[fessenheim-fr] Info-Serie Atomenergie - Folge 10
klausjschramm at t-online.de
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Do Aug 20 12:55:10 CEST 2009
Info-Serie Atomenergie
Folge 10
Schwedens "Atom-Ausstieg"
Stellt euch vor, ein bedeutender europäischer Industriestaat
beschließt den Atom-Ausstieg - und am Ende hat das Land mehr
Atomkraft als vorher.
Sowas sollte nicht passieren? Stimmt.
Oder ist es etwa schon passiert, und gleich mehrmals nacheinander?
Leider ja: Im Land der Elche und der Kiefernholzmöbel, unserem
nördlichen Fast-Nachbarn Schweden.
Wie kam das?
Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloß das Königreich zur Fortsetzung
seiner Neutralitätspolitik ein komplettes zivilmilitärisches
Atomprogramm. Die traurigen Reste der Uranbergwerke in Ranstad
(zwischen den beiden großen Seen) strahlen heute noch, in Västerås
(am Nordufer des Mälarsees, 90 Kilometer westlich von Stockholm)
entstand das ASEA-Atom-Werk (heute Westinghouse, im Besitz der BNFL).
Den ersten Forschungsreaktor gab's 1954 und von 1964 bis 1974
lieferte das Atom-Heizkraftwerk Ågesta Fernwärme für die Stockholmer
Satellitenstadt Farsta. Nachdem die Regierung 1959 auf Atomwaffen
verzichtet hatte, konnte 1970 auch der Bau einer
Wiederaufbereitungsanlage verhindert werden.
Endlagerproblem "gelöst"
Besonders stolz waren die schwedischen Atomiker, als sie 1979 als
erstes Land der Welt das Atommüllendlagerproblem mit der Festlegung
der Technik (Wiederaufbereitung in Frankreich, Restmüll in
Stahlzylinder in Katzenstreu in Granitstollen) und des Standortes als
gelöst erklärten. Genaugenommen hatte man östlich der Insel Sternö an
der Südostküste in einen Granitstock probegebohrt. Die Bohrungen
trafen auf rissiges Gestein - also legte man fest, daß der Granit
zwischen den Bohrungen optimal für die Atommüllagerung geeignet sei.
Damit war die Bedingung zur Inbetriebnahme von zwei fertigen
Reaktorblöcken formell erfüllt. Der atomkritische Ministerpräsident,
Thorbjörn Fälldin von der Centrumspartei, trat zurück. Schweden hatte
keine Regierung mehr, aber zwei neue Atomkraftwerke.
"Demokratische" Entscheidung
Bis Ende der siebziger Jahre gingen sechs Reaktorblöcke an den
Standorten Oskarshamn, Barsebäck und Ringhals in Betrieb und weitere
sechs waren in Bau. Nach dem Unfall 1979 in Harrisburg in den USA
konnten die AtomkraftgegnerInnen eine Volksabstimmung über die
Zukunft der Atomenergienutzung durchsetzen. Leider hatten die
WählerInnen auf den Simmzetteln nicht einfach die Wahl zwischen "ja"
und "nein". Stattdessen gab es drei verschiedene Variationen von
Jein:
Ergebnisse der Volksabstimmung vom 23. März 1980
18,9 % Linie 1: "Energie für Schweden"
Für Befristung, maximal 12 Reaktoren, bis zur Einführung der
erneuerbaren Energien
39,1 % Linie 2: "Ausstieg aus der Kernkraft - aber mit Vernunft!"
Wie Linie 1, plus Energiespar- und Sicherheitsmaßnahmen, keine
Elektroheizungen
38,7 % Linie 3: "Atomkraft? Nein danke!"
Für Ausstieg innerhalb von 10 Jahren, nur die bereits vorhandenen 6
Reaktoren
Man konnte dieses Ergebnis also als eine satte Mehrheit von fast 80
Prozent für den Atomaustieg interpretieren - tatsächlich hatte aber
die von den Sozialdemokraten unterstützte Linie 2 gewonnen und der
beschlossene "Atom-Ausstieg" bedeutete die Verdoppelung der Anzahl
der Reaktorblöcke bis 1985. Dann galt ein Kerntechnikgesetz, das den
Bau von neuen Reaktoren verbot.
Überkapazität
Da der Stromverbrauch des Landes nicht so stark anstieg wie die
Atomiker prognostiziert hatten, wurde der Einbau von Elektroheizungen
in Ein- und Mehrfamilienhäusern und öffentlichen Gebäuden und die
Ansiedlung von stromverbrauchenden Industrien gefördert, so daß der
Pro-Kopf-Stromverbrauch heute weit über den europäischen Durchschnitt
liegt. Der Strommix bestand jeweils knapp zur Hälfte aus Atom- und
Wasserkraft, etliche Kohle- und Ölkraftwerke wurden für Lastspitzen
bereit gehalten. Von den vier AKW-Standorten gehörten zwei (mit
insgesamt 7 Reaktoren) ganz oder teilweise dem Staatskonzern
Vattenfall und die beiden anderen der Sydkraft-Gruppe.
Deregulierung des Strommarkts
Mit den 90er Jahren und den Vorbereitungen zum EU-Beitritt Schwedens
kam die Deregulierung des Strommarkts. Sydkraft wurde von
Preußenelektra (heute: E.on) aufgekauft. Die
Reservekraftwerkskapazitäten wurden durch den Anschluß an das
europäische Verbundnetz überflüssig und deshalb stillgelegt und
abgerissen.
Beginn des "Atom-Ausstiegs"
Im Februar 1998 legte die Regierung die Termine für die Stillegung
der beiden Reaktorblöcke (mit den hübschen Kosenamen "Bengt" und
"Svea") des Kraftwerks Barsebäck fest. Das waren zwar nicht die
ältesten Reaktoren des Landes aber die unstrittensten, denn sie
stehen in Sichtweite Kopenhagens und die Dänen hatten sich ja gegen
Atomkraft entschieden. Barsebäck 1 wurde am 29.11.1999 abgeschaltet,
bei Barsebäck 2 zögerte sich die Stillegung noch bis 2005 hinaus. Und
da sich eine neoliberale Rechtsauffassung durchgesetzt hatte, nach
der ein Investor Anspruch auf Ausgleich für entgangene Gewinne aus
seiner Investition hat, forderte Sydkraft von der Regierung den
Ausgleich für Gewinne aus dem Rest einer angenommenen Gesamtlaufzeit
von 40 Jahren pro Reaktor. Man einigte sich darauf, daß Sydkraft den
Ausgleich in Form von Anteilen am Vattenfall-Atomkraftwerk Ringhals
bekommt, die die Regierung Vattenfall abkauft. Was macht Vattenfall
mit so viel Geld? Na klar: investieren! Man kauft sich also die
Hamburgischen Electricitätswerke samt deren Anteilen an den
Atomkraftwerken Stade, Brunsbüttel, Krümmel und Brokdorf und damit
hat man es mal wieder geschafft: Nach dem Beginn des Atom-Ausstiegs
besitzt Schweden mehr Atomkraftwerke als vorher. Und Herr und Frau
Svensson, die schwedischen Steuerzahler, müssen das ganze bezahlen.
Atomkonsens nach deutschem Modell?
Natürlich wurde klar, daß das Atom-Ausstiegsprogramm so nicht
weitergehen konnte; die Svenssons haben einfach nicht genug Geld um
die restlichen zehn Atomkraftwerksblöcke aufzukaufen. Also startete
die Regierung 2003 einen halbherzigen Anlauf zu Konsensverhandlungen
zum Atom-Ausstieg ohne Entschädigungen "nach deutschem Modell". Wie
erwartet kam nichts dabei heraus, denn warum sollten E.on und
Vattenfall auf die Ausgleichszahlungen verzichten, die ihnen nach dem
Präzedenzfall Barsebäck zustehen?
Und der Widerstand?
Die Schwedischen AtomkraftgegnerInnen können auf glorreiche Zeiten
zurückblicken: Zu den Barsebäcksmärschen in den 70er Jahren kamen bis
zu 30.000 TeilnehmerInnen und die Bürgerinitiative "Rädda Kynnefjäll"
hielt ihre Wachhütte auf einem Endlagerbauplatz fast 20 Jahre rund um
die Uhr besetzt, mit dem Erfolg daß das Endlager nun wohl am AKW
Oskarshamn entsteht, da sind die AnwohnerInnen anscheinend schon
immun gegen Strahlung.
Leistungssteigerungen
Um klarzustellen, wie man sich den weiteren Verlauf des schwedischen
"Atom-Ausstiegs" denkt, kündigte Vattenfall zwischen 2004 und 2006
Milliardeninvestitionen zur Modernisierung und zur Erhöhung der
Stromproduktion in den Kraftwerken Forsmark und Ringhals an. Zuerst
gab's neue Turbinen (von Siemens) mit höherem Wirkungsgrad, und in
der zweiten Stufe wurde der Neutronenfluß in den Reaktoren verstärkt.
Die Steigerung der Stromproduktion war höher als der Verlust durch
die Stillegung der beiden Barsebäcksreaktoren und damit war's es
wieder mal geschafft: Schweden hätte nach dem Beginn des "Atom-
Ausstiegs" auch im Inland mehr Atomstromkapazität als vorher.
Vermutlich als Folge dieses "AKW-Tuning" kam es am 25. Juli 2006 im
AKW Forsmark zu einem Beihnahe-GAU. Nach Angaben von Lars-Olov
Höglund, der als langjähriger Chef der Konstruktionsabteilung des
schwedischen Vattenfall-Konzerns für das AKW Forsmark zuständig war,
war das Atomkraftwerk nur noch 7 Minuten vom GAU entfernt: "Es war
ein reiner Zufall, daß es zu keiner Kernschmelze kam. (...) Das ist
die gefährlichste Geschichte seit Harrisburg und Tschernobyl".
Konsequenzen hieraus wurden jedoch bislang keine gezogen.
Perspektiven
Im Januar 2009 war in den deutschen Mainstream-Medien zu vernehmen,
Schweden wolle aus dem "Atom-Ausstieg" aussteigen. Die schwedische
Regierung habe den Bau neuer Atomkraftwerke angekündigt. Nun handelt
es sich hierbei allerdings ebenso um Bluff wie es auch schon der
schwedische "Atom-Ausstieg" nichts anderes als Bluff war. Denn die
schwedische Regierung sagte, ohne daß dies in den Mainstream-Medien
erwähnt wurde - zugleich, daß sie keine Subventionen für den Bau
neuer Atomkraftwerke zur Verfügung stellen könne. Und in den
vergangenen 25 Jahren wurde weltweit kein einziges AKW
fertiggestellt, das nicht staatlich finanziert wurde. Von einer
"Renaissance der Atomenergie" kann also auch in Schweden keine Rede
sein.
Auch wenn ein AKW - nach der Fertigstellung - täglich rund eine
Million Euro Gewinn abwirft, werden für den Bau mindestens fünf
Milliarden Euro benötigt. Dies bedeutet, daß es erst nach 16
Betriebsjahren profitabel arbeitet. Keine Bank und kein Energie-
Konzern interessieren sich für ein solch schlechtes Geschäft.
Leider war nun Anfang 2009 aus den Reihen der deutschen Anti-AKW-
Bewegung zu hören, in Schweden drohe ein "Ausstieg aus dem Atom-
Ausstieg". Dies ist - wie hier aufgezeigt - in doppeltem Sinne
Unsinn. Und es ist nicht nur bedenklich, weil damit die Propaganda
vom schwedischen Atom-Ausstieg auch noch bestätigt wird, sondern
zudem, weil es die Anti-AKW-Bewegung in eine defensive Position zu
manövrieren droht.
Nicht zufällig stammen solche Aussagen von Leuten aus dem Umfeld der
Pseudo-Grünen, die auch in Deutschland den Menschen weismachen
wollen, hier gäbe es einen Atom-Ausstieg. Damit ist zugleich
suggestiv eine politische Ausrichtung verknüpft, statt für den
sofortigen Atom-Ausstieg gegen die vermeintliche "Renaissance der
Atomenergie" zu kämpfen. Dabei hat selbst der ehemalige US-Präsident
George W. Bush in den gesamten acht Jahren seiner Amtszeit
unermüdlich die "Renaissance der Atomenergie" angekündigt, ohne daß
in den USA auch nur ein einziges AKW gebaut worden wäre.
NETZWERK REGENBOGEN
Diese Folge der Info-Serie Atomenergie beruht
in weiten Teilen auf einem Artikel von Bernd Frieboese,
bei dem wir uns hier nochmals bedanken.
Die übrigen Folgen der Info-Serie:
1 Grundlagenwissen
2 Der deutsche "Atom-Ausstieg"
3 Die Subventionierung der Atomenergie
4 Der siamesische Zwilling: Atombombe
5 Umweltverbrechen Uran-Abbau
6 Uran-Ressourcen und die Zukunft der Atomenergie
7 Die Geschichte der Atom-Unfälle
8 Die stille Katastrophe
9 Der italienische Atom-Ausstieg
11 Atomenergie in Frankreich
12 Das ungelöste Problem der Endlagerung
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