[Debatte-Grundeinkommen] zu Tims negativem Zinseinwand gegen's bGE
Bert Grashoff
unversoehnt at gmx.de
So Jan 8 10:59:46 CET 2017
Hallo Tim,
ich sehe nicht, dass sich der Kapitalismus einfach so urwüchsig über den
Vorzeichenwechsel bei den Leitzinsen abschaffen und in einen Verein
freier Menschen verwandelt würde. Erstens kommen zumindest bislang die
ja nur sehr moderat negativen EZB-Zinsen in ihrer Negativität überhaupt
nicht bei den stofflichen Märkten an, sondern verbleiben in der
Spekulationszirkulation. Zweitens ist Kommunismus überhaupt nicht der
Zweck der negativen EZB-Zinsen, sondern sie sind bloß Ausfluss eines
Krisenmanagements mit dem Ziel, wieder normale kapitalistische
Verhältnisse zu stabilisieren. Selbst wenn es eine Phase geben sollte,
in der die Gesamtwirtschaft von negativ verzinstem Geld durchdrungen
werden würde, bleiben wir auf allen möglichen institutionellen Ebenen am
Wachstumsimperativ innerhalb des Eigentumsfetischs orientiert - nicht
zuletzt in deiner Vorstellung davon, dass ein negativer Zins die
Fleißigen zu Aktivitäten anheizen würde. Der Wachstumsimperativ würde
meiner Einschätzung nach sofort, wenn das irgendwie systemisch wieder
möglich ist, zu positiven Zinsen führen, weil negative Zinsen nichts am
Eigentums- und Geldfetisch ändern, letzteren nur ein wenig
umstrukturieren. Tote, vergegenständlichte Arbeit bleibt als
Eigentumsfetisch auch mit negativen Zinsen dominant, zumal die
Wertaufbewahrungsfunktion toter Arbeit gegenüber dem Geldfetisch
stabiler wäre. Drittens sieht es mir eher so aus, als wenn das Kapital
den klassischen Weg eines großen Krieges derzeit ohnehin einer
systemischen Geldvermögensenteignung durch negative Zinsen vorziehen
wird und damit deiner "größten Geld-Revolution seit Anbeginn der Zeit"
gehörig in die Suppe spucken. Für den Einzelkapitalisten ist es stets
rationaler, auf Sieg in einem hochriskanten Konkurrenzspiel innerhalb
der Kapitalistenklasse zu setzen als auf ein Spiel, das systemisch die
Kapitalistenklasse enteignet. Krieg ist eine beliebte internationale
Variante der Konkurrenz jener anderen Klasse. So ist halt die
zwanghaft-schizoide Rationalität des automatischen Subjekts gestrickt.
Deine Frage, ob ein bGE nicht die gleichen Fehlanreize wie positive
Zinsen für die Reichen setzt, würde ich verneinen. Ein bGE löst die
Individuen vom gesellschaftlichen Wachstumszwang, auch wenn er als
gesellschaftlicher selbstverständlich innerhalb kapitalistischer
Verhältnisse ohnehin bestehen bleibt: Unwahrscheinlich, dass in einer
bGE-Gesellschaft erstmal massiv tote Arbeit verkonsumiert werden würde
bevor wieder lebendige Arbeit in Gang käme. Der strukturelle Unterschied
ist massiv: Ob das oberste Zehntausendstel auf der faulen Haut liegt
oder nicht, ist für die Gesamtproduktivität komplett egal, ob aber alle
auf der faulen Haut liegen, ist selbst mit Industrie 4.0 und in einer
Zweidrittel-Dienstleistungsgesellschaft kein bisschen egal. Das ist uns
allen sowieso klar, zumal wir unser Leben lang auf systemkompatible
Nützlichkeit qua Lohnarbeit konditioniert wurden. Deshalb gibt's ja
diese Umfragen, in denen drei Viertel der Leute sagen, dass sie auch mit
bGE weiter einer abhängigen Beschäftigung nachgehen wollen würden. Wenn
wir ein geschickt konzipiertes bGE einführen, hätten wir gegenüber heute
sogar einen deutlich stärkeren Anreiz zu Lohnarbeit (also im besten
Fall: nützlicher Tätigkeit). Nüchtern betrachtet ist Lohnarbeit im
prekären Segment heute gegenüber ALG2-Bezug ökonomisch irrational,
rational höchstens wegen der Vermeidung der grundgesetzwidrigen
fordernden Knute im Hartz4-Konstrukt. Ein gut gestricktes bGE könnte
Lohnarbeit in jeder Variante wieder ökonomisch rational erscheinen
lassen (auch wenn das immanent erstmal immer die öko-sozial
katastrophale Rationalität des automatischen Subjekts bleibt). Du
vergisst bei deiner skeptischen Frage m. E., dass wir nicht nur Markt-,
sondern eben auch Sozialstaatsstrukturen haben. Ein bGE wäre für den
gesellschaftlichen Schnitt einfach ein marktkonformeres
Sozialstaatsinstrument, das unterdessen für mindestens ein Viertel der
Bevölkerung dieses reichen Landes einen die Not wendenden Charakter
hätte. Im Zweifelsfall: Scheiß auf ökonomische Argumentation, es geht
beim bGE unmittelbar erstmal immer um die Absicherung soziokultureller
Existenz.
Drei Formulierungen in deiner Mail hielten mich erstmal ab, mir deinen
PDF-Aufsatz zu vergegenwärtigen:
1. "Ich habe leider den Einduck, dass hier heimlich das bGE dazu
missbraucht werden soll, dann doch irgendwann die Zinsen wieder anzuheben."
Hier? Heimlich? Missbraucht? Wie gesagt: Die Zinsen sind auf der Ebene
der Masse der Bevölkerung auch heute nicht negativ. Und klar, ein bGE
könnte auch und würde sehr vermutlich systemstablisierenden Einfluss
haben und könnte somit auch die Zinsen wieder nach oben drücken. Es gäbe
aber auch jedem Individuum die grundsätzliche Möglichkeit, in jeder
gegebenen Situation 'Nein' zu sagen, weil die Existenz abgesichert ist.
Das muss nicht, könnte aber einen weitaus stärkeren Druck auf den
Eigentumsfetisch ausüben als negative Zinsen.
2. Deine "klare Meinung zum bGE": In einen Debatten-Verteiler eines
Netzwerks mit einem Beitrag einzusteigen, der das Ziel dieses Netzwerks
radikal in Zweifel zieht, ist mindestens sonderbar.
3. "In einem Negativ-Zins-Umfeld lehne ich das bGE jedoch strikt ab,
denn selbst im Paradies muss man sich immer noch nach dem Apfel strecken
um ihn dem Mund zuzuführen."
Im ersten Moment dachte ich, dass das ein ausgemachter Griff ins
Metaphern-Klo von dir war, aber wer weiß, vielleicht denkst du dir da
Tiefergehendes. Wegen des latainischen Teekesselchens malum, das sowohl
Böses als auch Apfel bedeutet, ist für uns ja klassisch die Frucht vom
Baum der Erkenntnis ein (Granat-)Apfel. Hättest du von einer Banane oder
einer Mango oder einer Birne geschrieben, ok, dann wär mir das nicht
weiter übel aufgestoßen. Wobei es ja auch Schlaraffenland-Vorstellungen
gibt, wo einem gebratene Tauben direkt in den Mund fliegen. Da du aber
vom Apfel schreibst, sagst du hier, dass du ein bGE in einem
Negativ-Zins-Umfeld strikt ablehnst, weil ja selbst Adam und Eva eigene
Früchtepflückmühe aufwänden mussten, um den Sündenfall zu begehen und
die Erbsünde dem gesamten Menschengeschlecht zu vermachen. Also kurz: Du
lehnst ein bGE ab, weil es uns von der Reproduktion der Erbsünde
abhalten würde. Innerhalb dieser christlichen Metaphernwelt bin ich
davon überzeugt, dass wir aus der alttestamentarisch gegebenen
Erbsündenkonstellation (und mit der neutestamentarischen Leichtigkeit im
Herzen, dass Gott in seiner Christusgestalt all unsere Sünde sowieso auf
seine Kappe genommen hat) Luzifer lieb haben, mit ihm und den seinen
tanzen und seine Tränen weinen sollten, um aus der sinnlichen und
intellektuellen Erkenntnis von gut und böse pragmatisch die Versöhnung
beider zu bewirken. Du aber willst kein bGE, weil es jedem Individuum
die Möglichkeit gäbe, sich der Mühe der Erkenntnis von gut und böse zu
entziehen und sie somit paradiesisch-bewusstlos so zu behandeln, als
wären sie bereits versöhnt. Mal abgesehen davon, dass ich den Eindruck
habe, dass die Masse der Herde die Erkenntnis des Bösen gar nicht
aushält und sich insbesondere auch deshalb in die Zerstreuung des
Konsums flüchtet, sie sich also auch heute und insbesondere im
Werkelleben bereits nihilistisch zu gut und böse verhält, sehe ich
nicht, warum du ein Interesse daran haben könntest, dass andere Leute
sich täglich neu für die Erbsünde abrackern. Willst du damit irgendwie
ausdrücken, dass die satanischen Horden nicht ausreichend gewürdigt,
gesehen und in ihrer Eigengesetzlichkeit geschätzt werden und dass ein
bGE schon gar nicht dafür sorgen dürfe, dass das noch weniger passiert?
Ist mir etwas unklar, hatte mich im ersten Moment jedenfalls abgeturnt,
deinen PDF-Aufsatz zur Kenntnis zu nehmen.
Was ich vorhin dann aber doch zumindest im Schnelldurchlauf tat
(abgesehen von den Anhängen). Den analytischen Teil bis 3.6.1 fand ich
ausgesprochen klar und plausibel, eine ziemlich knappe, gute und
ausbaufähige Darstellung, scheint mir. Ohne jetzt allzulange darüber
nachgedacht zu haben, frage ich mich allerdings, ob du die Bedeutsamkeit
von institutioneller und marktvermittelter Kooperation einerseits und
den Produktivitätsdruck zu wissenschaftlich-technologischem Fortschritt
andererseits im Kapitalismus nicht etwas stiefmütterlich behandelst und
vielleicht auch deshalb nicht allzu viel in Kapitel 4 zu sagen weißt. In
Kapitel 3.6.2. wird's dann aber in sich widersprüchlich, wenn du
einerseits feist behauptest, dass die Bevölkerungsexplosion des letzten
halben Jahrtausends zielstrebig vom Kapital bewirkt wurde, andererseits
Kondom- und Pillenknick in der Geburtenrate eine ganze Reihe von dir
furchtsam beobachteter Phänomene zeitigt. Kapitel 4 hat dann im
Wesentlichen nur Behauptungscharakter, ist auch gegenüber dem
analytischen Teil verblüffend kurz, wirkt auf mich insgesamt wie ein
Blick von dir in deine Wunschkristallkugel, gibt argumentativ im Prinzip
nichts her. Warum es mich nicht überzeugt, habe ich ja oben beschrieben.
(Falls dich Lektorat interessiert: Mir sind ein paar kleinere Tippfehler
aufgefallen, die ich mir aber nicht notiert habe. Was ich noch weiß:
Erster Satz in 3.5.1. will vermutlich mit "als der Leih-Nehmer"
schließen. Und der Text zu Abbildung 13 will vermutlich "versehen",
nicht "verwesen".)
Ich sag's dir mal, um's dem Verteiler zu sagen: Mir ist klar, dass ich
die vergangenen Monate hier im Verteiler wieder ziemlich präsent war,
Diskussionsfäden offen einer weiteren Bearbeitung harren, ich zudem
appellierte, eine ausführliche Modelldiskussion zu starten, an der sich
hier zumindest ja aber eh kaum jemand beteiligt. Zudem stelle ich dir
Fragen und motiviere somit zu weiterer Auseinandersetzung. Es gibt viel
zu tun - ich aber habe andere Prioritäten. Ich entschuldige mich dafür,
dass ich den Vorsatz habe, mich wieder deutlich aus diesem Verteiler
zurückzunehmen. Mir fehlt dafür einfach die nötige Zeit. Ich hoffe mal,
dass die dieses Wochenende tagende bGE:open die nächsten Tage dazu
führen wird, dass andere Leute vielleicht auch mit ganz anderen
Perspektiven hier ihre Schwerpunkte anbringen.
Liebe Grüße,
Bert
Am 03.01.2017 um 16:34 schrieb Tim Deutschmann:
> Liebe Leute,
>
> ein frohes neues Jahr wünsche ich Euch allen!
>
> Eine ganze Weile lese ich jetzt schon gespannt mit, doch bin ich ein
> wenig enttäuscht, dass die wesentlichen Gründe für eine Notwendigkeit
> des bGEs nur unzureichend diskutiert werden und mit den fundamentalen
> Parametern des sozio-ökonomischen Systems verknüpft werden.
>
> So entgeht scheinbar unbemerkt den meisten hier (wenn nicht allen) die
> größte Geld-Revolution seit Anbeginn der Zeit:
>
> *Die Zinsen werden negativ.*
>
> Doch was heißt das und wie wird sich das auf die Lebensgrundlage der
> Menschen am Existenzminimum auswirken, die sich zudem den Sach-Zwängen
> des Kapitals, also vornehmlich dem Zwang ungewollte Verträge
> unterschreiben zu müssen (z.B. die Wieder-Eingliederungs-Vereinbarung
> oder auch Miet-Verträge statt einem Bau- oder Kauf-Vertrag für die
> eigenen 4 Wände) ausgesetzt sehen?
>
> Für wie lange wird das so sein?
>
> Ein paar Fakten zur *Negativ-Zins-Wirtschaft*:
>
> Nicht nur die Spar-Zinsen, sondern auch die Kredit-Zinsen werden
> negativ. Das bedeutet insbesondere für Häusle-Bauer, dass sie sich bei
> negativem Kredit-Zins Geld leihen können und weniger zurückzahlen
> müssen, als sie geliehen haben. Wie man sich nun leicht vorstellen
> kann, wird also bei jeder Kredit-Vergabe mit negativem Zins ein wenig
> Geld (der Zins) in die Kreis-Läufe der Wirtschaft *„injiziert”*.
>
> Die unternehmerische Initiative wird (durch den Zins) belohnt und
> nicht mehr bestraft!
>
>
>
> Zwar kann sich das so in den Umlauf geratene Geld immer noch auf
> Konten sammeln, doch schmilzt es dort und gerät unter eine Art
> Investitions-Zwang (sog. /Finanz-Repression/ bei Bargeld-Verbot oder
> abzinsbarer Geldmenge M0), wenn sich die Geld-Eigentümer nicht mit der
> Abzinsung zufrieden geben wollen.
>
> Sehr reiche Geld-Vermögende sind also in so einem Negativ-Zins-Umfeld
> ständig auf der Suche nach Kredit-Nehmern, die weniger Zins nehmen als
> die Bank.
>
> Wie wirkt sich das auf die Inflation, Kauf-Kraft und Real-Löhne aus?
>
> Wie wird es sich auf Beschäftigung auswirken?
>
> Werden wir nach einer Weile unter negativen Zinsen überhaupt noch ein
> bGE brauchen?
>
> Ist nicht ein bGE eine Art „Spiegel“ der durch die sparbaren
> Geld-Vermögen bedingten Zins-Einkünfte der Reichen?
>
>
>
> Setzt nicht das bGE genau die gleichen Fehl-Anreize wie positive
> Zinsen für die Reichen?
>
> Ein bGE würde von der Mittel-Schicht gezahlt werden. Diese
> Mittelschicht zahlt dann indirekt über ihren Konsum und direkt über
> die Kredit-Zinsen die Zinsen der Reichen und, über Steuern, das bGE
> der Unvermögenden.
>
> Hierbei ist mit Unvermögen die Anschlussfähigkeit an die bestehende
> Arbeitsteilung gemeint.
>
> Ich habe leider den Einduck, dass hier heimlich das bGE dazu
> missbraucht werden soll, dann doch irgendwann die Zinsen wieder anzuheben.
>
> Deswegen gibt es eine klare Meinung von mir zum bGE:
>
> Ein bGE unterstütze ich nur im Falle positiver Zinsen (also im
> Kapitalismus), denn nur so können die eigentumslosen Menschen vor den
> Sach-Zwängen des Kapitals geschützt werden und nur so kann in einer
> Art ungezwungenem „Ruhe-Modus“ (gemeint ist die Existenz im bGE) über
> neue Unternehmungen nachgedacht werden und die Qualifikation und der
> Bildungs-Stand erweitert werden.
>
> In einem Negativ-Zins-Umfeld lehne ich das bGE jedoch strikt ab, denn
> selbst im Paradies muss man sich immer noch nach dem Apfel strecken um
> ihn dem Mund zuzuführen.
>
> Im Anhang findet sich eine interessante Klage-Schrift,***Anlage 1*,
> die zusammen mit der *Anlage 2* ein wenig die größeren
> sozio-ökonomischen Zusammenhänge rund um den Zins beleuchtet.
>
> Ich wünsche Uns alles Gute und Erfolg im neuen Jahr, vielleicht
> gelingt es uns ja, den Zweck „(begrenzt) ungezwungenes Sein“ ohne das
> Mittel des bGE mit negativen Zinsen zu erreichen!
>
> Mit freundlichen Grüßen,
>
> Tim Deutschmann
>
> Am 03.01.2017 um 12:00 schrieb
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