[fessenheim-fr] Atom-Ausstieg Italien
Klaus Schramm
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Do Nov 8 14:37:40 CET 2007
Hallo Leute!
Leider wird in den deutschen Mainstream-Medien zusätzlich zur Lüge
vom Atom-Ausstieg häufig noch als i-Tüpfelchen hinzugefügt,
Deutschland verfolge dabei weltweit einen "Sonderweg". Hier ein
Artikel zum hierzulande wenig bekannten Atom-Ausstieg Italiens.
Ciao
Klaus Schramm
klaus.schramm at bund.net
Warum hatte Italien mit dem Atom-Ausstieg Erfolg?
Vor 20 Jahren, am 8. November 1987, fand das Atom-Referendum statt
Zur Vorgeschichte
Die sogenannte zivile Nutzung der Atomenergie begann in Italien zu Beginn der
1960er-Jahre. Eine bedeutende Rolle spielte der Physiker und Atom-Pionier Enrico
Fermi. Dieser hatte bereits 1938 den Nobelpreis für Physik erhalten und wurde
durch die erste kontrollierte Kettenreaktion weltbekannt.
Zunächst wurden in Italien drei nach heutigen Verhältnissen relativ kleine
Atomkraftwerke gebaut:
Das AKW Caorso - in der Region Emilia bei Piacenza - 840 MW
Das AKW Trino Vercellese I in der Region Piemeont - 270 MW
Und das AKW Latina in der Region Latinum - 150 MW
Nach zeitlichen Verzögerungen ging das AKW Caorso erst 1981 in Betrieb. Die drei
AKWs lieferten bei einer Leistung von zusammen 1.260 MW rund 4 Prozent des
italienischen Stroms. Noch 1983 wurde 25 Prozent des italienischen Stroms aus
regenerativen Energien - sprich: aus Wasserkraft - erzeugt.
1977 wurde von der italienischen Industrie und der Regierung das Ziel
vorgegeben, bis 1985 - also innerhalb von acht Jahren 12 Reaktoren à 1000 MW zu
bauen. Diese Zielvorgabe wurde sowohl von der DC (Democrazia Cristiana), einer
Partei, die im politischen Spektrum ungefähr der deutschen CDU entsprach, als
auch der KPI (Kommunistische Partei Italiens) unterstützt.
Da sich aber in Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs schwache
Koalitionsregierungen unter Ausschluß der KPI in rascher Folge ablösten - und
der Schmiermittelbedarf entsprechend hoch war - blieb die Entwicklung der
Atomenergie hinter der anderer vergleichbarer europäischer Staaten zurück. Heute
gilt es als überraschend, daß Italien im prestigeträchtigen Club der G 8
Mitglied ist. Bei der Gründung 1975 als G 6 war Italien neben Frankreich,
Großbritannien, Deutschland, Japan und den USA als eine der führenden
Industrienationen mit von der Partie.
Bereits 1979, beim Baubeginn des AKW Montalto di Castro stellten sich
UmweltschützerInnen in den Weg. Es ging nicht allein um den Widerstand gegen die
Atomenergie, sondern auch um die Sorge um ein nahegelegenes Vogelschutzgebiet.
Der Ort Montalto di Castro liegt rund 100 Kilometer nördlich von Rom am
Tyrrhenischen Meer in der - damals - einsamen, paradiesisch gelegenen Küstenzone
der Maremma.
Ebenfalls 1979 wurde nach dem österreichischen Vorbild (Atom-Ausstieg per
Volksentscheid 1978) beim italienischen Kassationshof die Forderung nach
Volksentscheid über einen Atom-Ausstieg mit den nötigen 50.000 Unterschriften
eingereicht - vergeblich.
Bereits 1980 - ein Jahr nach Harrisburg - gab es eine weitere
Unterschriftensammlung für den italienischen Atom-Ausstieg.
1986 waren die Reaktionen in der Bevölkerung nach der Reaktor-Katastrophe von
Tschernobyl in Italien besonders heftig, während sie in Frankreich dank der
perfekt zentralisierten, antidemokratischen Informationspolitik nahezu gleich
Null war und in Deutschland zwischen wenig koordinierten Protesten,
Gleichgültigkeit und Ausreise schwankte. In Frankreich gab es etwa keinerlei
Beschränkungen beim Gemüse und der radioaktive Niederschlag der Wolke aus
Tschernobyl, die eine Spur über den gesamten europäischen Kontinent gezogen
hatte, wurde in Frankreich offiziell geleugnet.
In den italienischen Medien wurde die Angst der Menschen nahezu durchweg als
"Hysterie" abgetan, was nicht selten mit "schlechter Information" erklärt wurde.
Beispielsweise hatte der italienische Zivilschutz wenige Tage nach dem 26. April
jegliche Gefahr für Personen ausgeschlossen. Kurz darauf verbot Innenminister
Degan den Verzehr von Frischgemüse. Blattgemüse und Spinat mußten großflächig
vernichtet werden. Der Konsum von Milch wurde stark eingeschränkt.
Beispielsweise mußte der Bürgermeister der Adria-Provinz Pesaro zeitweilig wegen
Grenzwertüberschreitungen den Verkauf von Ziegen- und Schafmilch verbieten.
Gleichzeitig wurde bekannt, daß die von den Behörden veröffentlichten
Meßergebnisse bei Lebensmitteln über die lokal alarmierend hohe Radioaktivität
hinweg getäuscht hatten.
Noch 1986 wurden weitere Planungen der italienischen Industrie und der Regierung
bekannt, wonach bis 1995 weitere sieben AKWs mit je zwei Reaktoren à 1000 MW
gebaut werden sollten. Diese Planung hatte breite Zustimmung im italienischen
Parlament inklusive der KPI gefunden.
Seit Oktober 1986 war das AKW Caorso angeblich wegen "vorübergehender Prüfungen"
außer Betrieb. Der Bürgermeister von Montalto di Castro, Leo Lupidi (Partito
Socialiste), richtete gegen den Weiterbau am dortigen AKW immer neue rechtliche
Hürden auf. Er bestätigte damit die ungewöhnlich hohe Machtkonzentration im Amt
italienischer Bürgermeister.
Den anderen Pol in der italienischen Auseinandersetzung um die Atomenergie
markierte der Generaldirektor des italienischen Elektrizitäts-Konzerns, Mario
Corbellini. Nur wenige Monate nach der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl
erklärte er: "Wir können die nukleare Option nicht rückgängig machen, wir
riskieren sonst von 1992 an totale Finsternis im Lande."
Die Monate vor dem Referendum im Jahr 1987
Das italienische Verfassungsgericht entscheidet im Januar 1987, daß das mit
ausreichender Zahl an Unterschriften geforderte Referendum zwischen 15. April
und 15. Juni 1987 durchgeführt werden solle. In den Monaten zuvor hatte eine
Unterschriftensammlung mit Millionenbeteiligung die gesetzliche Hürde genommen.
Im Februar veranstaltet die italienische Regierung eine "nationale
Energiekonferenz" mit "Experten", die der Nuklearwirtschaft verbunden sind.
Bekannte AtomkraftgegnerInnen, die lediglich zu Dekorationszwecken eingeladen
wurden, sagen ihre Teilnahme ab und begründen dies mit der einseitigen Auswahl
der "Experten". Am Eröffnungstag der Konferenz, die im römischen Sportpalast
stattfindet, demonstrieren rund 5000 AtomkraftgegnerInnen in Rom.
Die Koalitionsregierung unter dem "sozialistischen" Ministerpräsidenten Bettino
Craxi bricht auseinander.
Im März wird Giulio Andreotti (DC) mit der Bildung einer neuen Regierung
beauftragt.
Ebenfalls im März 1987 spricht sich Papst Johannes Paul II alias Carol Woytila
beim Besuch eines Elektrizitätswerks in Civitavecchia verklausuliert gegen
Atomenergie aus. Der Ort ist symbolträchtiger als die Worte, da Civitavecchia
nur wenige Kilometer von der Baustelle des AKW Montalto di Castro entfernt ist.
Hier die Passagen der Papst-Rede, die als Ablehnung der Atomenergie gedeutet
wurden: "Die Frage der Sicherheit der Kraftwerke muß mit ebenso großer
Anstrengung behandelt werden wie bisher die Frage der Energiegewinnung."
Aus dem Zusammenhang geht hervor, daß folgende Worte an diejenigen, die in AKWs
tätig sind, gerichtet waren:
"Die Opfer der Umweltgefährdung sind gerade die Arbeiter."
Im übrigen warnte der Papst vor einer "neue Sklaverei", die infolge des
technischen Fortschritts entstehe oder entstanden sei.
Im Juli 1987 ist Giulio Andreotti noch einer der maßgeblichen Politiker
Italiens. Der Niedergang seiner Partei, der DC, ist eng mit dem in Italien
erfolgreichen Atom-Ausstieg verknüpft. Die Democrazia Cristiana war nach dem
Zweiten Weltkrieg bis 1993 die dominierende Partei des Landes. Sie war in dieser
Zeit an jeder Regierung beteiligt und stellte fast alle Ministerpräsidenten. Die
vier häufigsten Koalitionspartner der DC waren die Italienische Sozialistische
Partei (PSI), die Italienische Sozialdemokratische Partei (PSDI ), die
Republikaner (PRI) und die Liberalen (PLI). Was in Deutschland mit der
Flick-Affaire und dem Parteispendenskandal nur wenig politische Auswirkungen
haben sollte, führte in Italien Mitte der 1980er-Jahre wegen
Korruptionsskandalen und Mafia-Kontakten zum Zusammenbruch der DC. Giulio
Andreotti - als eine der zentralen Figuren der DC - war durchgehend von 1983 bis
1989 Außenminister in verschiedenen Koalitionsregierungen. Unstrittig ist heute,
daß Andreotti in seiner Zeit als führender italienischer Politiker Kontakte zur
Mafia hatte. So traf er sich 1987 mit Salvatore Riina, dem damals mächtigsten
sizilianischen Mafioso, der seit eineinhalb Jahrzehnten flüchtig war und für
etwa 1000 Morde verantwortlich sein soll. Im großen Mafia-Prozeß von 1986/87 in
Palermo wurden Hunderte von Mafiosi verurteilt.
Giovanni Goria (DC), erst 44 Jahre alt, wird im August 1987 Ministerpräsident.
Er regiert mit Hilfe einer 5-Parteien-Koalition bestehend aus DC, PCI
("Sozialisten"), Republikaner, sozialdemokratische Partei (kleiner als die PCI)
und Liberale. Ciriaco de Mita ist zu jener Zeit Parteisekretär der DC - also
"Parteichef".
Das Referendum, das nach der Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts
zwischen 15. April und 15. Juni 1987 hätte stattfinden sollen, wird wegen der
vorgezogenen Parlamentswahlen verschoben. Nach einem bestehenden Gesetz muß ein
Referendum mit einem zeitlichen Mindestabstand von einem Jahr zu
Parlamentswahlen abgehalten werden. Dies könnte allerdings bei den in Italien
häufig recht kurzlebigen Koalitionsregierungen zur Folge haben, daß ein
Referendum weiter und weiter bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag verzögert werden
kann.
Wegen der angekündigten Verschiebung des Referendums auf einen Termin
"frühestens im Sommer 1988" kommt es zu heftigen Protesten der
Anti-Atom-Bewegung. Auf Druck der Referendums-BefürworterInnen wird mit einer
Gesetzesänderung durch Regierung und Parlament der Termin des Referendums auf
den 8. November 1987 festgelegt.
In den Wochen vor dem Referendum versuchen die italienischen Medien unisono,
dessen Bedeutung herunterzuspielen. Der damalige Italien-Korrespondent der
'Badischen Zeitung', Wolfgang Prosinger, stellt in einem Artikel am 7.11.87 das
Referendum als Groteske und Farce dar:
"...kaum mehr als eine Farce."
"Bei den fünf Fragen, die den Italienern vorgelegt werden, geht es um sehr
wenig."
"...zur Debatte steht keineswegs der Ausstieg aus der Atomwirtschaft."
Doch die großen Parteien haben sich mit ihrer Taktik verkalkuliert. Sie
empfehlen - obwohl sie durch die Bank als Pro-Atom-Parteien gelten - beim
Referendum mit "Ja" zu stimmen. Begründet wird dies so: Es gehe lediglich darum,
drei Gesetze abzuschaffen, die Genehmigungsverfahren bei AKWs und Beteiligungen
an ausländischen AKWs regelten. Damit hoffen sie, die Folgenlosigkeit des
Referendums vorherzubestimmen und damit zugleich das intendierte Ziel des
Referendums als Plebiszit gegen Atomenergie auszuhebeln.
Die Argumentation von DC und KPI steigert sich bis hin zu absurden Behauptungen
wie der, es gehe lediglich um die Abschaffung dreier Gesetze, für deren
Abschaffung im Parlament längst eine breite Mehrheit gegeben sei. Bei zwei der
Gesetze, die beim Referendum zur Entscheidung stehen, handelt es sich
tatsächlich um Gesetze, die keinerlei bezug zur Atomenergie aufweisen und
einfach ans Referendum angehängt wurden. Zu berücksichtigen ist die italienische
Besonderheit, daß in Referenden nicht wie beispielsweise in der Schweiz über -
wie auch immer zustande gekommene - Fragestellungen abgestimmt werden darf,
sondern ausschließlich über die Abschaffung bereits bestehender Gesetze.
Gleichzeitig ordnet die italienische Regierung im November 1987 die
Unterbrechung der Bauarbeiten am AKW Montalto di Castro an, um den
AtomkraftgegnerInnen Wind aus den Segeln zu nehmen.
Bei der Volksabstimmung am 8. November 1987 stimmen 86 Prozent der Bevölkerung
aus der Region um Montalto di Castro gegen Atomenergie - italienweit: 72
Prozent. (Die Beteiligung beträgt 65,2 Prozent.) Laut italienischer Verfassung
muß das Ergebnis eines Volksentscheids innerhalb von 120 Tagen umgesetzt werden.
Der Kampf um die Durchsetzung des Atom-Ausstiegs
Sofort nach dem Bekanntwerden des Ergebnisses des Referendums, versuchen die
Medien erneut Verwirrung zu stiften. Die Nachrichten-Agentur dpa kommentiert:
"Es wird ein Moratorium geben, bei dem die Arbeit an vier noch nicht
fertiggestellten Atomkraftwerken auf längere Zeit ausgesetzt wird. (...) Was mit
den drei bereits bestehenden Atomkraftwerken geschehen soll, ist noch unklar."
Einen Widerhall der italienischen Medien gibt folgender Presse-Überblick:
Süddeutsche Zeitung v. 26.11.1987:
"Die überwiegende Volksmeinung zu ignorieren wäre schwierig in einem Land mit
schwachen Koalitionsregierungen."
Süddeutsche Zeitung v. 21.12.1987:
"... Energieplan geändert, der den Bau von 10 neuen Atomkraftwerken bis Mitte
der 90er Jahre vorsah."
"In Italien gibt es drei Atomkraftwerke, die 4,6 Prozent des Energiebedarfs
liefern."
Badische Zeitung v. 19.12.1987:
"Eines der vier bereits existierenden Atomkraftwerke, die nach dem Schock von
Tschernobyl aber alle abgeschaltet worden waren, soll geschlossen, ein zweites
auf Erdgas umgestellt werden."
Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 18.11.1987:
Überschrift "Italien sucht Übergangslösung
Trotz Referendum kaum Ausstieg aus der Kernenergie"
Im Artikel heißt es aber, im Referendum habe "eine deutliche Mehrheit gegen
Kernenergie" votiert. Und: "...trotzdem gilt es als wenig wahrscheinlich, daß
sich Italien (...) völlig aus der Kernenergie zurückzieht."
Weiter wird es so dargestellt, als hätten sich alle italienischen Parteien für
das Votum gegen Kernenergie ausgesprochen, doch plädierten nun für eine
"Übergangslösung". Nach der Interpretation der 'FAZ' bedeute dies, den
Weiterbetrieb des AKW Caorso sowie die Fertigstellung des AKW Montalto di
Castro. "Selbst der Bau des geplanten Kernkraftwerks von Trino Vercellese ist
nicht auszuschließen." (gemeint ist Trino Vercellese II)
Viel wird auch darüber spekuliert, ob es purer Zufall war, daß die drei AKWs
Caorso, Trino Vercellese und Latina in den Monaten vor dem Referendum
abgeschaltet waren und die angegebenen Gründe sich als Vorwände erwiesen.
Einige Jahre später wird der italienische Atom-Ausstieg mit dem Argument
heruntergespielt, daß es ja lediglich um drei Atomkraftwerke gegangen sei. Von
den vier im Bau befindlichen - insbesondere vom AKW Montalto di Castro - ist
nicht mehr die Rede. Doch meist bleibt in den europäischen Medien der
italienische Atom-Ausstieg überhaupt ausgeblendet...
Im März 1988 (29.03.1988) hieß es noch in einem Artikel in der 'Badschen
Zeitung' unter dem Titel "Die Stallwache ruht und kassiert" (Autor: Klaus
Arnsperger), endgültige Stillegung oder Weiterbau des bereits zu 72 Prozent
fertiggestellten AKW bei Montalto di Castro sei eine "Kernfrage italienischer
Innenpolitik". In diesem Artikel heißt es weiter, es seien "Italiens Parteien
bis heute noch immer uneins über die Zukunft der Nuklearindustrie".
Pro Atomenergie sind mehrheitlich und an der Parteispitze: Liberale (PLI) und
Republikaner (PRI), zwei Mini-Parteien, die aber für De Mita (DC) unverzichtbar
waren, um die Regierungs-Koalition bilden zu können.
Angeblich gespalten ist die DC - deren Parteispitze jedoch eindeutig pro
Atomenergie ausgerichtet ist und desgleichen die KPI, die sich in der Opposition
befindet. In der politischen Praxis eindeutige Atomkraft-Befürworter und
gelegentliche Atomenergie-Skeptiker waren "Sozialisten" (PSI) und
"Sozialdemokraten" (PSDI) - beides relativ kleine Parteien.
Als Atomenergiegegner gelten Verdi (Grüne). Die Partito Radicale ist nicht im
Parlament vertreten und engagiert sich in BIs gegen Atomenergie.
In der DC-Führung wird die Position vertreten, daß nach dem Referendum maximal
drei AKWs politisch durchsetzbar seien - dies hätte beispielsweise praktisch mit
dem Abschalten des kleinsten, des AKW Latina und der Fertigstellung des AKW
Montalto di Castro umgesetzt werden können. Die italienische Energiewirtschaft
fordert dagegen als Minimum die Durchsetzung von fünf AKWs.
Die "Sozialisten" um Bettini Craxi lavieren und sprechen sich für den
Weiterbetrieb des AKW Caorso und die Fertigstellung des AKW Montalto di Castro
aus. Noch im Sommer 1987 hatten sie sich unter dem noch frischen Eindruck der
Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl öffentlich für den Atom-Ausstieg
ausgesprochen und angeblich deshalb die Koalition mit der DC platzen lassen.
Doch bereits im März 1988 unterzeichnet die PCI-Führung als Teil der
Regierungskoalition unter Giovanni Goria (DC) einen Beschluß zur Wiederaufnahme
der Bauarbeiten am AKW Montalto di Castro. Die PCI gilt weiter als politisch
zuverlässig: Während die Führung am Pro-Atom-Kurs festhält, hat sich lediglich
die Parteibasis mehrheitlich für den Atom-Ausstieg engagiert.
Die Democrazia Cristiana (DC) ist in Folge der Korruptionsskandale noch nicht
völlig zerfallen und deren aktueller Parteisekretär, Ciriaco De Mita gilt im
Frühjahr 88 als aussichtsreichster Anwärter auf das Amt des italienischen
Ministerpräsidenten (dh. Regierungs-Chefs). Der noch pro forma amtierende
Regierungs-Chef Goria (DC) - die Koalition aus fünf Parteien war zerbrochen - ,
setzt am 10. März 88, zwei Tage vor seinem feststehenden Rücktritt, den Beschluß
durch, das Kraftwerk Montalto di Castro "als ein Nuklearkraftwerk zu bauen".
Alle anderen Alternativen, etwa der Betrieb mit Gas, Kohle oder Öl, werden
verworfen.
Angeblich zwingen Grüne, Sozialisten und Sozialdemokraten DC-Parteichef de Mita,
den unter Goria durchgesetzten Beschluß vom 10. März rückgängig zu machen - und
verhelfen ihm so zum Ministerpräsidentenamt.
Ob die Ursache des Regierungs-Kurswechsels in Koalitionsgeschachere zu suchen
ist, erscheint fraglich. Naheliegender ist es, einen Zusammenhang zu der
Tatsache herzustellen, daß im März 10.000 Menschen bei Montalto di Castro auf
der Straße 'Via Aurelia' protestieren und zugleich die Schienen der nach Norden
verlaufenden Eisenbahnlinie blockieren. Die 'Via Aurelia' ist die
Hauptverbindungsachse im Straßenverkehr zwischen Nord- und Süditalien.
Als die italienische Polizei die Via Aurelia zu räumen versucht, werden
Tränengasgranaten in die Menge geschossen. Laut 'Frankfurter Rundschau' (2.
April 1988) handelt es sich um eine Demonstration für den Weiterbau des AKW
Montalto di Castro.
Mit den Protesten sind Streiks der Baustellenarbeiter verbunden. Diese können
eine Sonderregelung durchsetzen: Die Regierung beschließt, die streikenden
Arbeiter voll weiterzubezahlen, bis eine politische Einigung über Weiterbau oder
Stilllegung getroffen sei. Der Volksentscheid wird also nicht als Entscheidung
akzeptiert. Es wird auf Zeit gespielt.
Den Arbeitern werden entsprechend Regierungsbeschluß mehr als 1 Milliarde Lire (
entspr. 1,4 Millionen DM) pro Tag ausbezahlt - und zwar nicht aus Mitteln der
Arbeitslosenversicherung, sondern aus Steuermitteln.
Am AKW Montalto di Castro wird bereits seit 1979 - also über 8 Jahre hin -
gebaut. Es sollte größer als das AKW Fessenheim werden: 2 Reaktorblöcke à 1000
MW.
Am 17. April erscheint die 'Zeit' (Nr. 17, 17. - 22. April 1988) mit der
Schlagzeile:
"Rom steigt aus"
Hier ist zu lesen, daß die heftigen Auseinandersetzungen an der Via Aurelia
zwischen "Polizei und Umweltschützern" ausgetragen worden seien. Des weiteren
ist zu lesen, daß Bettino Craxi (PSI-Chef) in seiner kurzen Zeit als
Ministerpräsident eine Entscheidung vermieden habe. Zugleich wird in diesem
Artikel die Interpretation vertreten, das Referendum sei bewußt so angelegt
worden, daß "keine eindeutige Aussage für oder gegen Atomenergie" möglich
gewesen sei.
Zur Rolle der PSI, die mit der deutschen SPD als Schwesterpartei verbunden war:
Uli Maurer reiste als damaliger baden-württembergischer SPD-Landesvorsitzender
zu einem gemeinsamen Treffen mit der PSI ins Forschungszentrum ISPRA am Lago
Maggiore. Die PSI war hochkarätig vertreten mit Walter Maroni, dem Vorsitzenden
der Lombardischen PSI, und Luigi Vertemati, dem lombardischen Umweltminister.
Die baden-württembergischen SPD-Mitglieder, bei denen es sich um ausgesprochene
Atomkraftgegner handelte, waren heftig überrascht, als sich herausstellte, daß
die PSI-Spitzenleute für neue "absolut sichere" AKWs eintraten.
Im Dezember 1988 wird das AKW Latina endgültig geschlossen. Ebenfalls Ende 1988
fällt die Entscheidung, das AKW Montalto di Castro als kombiniertes
Öl-Gas-Kraftwerk fertigzustellen. Das AKW Trino Vercellese und das AKW Caorso
waren bereits vor 1987 angeblich wegen betriebsbedingter Störungen außer
Betrieb. Letzteres war 1986 nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
abgeschaltet worden.
Am 8. Juli 1988 titelte die 'FAZ':
"Italien verzichtet auf Kernkraft"
In der Stuttgarter Zeitung heißt es am 13. Juli 1988 unter der Überschrift "Rom
will energisch Energie sparen", der italienische Atom-Ausstieg koste bis zur
Jahrtausendwende zwischen 17 und 21 Milliarden Mark. Dies bedeute, daß der
Strompreis in Italien jedes Jahr "um 10 Prozent" erhöht werden müsse.
Noch bis 1990 gab es ein heftiges Hin- und Her, das durch folgende Taktik
gekennzeichnet war: Dieselben Medien, die den italienischen Volksentscheid 1987
herunterzuspielen versuchten, verkündeten 1988 vorzeitig den Atom-Ausstieg, um
das Publikum in Sicherheit zu wiegen. Der italienische Atom-Ausstieg sollte
jedoch alsbald gekippt werden.
Neben der Besetzung der Via Aureli, den Großdemonstrationen am AKW Montalto di
Castro und dem Zusammenbruch der staatstragenden DC unter den
Korruptionsskandalen, spielte beim italienischen Atom-Ausstieg sicherlich auch
Fiat eine nicht unbedeutende Rolle. Fiat hatte sich bereits 1984 aus dem
Atomgeschäft ausgeklinkt und die eigenen Produktions- und
Entwicklungskapazitäten für den Reaktorbau an eine Staatsholding verkauft.
Hierdurch fiel ein bedeutender Machtfaktor gegen einen Atom-Ausstieg vorzeitig
aus.
Entschieden war der Kampf war erst 1990, als die italienische Regierung
beschloß, die letzten AKWs abzureißen. Die letzten beiden waren das AKW Trino
Vercellese und das AKW Caorso. Deren Entsorgung kostete umgerechnet 1,4
Milliarden Mark.
Daß auch dies keine endgültige Entscheidung bedeutete und die italienische
Bevölkerung weiterhin wachsam bleiben mußte, bewies die Regierung Berlusconi im
Jahr 2003.[1] In der abgelegenen Region Basilicata sollte ein Endlager für
radioaktiven Müll eingerichtet werden.
REGENBOGEN NACHRICHTEN
Anmerkungen
1 Siehe auch unsere Artikel:
Endlager für Atommüll in Italien?
Eine Region probt den Widerstand (22.11.03)
ItalienerInnen erfolgreich
- kein Endlager weltweit (2.12.03)
Info Atom-Ausstieg
Mehr Informationen über die Mailingliste fessenheim-fr