[fessenheim-fr] NZZ: Frankreich überdenkt die Sicherheit seiner AKW

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Do Apr 7 16:20:02 CEST 2011


Hallo Leute!

Hier ein insgesamt recht informativer Artikel aus der
heutigen NZZ. Allerdings ist eine wichtige Angabe
darin falsch: Das Erdbeben von Basel im Jahr 1356
war nach Ansicht unabhängiger ExpertInnen von der
Stärke 8 auf der Richterskala.

Ciao
   Klaus


7. April 2011, Neue Zürcher Zeitung

Frankreich überdenkt die Sicherheit seiner AKW

Trotz der Katastrophe von Fukushima geniesst die Kernenergie 
weiterhin breite Akzeptanz


Im Jahr 2010 haben sich in französischen Atomanlagen 1107 Pannen und 
Zwischenfälle ereignet. Ob auch für eine eigentlich nicht vorgesehene 
Katastrophe die Alarm- und Interventionspläne reichen würden, muss 
überprüft werden.

Rudolf Balmer, Paris

Laut der für die Sicherheit der Atomanlagen zuständigen Autorité de 
Sûreté Nucléaire (ASN) haben sich in Frankreich im letzten Jahr 
insgesamt 1107 Zwischenfälle ereignet. Zum Glück passierte nichts 
Schlimmes: Nur 3 dieser Pannen mussten auf dem Niveau zwei der 
siebenstufigen Skala eingeteilt werden. Zum Beispiel hatte im AKW 
Chinon ein unvorsichtiger Arbeiter einen radioaktiven Gegenstand mit 
blossen Händen angefasst. In der mit radioaktiven Strahlen 
arbeitenden Fabrik Fleursmétal wurde ein kobalthaltiger Apparat 
beschädigt. Diese Angaben machte die ASN vor einer parlamentarischen 
Kommission, die im Kontext der Reaktorkatastrophe in Japan von den 
Sicherheitsverantwortlichen auch wissen wollte, wie es um die 
Transparenz im Umgang mit nuklearen Risiken bestellt ist.

Vor und nach Tschernobyl

Das Misstrauen gegenüber der Information seitens der Atomindustrie 
ist viel älter in Frankreich. Nach der Katastrophe von Tschernobyl 
von 1986 hatte der damalige offizielle Verantwortliche für den 
Strahlenschutz, Professor Pierre Pellerin, der Nation versichert, die 
radioaktive Wolke aus der Ukraine habe just vor den französischen 
Grenzen haltgemacht. Das war, wie natürlich schon bald auskam, eine 
vorsätzliche und gravierende Lüge im Interesse der eigenen 
Nuklearindustrie.

Obschon damals und bis heute die Zustimmung zur Atomtechnologie in 
Frankreich weit grösser ist als in allen Nachbarländern, hat sich 
gegenüber den Beteuerungen, die französischen Anlagen seien für alle 
Fälle und Gefahren gerüstet, Skepsis eingeschlichen. Diese wird 
angesichts der bisher unkontrollierten Katastrophenschäden an den 
Reaktoren von Fukushima zwangsläufig verstärkt in einem Land, das 
fast 80 Prozent seiner Elektrizität aus 19 AKW mit 58 Reaktoren 
bezieht.

Das Erdbeben von Basel

Selbstverständlich nutzen die Atomgegner die Gunst der Stunde, um die 
Angst zu schüren: Das Netzwerk «Sortir du nucléaire», das, wie sein 
Name besagt, einen Ausstieg aus der Atomkraft wünscht, publizierte 
eine Karte mit allen möglichen nuklearen Standorten, die so manchem 
französischen Mitbürger einen Schrecken einjagen kann. Denn darauf 
sind nicht nur die offiziell bekannten Kraftwerke und die Anlagen zur 
Herstellung oder Wiederaufarbeitung von Brennstäben eingezeichnet, 
sondern auch mehr oder weniger verheimlichte Lagerstellen mit 
radioaktiven Rückständen, Versuchslabors, diverse Industriewerke 
ziviler und militärischer Natur sowie die eigentlich geheimen Orte, 
wo die französische «Force de frappe» ihre Atombomben, Raketen und 
Unterseeboote stationiert hat. Zumindest vermittelt diese Übersicht 
einen Eindruck davon, wie heute die Atomtechnologie fast 
allgegenwärtig geworden ist.

Zu Recht versichert die erst 2006 gegründete ASN, die auf ihrer 
Unabhängigkeit von der staatlichen Atomindustrie besteht, dass in 
Frankreich keine mit Japan vergleichbaren Erdbeben- oder Tsunami-
Risiken bestehen. Die Sicherheitsvorkehrungen beim Bau der AKW und 
die Katastrophenschutzpläne entsprechen aber auch den in diesem 
Bereich geringeren Gefahren. So soll beispielsweise das 1977 in 
Betrieb genommene AKW von Fessenheim im Elsass einem Erdbeben von 6,7 
auf der Richter-Skala standhalten. Die Sicherheitsnorm will nämlich, 
dass die Belastungsgrenze um 0,5 Punkte über dem stärksten bekannten 
seismischen Ereignis liegen muss. Das Erdbeben im benachbarten Basel 
im Jahre 1356 wurde nachträglich auf eine Stärke von 6,2 geschätzt, 
aufgrund von Angaben der Stadtchronisten des «Rothen Buchs» und 
anderen Zeugnissen. Sind solche Vorgaben der Risikoeinschätzung 
vorsichtig genug, nach dem Präzedenzfall von Fukushima? Dort war das 
Risiko eines Tsunamis durchaus bekannt und war beim Bau einkalkuliert 
worden, doch die mögliche Höhe der Wellen hatte man dabei krass 
unterschätzt. Im Rahmen der von der EU angeordneten Stresstests muss 
auch dieser Bereich des zwar Unwahrscheinlichen, aber Möglichen 
überprüft werden.

Selbst wenn gewisse Risiken nicht vorhersehbar sind, besteht die 
Notwendigkeit, die Intervention in einem Reaktor auch unter extremen 
Bedingungen wie nach einer Explosion vorzubereiten und eine 
Evakuierung der Bevölkerung aus der Gefahrenzone zu planen. Das ist 
wohl die zweite Lehre, welche aus der Tragödie von Fukushima zu 
ziehen ist. Dieser Ernstfall wird aufgrund der Messungen und der zu 
erwartenden Folgeschäden neue Hinweise liefern zur Frage, in welchem 
Umkreis die Anwohner sicherheitshalber evakuiert werden müssen: im 
Radius von 10, 30 oder sogar 60 Kilometern?

Evakuierungspläne

«Frankreich ist fürs Schlimmste nicht vorbereitet», lautet im Online-
Magazin «Slate.fr» das Urteil einer detaillierten Analyse der für die 
19 französischen AKW geltenden Katastrophenpläne. Diese müssten 
aufgrund der neuen Erkenntnisse aus Japan als überholt betrachtet 
werden. Vorgesehen sei in diesen Plänen, dass bei einem ernsten 
Zwischenfall in den ersten 24 Stunden die Menschen im Umkreis von 5 
bis 10 Kilometern evakuiert und mit Jodtabletten versorgt würden. 
Eine entsprechende Übung wurde mit den lediglich 1000 bis 1500 
Anrainern des AKW Gravelines durchgeführt. Wie aber könnten solche 
Dringlichkeitsmassnahmen erfolgen, wenn der betroffene Umkreis 
grösser ist? Die Grossstadt Lyon mit mehr als einer Million 
Einwohnern liegt 35 Kilometer vom AKW Bugey und 40 Kilometer von 
einem anderen in Saint-Alban entfernt. Niemand hat je die 
Völkerwanderung einer Evakuierung von solchen Menschenmassen seriös 
ins Auge gefasst.

Marie-Pierre Comets, eine der ASN-Expertinnen, hat jedoch Mitte März 
im Fall Fukushima wegen der Strahlenmessungen sogar eine Räumung im 
Abstand von 70 Kilometern für angebracht erachtet. Was dies in 
Frankreich im Extremfall eines GAUs zur Folge hätte, kann nun jeder 
mit einem Zirkel auf der genannten Karte von «Sortir du nucléaire» 
selber einzeichnen.

Noch drastischer ist diesbezüglich das von Grégoire Fleurot von 
«Slate.fr» angeführte Beispiel des amerikanischen AKW von Indian 
Point, das nur 60 Kilometer von Manhattan entfernt steht. In Japan 
habe die amerikanische Regierung ihren Landsleuten empfohlen, aus 
einem Umkreis von 80 Kilometern von Fukushima wegzuziehen. Auf die 
Frage der «New York Times», wie im Fall von Indian Point die 
Regierung rund 18 Millionen Menschen zu evakuieren gedenke, seien die 
Behörden die Antwort schuldig geblieben. Der Gouverneur von New York 
habe zudem wegen unterschätzter Erdbebenrisiken die Schliessung 
dieser Atomanlage verlangt.

Die französischen Grünen stehen mit ihrer Forderung nach einer 
Volksabstimmung über einen Ausstieg aus der Atomkraft in 25 bis 30 
Jahren bis heute politisch im Abseits. Die ebenfalls oppositionellen 
Sozialisten erwägen bloss, weniger stark auf die Nutzung der 
Atomkraft zu setzen und alternative Energiequellen schneller als 
bisher zu entwickeln. Der vor allem in den siebziger Jahren forcierte 
Bau von Atomkraftwerken zur Energieversorgung des an fossilen 
Brennstoffen armen Lands hat ökonomische Sachzwänge geschaffen, die 
keine Partei ignorieren kann. Das erklärt auch die für manche 
Nachbarstaaten erstaunlich breite Akzeptanz der Kernenergie in 
Frankreich.

Diese beruhte von Beginn weg auf einem politischen Entscheid. Es war 
General de Gaulle, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg die Gründung 
des Atomenergiekommissariats (CEA) anordnete. Dieses bestimmt bis auf 
den heutigen Tag in Frankreich wie ein Staat im Staat die Geschicke 
der zivilen und militärischen Atomtechnologie. Atomkraft und 
Atombombe kamen in Frankreich wie siamesische Zwillinge zur Welt: 
Frankreich strebte damit unter de Gaulle und dessen Nachfolgern nach 
Unabhängigkeit von den Grossmächten und Selbständigkeit in der 
Energieversorgung. Hinzu kam später, dass die Gewerkschaften die 
Atomenergie wegen der Beschäftigung und der Exporte ebenfalls zur 
Errungenschaft erklärten.

Wer an der Atomkraft rüttelt, vergreift sich in diesem Verständnis an 
vitalen Interessen Frankreichs. Das hilft zu erklären, warum das 
Thema eines Verzichts oder nur schon eines Moratoriums für die 
grossen Parteien ein Tabu bleibt. Bei 
einem Aktionstag gegen die AKW im März demonstrierten in der Nähe von 
Fessenheim rund 10 000 Gegner. Sie kamen jedoch vorwiegend aus 
Deutschland und 
der Nordwestschweiz. An einer parallelen Kundgebung in der Hauptstadt 
Paris 
nahmen bloss einige hundert Leute teil.

Geheimhaltung

Wie bei der Atomrüstung herrscht auch bei der industriellen Nutzung 
der 
Kernenergie Geheimhaltung. Atomgegner, die interne Dokumente über 
Sicherheitsprobleme veröffentlichten, wurden wegen Verletzung 
militärischer 
Geheimnisse verurteilt. Die aus derselben Kaderschmiede stammenden 
staatlichen 
Ingenieure des CEA wachten bisher erfolgreich über jeden 
Einmischungsversuch 
der Privatwirtschaft. «Wenn aber dieselbe Hand leitet und 
kontrolliert, ist das 
nicht gerade beruhigend. Man darf nicht die Debatte über die Zukunft 
der Energie allein den Technikern überantworten», gibt der 
sozialistische Bürgermeister von Grenoble, Destot, zu bedenken. Er 
weiss, wovon er spricht, da er selber zum Insiderkreis der CEA-
Ingenieure gehört hat.





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