerung. Die tw. sehr ineffektiven Sprengfallen, die in den letzten 
Wochen unter Fahrzeugen der Bundeswehr explodierten, könnten hingegen 
darauf hinweisen, dass mittlerweile auch weniger "professionelle" 
Gruppen ohne Kontakte zu den Taliban versuchen, deren Mittel zu 
kopieren, um ihren eigenen kleinen Krieg gegen die Besatzung zu führen. 
Das Drama, bei dem deutsche Soldaten drei Menschen -- eine Frau und zwei 
Kinder -- töteten und weitere Kinder verletzten, indem sie 
höchstwahrscheinlich auf ein fliehendes Auto das Feuer mit 
Maschinengewehren eröffneten, ist vor diesem Hintergrund 
nachzuvollziehen: Die verschärfte Bedrohungslage, die größere 
Komplexität des Widerstandes und dessen wachsender Rückhalt in der 
Bevölkerung machen die Soldaten nervöser und zivile Opfer unvermeidlich. 
Es zeigt sich nun, dass es nicht an Unterschieden zwischen den 
us-amerikanischen und den vermeintlich besonneneren deutschen 
Einsatzkräften und Mandaten lag, dass die Zahl der Opfer unter der 
Zivilbevölkerung im Norden so viel geringer ausfiel als im Süden, 
sondern die jeweilige taktische Einsatzlage. Diese wird zukünftig auch 
unter den deutschen Soldaten und durch deren Schüsse immer häufiger 
Opfer verlangen. Dass sich Deutschland auf die Eskalation in seinem 
Einsatzbereich einließ, zeigt die Entsendung der Quick Reaction Force 
Ende Juni 2007. Auf die verschärfte Sicherheitslage wurde klassisch 
militärisch reagiert: Mit der Entsendung von mehr und robusteren 
Einheiten. Auch dies widerspricht der häufigen Darstellung deutscher 
Politiker, entgegen den USA setze man weniger auf eine militärische 
Eskalation, als auf Polizeiausbildung. Jetzt, wo die Bundesregierung mit 
der Eskalation auch in ihrem Verantwortungsbereich konfrontiert ist, 
lässt sie sich blind auf diese ein. Mit dem robusteren Vorgehen der 
deutschen Truppen nimmt auch deren Ansehen in der Bevölkerung weiter ab 
-- insbesondere durch die nun getöteten Zivilisten, auf die übrigens 
Soldaten das Feuer eröffnet haben, die im Rahmen der Polizeiausbildung 
im Einsatz waren.


Warum die Strategie der Taliban aufging

Dass es die Taliban geschafft haben, mit Anschlägen gegen die 
Zivilbevölkerung den Widerstand gegen die ausländischen Truppen 
auszuweiten und die Soldaten sowohl militärisch wie in der öffentlichen 
Meinung auch im Norden in die Defensive zu drängen, mag zunächst 
erstaunen. Diese Verwunderung liegt v.a. an zwei massiven 
Fehlwahrnehmungen, die insbesondere in Deutschland vorherrschen. Die 
erste besteht darin, dass der Einsatz deutscher Soldaten und der Aufbau 
eines neuen Staatswesens in Form einer Marionettenregierung und eilig 
aufgebauter Militär- und Polizeieinheiten vom Auftrag der US-geführten 
Truppen, der Terroristenbekämpfung und der Durchsetzung der 
Staatlichkeit - der Kriegführung - zu trennen wäre. Die Bundeswehr hat 
die ganze Zeit über einen wichtigen Beitrag zu diesem Krieg geleistet. 
Nicht nur, indem sie seit Mitte 2007 Aufklärungskapazitäten für 
Luftangriffe bereitstellt, sondern indem sie anfangs die Hauptstadt und 
die ganze Zeit über weniger umkämpfte Gebiete und wichtige Nachschubwege 
wie den Flughafen Termez in Usbekistan kontrollierte und für 
Unterstützungsleistungen im ganzen Land bereitstand. Über die Einsätze 
des Kommando Spezialkräfte und die Beteiligung der deutschen Marine bei 
der seeseitigen Sicherung am Horn von Afrika war Deutschland unmittelbar 
am us-amerikanischen "Krieg gegen den Terror" in Afghanistan beteiligt. 
Das wurde von den Gegnern der Intervention auch von Anfang an so 
wahrgenommen und natürlich betrachteten sie die deutschen Soldaten 
deshalb auch als Feinde. Angriffe auf sie sind Teil der Kriegsführung, 
wie ihre Arbeit am Aufbau eines Afghanischen Staates Teil der 
internationalen Kriegführung ist -- und wie Anschläge in Usbekistan, 
Pakistan, und auf die indische Botschaft es ebenfalls sind.

Deshalb war es auch für die Bundeswehr nie möglich, einen humanitären 
Einsatz in Afghanistan durchzuführen. Die zweite Fehlwahrnehmung besteht 
darin, dass die Bundeswehr nur als Flankierung des zivilen Aufbaus 
entsandt worden und selbst überwiegend mit Hilfsprojekten beschäftigt 
gewesen sei. Doch die Zahlen sprechen eine andere Sprache:

82,5 Mrd. US$ hat der gesamte ISAF-Einsatz die internationale 
Gemeinschaft alleine bis 2006 gekostet, von den seit 2001 zugesagten 25 
Mrd. US$ für Hilfeleistungen für die Bevölkerung hat sie aber bis März 
2008 nur 15 Mrd. US$ bereitgestellt -- das ist der Betrag, den der 
OEF-Einsatz alleine die USA jährlich kostet. Ähnlich stellt sich das 
Verhältnis in Deutschland dar, das 1.2 Mrd. US$ versprochen, bislang 
hiervon aber noch nicht einmal zwei Drittel ausgeschüttet hat.[9] 
Demgegenüber verursacht der ISAF-Einsatz allein in Deutschland jährlich 
Kosten in Höhe von fast 500 Mio. Euro (2005: 377,3 Mio.; 2006: 500,8 
Mio.) - bereits ohne die mittlerweile beschlossenen Einsätze von 
Tornados und Quick Reaction Force. Die deutsche Beteiligung an der 
Operation Enduring Freedom kostet jährlich zusätzlich etwa 100 Mio. Euro 
und hat bis November 2007 insgesamt 842 Mio. Euro verschlungen. Laut 
Caritas International vergeben viele Länder ihre Gelder für zivile 
Projekte außerdem nur als "gebundene Hilfe", "bei der die Geldgeber ihre 
Unterstützung an vertraglich vereinbarte Bedingungen knüpfen, dass 
importierte Arbeitskräfte und Güter genutzt werden müssen -, zumeist des 
jeweiligen Geber-Landes".[10] Nach einer Schätzung von Oxfam 
International fließen so etwa 40% der Gelder zurück in die heimischen 
Betriebe bzw. an eine Elite der superreichen Ausländer aus den 
intervenierenden Staaten im Kriegsgebiet. 2007 gilt Afghanistan als 
eines der unterentwickeltsten Länder der Erde (174er Platz von insgesamt 
178 Ländern laut UNDP HDI-Index von 2007), 68% der Bevölkerung haben 
demnach keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser,[11] 45% haben 
Probleme bei der täglichen Versorgung mit Nahrungsmitteln[12] und die 
Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren leidet an Untergewicht. Anfang 
2008 warnten zahlreiche Organisationen und die WHO vor einer 
Hungerkatastrophe in Afghanistan aufgrund der gestiegenen 
Nahrungsmittelpreise, die mittlerweile schon zu Demonstrationen und 
Streiks in afghanischen Städten führten. In einer Sonderausgabe des 
NATO-Brief zum Thema "Ernährung und Sicherheit" aus dem Frühjahr 2008 
heißt es: "Das wichtigste Grundnahrungsmittel des Landes, Weizenmehl, 
ist innerhalb eines Jahres im Schnitt um fast 60 Prozent teurer geworden 
... Infolge der höheren Lebensmittelpreise ist es für Millionen Afghanen 
äußerst problematisch, sich überhaupt zu ernähren. Die [daraus 
resultierenden] praktischen Sicherheitsfragen umfassen Demonstrationen 
... sowie möglicherweise eine steigende Gefahr, dass junge Männer sich 
von regierungsfeindlichen Elementen rekrutieren lassen. Angriffe von 
kriminellen Gruppierungen und regierungsfeindlichen Elementen auf 
Lebensmittelhilfe-Konvois sind ein Problem in vielen Gegenden."[13]


Das "Weiter so!" entlarvt die wahren Interessen

Auf der bereits erwähnten Konferenz der RAND Corporation im Juni 2007 
wurde der schnelle militärische Sieg 2001/2002 in Kabul u.a. darauf 
zurückgeführt, dass sich die Taliban aufgrund innerer Streitigkeiten und 
wachsendem Widerstand in der Bevölkerung sowie unter den Stammeseliten 
seinerzeit ohnehin in der Defensive befanden.[14] Heute können sie 
wieder Allianzen schmieden und ein ganzes Bündel an Aufständen anführen, 
was ihren ideologischen Einfluss auf die überwiegend gemäßigt 
muslimische Bevölkerung weiter erhöht. Deren wirtschaftliche Lage hat 
sich derweil mit der Intervention keineswegs verbessert und immer mehr 
Menschen lassen sich deshalb für den Widerstand gewinnen. Derart in die 
Defensive gedrängt, versuchen die westlichen Militärs bereits seit 
längerer Zeit klar zu stellen, dass es ihnen weder möglich ist noch sie 
es als ihren Auftrag sehen, etwa zur Verbesserung der Lage der Frauen 
beizutragen. Auch die Aussage, Deutschlands Sicherheit werde am 
Hindukusch verteidigt, hat sich mittlerweile als Lüge oder eklatante 
Fehleinschätzung erwiesen: Nach Auffassung aller Geheimdienstexperten 
erhöht die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg die Gefahr 
terroristischer Anschläge hierzulande. Jung begründete den Tod eines 
29jährigen Soldaten am1.9.2008  jedoch immer noch mit den Worten: "Er 
kam ums Leben, weil er sich aktiv für eine bessere Zukunft in 
Afghanistan und damit auch für die Sicherheit in unserem Land eingesetzt 
hat". Politiker aus Regierung und Opposition forderten daraufhin eine 
Diskussion um den Zweck des Einsatzes. Wenn Soldaten sterben und 
verwundet werden und zu Dutzenden traumatisiert zurückkehren, dann 
müssen die Interessen hinter dem Einsatz klar benannt werden. Auch dies 
ist bereits Mitte 2007 geschehen, als Lothar Rühl mit dem Märchen brach, 
deutsche Soldaten wären für die Frauenrechte oder die Sicherheit in 
Deutschland in Afghanistan und feststellte: "Die inneren und die äußeren 
Bedingungen an den Grenzen des Landes [Afghanistan] sind in der 
Konstellation seit 2001 nicht günstiger geworden. Eine negative 
Entwicklung zeichnet sich seit etwa 2003 ab. Sie hat sich in jedem Jahr 
netto verstärkt." Er definierte daraufhin fünf "strategische 
Interessen", die Deutschlands Beteiligung am Krieg begründen sollten:

1. "Nach der Staatsraison der Bundesrepublik seit 1949 werden die 
nationalen Interessen euro-atlantisch definiert". Ein Bruch mit USA und 
NATO würde dieser Staatsraison widersprechen. Die Ausweitung des 
deutschen Engagements in Afghanistan "ist auch als eine politische 
Kompensation für die Nichtbeteiligung im Irak anzusehen".

2. Die Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit deutscher Außenpolitik müsse 
sich in Afghanistan beweisen;

3. "[D]as deutsche außenpolitische Interesse an einer hervorgehobenen 
internationalen Rolle ... schließt militärisches Engagement ... ein".

4. Um reibungslosen Welthandel und Energieversogungssicherheit zu 
gewährleisten sind "maritime Kapazitäten und schnell bewegliche 
Flottenpräsenz im Mittelmeer, in der Arabischen See, im Persischen Golf 
und im Indischen Ozean [besonders wichtig]. Die EU-Staaten können diese 
nicht allein herstellen und dauernd einsatzbereit halten. Maritime 
Sicherheit setzt die Verbindung zu den USA und den US-Seestreitkräften 
in der NATO voraus. Die alliierten Seestreitkräfte der NATO sind im 
deutschen Interesse unersetzlich. Damit sind der Erfolg der NATO in 
Afghanistan und der Bestand der Allianz ein deutsches strategisches 
Interesse..."

5. Die Lage in Afghanistan hat sich seit Beginn des Einsatzes so weit 
verschlechtert, "dass die NATO nicht einfach einen Schlussstrich ziehen 
und das Feld räumen kann, ohne eine Katastrophe zu hinterlassen." 
Deshalb seien "mehr Bodentruppen für verstärkte Präsenz und vermehrten 
Einsatz" erforderlich.[15]

Kurz gesagt: Die deutschen Soldaten sterben für das Bündnis mit den USA, 
für einen Fortbestand der NATO und für mehr politisches Gewicht 
Deutschlands auf der Weltbühne. Der Misserfolg der bisherigen 
militärischen Strategie soll durch noch mehr Soldaten wett gemacht werden.

 
Der Irak ist immer der Irak der anderen

Öffentlichkeit und Politik sträuben sich in Deutschland, diese Ziele des 
Afghanistankrieges und damit dessen Sinnlosigkeit anzuerkennen. Dies 
wäre auch tatsächlich schmerzhaft. Deshalb halten sie gerne an den 
Märchen fest, die Bundeswehr agiere als eine Art bewaffnetes THW und 
befände sich nicht inmitten eines längst verlorenen Krieges, der einzig 
deshalb weitergeführt wird, weil sich die NATO keine Niederlage 
eingestehen will. Mittlerweile ist die Sicherheitslage in Afghanistan 
dramatischer als im Irak und dort sterben sowohl mehr ausländische 
Soldaten als auch einheimische ZivilistInnen. Dennoch soll über das 
Mandat nicht diskutiert werden. Wer den deutschen Einsatz hinterfrage, 
spiele den Terroristen in die Hände, heißt es. Die einzige Lösung 
lautet: "Volle Kraft voraus", ein Rückzug steht nicht zur Debatte. In 
Deutschland erinnert die Situation hingegen an die Kritik an den USA auf 
dem Höhepunkt des Krieges im Irak. Damals erkannte die halbe Welt, dass 
der Krieg verloren ist und die Region nur destabilisiert hat und sie 
schaute kopfschüttelnd auf die USA, wo zwar ein wachsender Teil der 
Bevölkerung dies erkannt hat, die Regierung aber immer mehr Soldaten in 
die Schlacht schickte. Erstaunlicherweise sind es heute in der deutschen 
Debatte gerade auch Teile der Linken, die immer noch an ein besseres 
Mandat und die besseren deutschen Soldaten glauben und deshalb der 
Forderung nach einem sofortigen Abzug der Bundeswehr widersprechen. Das 
größere Vertrauen, das sie in die "eigene" Armee und Regierung gegenüber 
der us-amerikanischen setzen, ist befremdlich. Die Forderung, die sie 
damit implizit oder explizit an die Regierung stellen, besteht darin, 
weiter deutsche Soldaten per Befehl nach Afghanistan zu entsenden, wo 
sie sterben, verletzt oder traumatisiert werden können. Diese Forderung 
folgt implizit der Darstellung der Regierung, dass die Soldaten zum 
Schutz entsandt und die Aufstände niederzuschlagen wären. Sie 
überschätzt darüber hinaus, wie so oft, die deutsche Rolle. Denn ohne 
Deutschland wären nicht plötzlich alle ausländischen Soldaten aus 
Afghanistan verschwunden und das Land würde nicht in ein noch größeres 
Chaos versinken, als es das jetzt tut. Der deutsche Abzug könnte 
lediglich Anlass auch für andere Staaten sein, ihre Truppen abzuziehen. 
Dies würde auch von den verbleibenden einen defensiveren Ansatz 
verlangen und auf internationaler Ebene erzwingen, dass den zivilen 
Instrumenten mehr Aufmerksamkeit, Gewicht und das eingesparte Geld, das 
zuvor in Militäreinsätze floss, zukommt.[16] Und ein Abzug würde es der 
afghanischen Bevölkerung zugestehen, mit internationaler Hilfe und 
Schritt für Schritt die Taliban selbst zurückzudrängen -- anstatt die 
Bevölkerung in die Arme der Islamisten zu treiben.

 
Anmerkungen

[1] Conrad Schetter: Talibanistan - oder das Ende staatlicher Ordnung, 
in: Wissenschaft & Frieden 3/2008.

[2] Vgl. jüngst die Reportage von Elizabeth Rubin: Üble Tage in Kunar, 
in: Lettre International 81.

[3] "We now know that we are dealing with a real resistance movement" 
in: "Democracy Remains the Goal", Tom Koenigs im Interview mit dem 
Spiegel, 10.8.2006.

[4] Beth Cole / Catherine Morris: The Situation in Afghanistan - A 
Re-evaluation Needed, US Institute for Peace Briefing April 2007

[5] Deutscher Bundestag, Plenarprotokoll 16/102

[6] Lothar Rühl: Nicht nur eine Definitionsfrage -- Deutsche Interessen 
in Afghanistan, in: Strategie & Technik, Juni 2007

[7] Samina Ahmed: Are We Learning? Military Engagement - The Taliban, 
Past and Present, in: Cheryl Benard u.a.: Afghanistan - State and 
Society, Great Power Politics, and the Way Ahead Findings from an 
International Conference, Copenhagen, Denmark, 2007

[8] Jason Burke: This enemy is media friendly and has a bewildering 
array of allies and rivals, in: The Guardian, 22.9.2008

[9] Matt Waldman: Falling Short - Aid Effectiveness in Afghanistan, 
ACBAR Advocacy Series, Oxfam 2008, 
http://www.oxfam.org/files/ACBAR_aid_effectiveness_paper_0803.pdf

[10] Caritas International: Positionspapier zur Nothilfe in Afghanistan 
-- Caritas fordert Strategiewechsel für Afghanistan, 
http://www.caritas-international.de/hilfsprojekte/asien/afghanistan-aufbauhilfe_im_hazarajat/positionspapier_zur_nothilfe_in_afghanistan/49445.html

[11] UNDP: Afghanistan human Development Report 2007 - Bridging 
Modernity and Tradition: Rule of Law and the Search for Justice

[12] Caritas International, a.a.o.

[13] Was bedeutet die Nahrungsmittelkrise in Afghanistan?, in: 
NATO-Brief "Ernährung und Sicherheit", NATO, 2008, 
http://www.nato.int/docu/review/2008/05/FS_AFGHANISTAN/DE/index.htm.

[14] Samina Ahmed, a.a.o.

[15] Lothar Rühl, a.a.o.

[16] Afghanistan-Dossier des "Monitoring-Projekts Zivile 
Konfliktbearbeitung", im Erscheinen.

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