[Debatte-Grundeinkommen] Wie hoch muss ein Grundeinkommen sein? Oder: Das Regelsatzdesaster

Bert Grashoff unversoehnt at gmx.de
Sa Feb 4 14:27:35 CET 2017


Lieber Ronald,

regionale Modifizierung von Wohngeld widerspricht m. E. unserem dritten 
Kriteritum der Bedürftigkeitsprüfungslosigkeit. Auch wenn wohl niemand 
den Erstwohnsitz so häufig wechselt wie die Unterwäsche und der 
Erstwohnsitz ja eh gemeldet werden muss, diese Form der 
Bedürftigkeitsprüfung also sozusagen vollautomatisch im System eh 
mitläuft, insofern auch antragslos vollautomatisch als Bestandteil eines 
bGE je nach Erstwohnsitz ausgeschüttet werden könnte, ist sie m. E. aus 
der Sicht des Individuums dennoch lästig. Vor jedem Umzug müssten 
zumindest einkommensarme Menschen recherchieren, wie das regionale 
Wohngeld der Zielregion konzipiert ist. Gut, das muss kein gigantischer 
Aufwand sein, man könnte per Gesetz ja z. B. den Vermietern aufdrücken, 
bei Angaben zur Miethöhe zugleich auch die regionale Wohngeldhöhe 
anzugeben, so dass der Aufwand da gegen null ginge. Ich find's einfach 
nicht pure, es bliebe eine Bedürftigkeitsprüfung, es wäre nicht 
egalitär. Mindestens für meinen Vorschlag, bGE einfach über 
Geldmengenerhöhung zu finanzieren, wäre diese Nicht-Egalität ein 
Problem. Wieso sollen denn die Vermieter in teuren Mietregionen mehr 
Knete vom Staat erhalten als die Vermieter in billigen Mietregionen? Bei 
einem egalitären bGE mit egalitärem Wohngeldanteil ist die Antwort 
einfach: Weil die Individuen sich dafür entscheiden, in einer teuren 
Mietregion zu wohnen und entsprechend weniger von ihrem bGE für übrige 
Zwecke zu haben. Selbst wenn ein regional modifiziertes Wohngeld fair in 
dem Sinne ausgestaltet wird, dass es in jeder Region vergleichbaren 
Wohnraum finanziert, hätte es einen entmündigenden Charakter: Den 
Individuen könnte ihre Wohnlage hinsichtlich der Finanzierung schlicht 
egal sein, während sie bei einem egalitären bGE gewichten müssten, ob 
ihnen eine teurere Wohnung z. B. wegen des Standorts wichtiger ist oder 
eher mehr verfügbares bGE jenseits der Mietkosten.

Wenn ich das richtig sehe, wird Wohngeld und Mietanteil in ALG II heute 
kommunal finanziert. Was bedeutet, dass Kommunen mit geringer 
Wirtschaftskraft auf doppelte Weise überproportional belastet werden: 
weniger Steuereinnahmen und höhere Sozialausgaben. Da ich davon ausgehe, 
dass wir uns im Zweifelsfall bei der Gegenfinanzierung eines bGE auf 
Bundes- oder EU-Ebene bewegen (wenn halt nicht auf EZB-Ebene), wäre ein 
egalitäres bGE mit egalitärer Wohngeldhöhe eine Entlastung von Kommunen 
mit schwacher ökonomischer Performance. Das wäre ein Nebenaspekt der 
'Förderung strukturell abgehängter Regionen'.

Deine Bemerkungen zum Mietwucher überzeugen mich wenig. Im Prinzip ist 
das ein Teilaspekt all der Debatten, die wir hier zu den reinen 
Mehrwertsteuermodellen führen. Man könnte ja genauso gut sagen, dass ein 
bGE die Profitrate von ALDI, dm und sonstigen Einzelhändlern absichert, 
perspektivisch den Einzelhändler-Oligopolen eine bequeme Position für 
höhere Profitraten (=Wucher) einräumen könnte. Die Verfechter reiner 
Mehrwertsteuermodelle reiten immer darauf herum, dass letztlich alle 
Steueranteile vom Endverbraucher bezahlt werden. Abgesehen davon, dass 
sie davon abstrahieren, dass Einkommen ≠ Konsumausgaben, weil Einkommen 
= Konsumausgaben plus Sparen/Investieren/Kapitalisieren, abstrahiert 
ihre Betrachtungsweise selbstverständlich auch davon, dass es ganz 
unterschiedliche Märkte für unterschiedliche Konsumarten gibt und kein 
einziger Markt in der Realität dem WiWi-Modell ideal freier Märkte 
entspricht (sogenanntes bilaterales Polypol oder vollkommener Markt, 
vgl. z. B. https://de.wikipedia.org/wiki/Vollkommener_Markt ). Wenn wir 
mal optimistisch davon ausgehen, dass ein bGE dazu führen würde, dass 
der Arbeitsmarkt zumindest tendenziell ein solch vollkommener Markt 
wird, lässt sich dein Hinweis auf Mietwucher als Indiz dafür auffassen, 
dass wir bei den bGE-Märkten, also denen der Existenzsicherung, wegen 
der impliziten Staatssubventionierung hingegen alles andere als 
vollkommene Märkte bekommen. Der Wohnungsmarkt erscheint mir da das 
kleinere Problem gegenüber den oligopolen Einzelhandelsstrukturen, weil 
er ja grundsätzlich relativ stark diversifiziert ist und ein bGE z. B. 
dazu führen könnte, dass viele zur Sesshaftigkeit neigende Leute sich 
für günstigere Eigenheim- als für Mietvarianten entscheiden, er also 
noch diversifizierter werden würde. Zentrales Problem des Mietmarkts ist 
das Thema, das Karin, Stefan und Egge gerade eigentlich verhandeln, aber 
seltsamerweise übersehen: Nicht nur Löhne stecken in den Preisen, 
sondern auch Kapitalrenditen. Eine Form dieser Kapitalrendite ist die 
Grundrente, also die aus dem Eigentumsfetisch resultierende Bezahlung 
von Landnutzung an den Eigentümer des Landes (im Miet-/Pachtfall) bzw. 
der Preis von Land (im Kauffall). Immobilienpreise, ob nun als Kauf- 
oder Mietpreis, sind in attraktiven Innenstadtlagen deutlich höher als 
z. B. in unattraktiven Provinzlagen, die Grundrente entsprechend höher 
bis zum Mietwucher (analog bei z. B. ressourcenhaltigem Land). Man kann 
sich zwar grundsätzlich viele Möglichkeiten überlegen, wie dem 
entgegengetreten werden kann, etwa durch sozialen Wohnungsbau, aber wenn 
wir nicht beliebig hohe Wolkenkratzer in die Innenstadtbereiche knallen 
wollen, haben wir strukturell immer eine angebotsseitige Beschränktheit, 
die für die nachfragenden Individuen ätzend ist: Selbst wenn wir 
politisch die Marktmechanismen komplett abschalten, also das Ganze 
planwirtschaftlich angehen und die Immobilienpreise komplett egalisieren 
würden, bliebe bei objektivem Mangel ausreichend vorhandenen Wohnraums 
dieser Markt unfair, weil nicht alle gleichermaßen in den attraktivsten 
Gegenden wohnen könnten.

M. E. ist es daher sinnvoll, das Pferd komplett andersrum aufzuzäumen. 
Du sagst "jede staatliche Finanzierung dieses Wuchers ist faktisch eine 
Förderung des Einkommens relativ Einkommensstarker." Das gilt nur unter 
der Bedingung, dass die staatliche Finanzierung auf der 
Gegenfinanzierungsseite diesen Wucher nicht kompensiert, also 
Einkommensstarke nicht entsprechend stärker besteuert. Wenn wir 
verhindern wollen, dass ein existenzsicherndes bGE zu einer 
Subventionierung der Anbieter von existenzsichernden Gütern und 
Dienstleistungen wird, also quasi zu einem Selbstbedienungsladen für 
diese Anbieter, müssten wir steuerpolitisch eine Struktur schaffen, die 
es unattraktiv macht, hohe Profite aus den bGE-Märkten zu quetschen. 
Wenn wir diese Märkte nicht in planwirtschaftliche Staatsregie nehmen 
wollen (oder nicht zumindest bürokratielastige strenge Kontrollgesetze 
für diese Märkte erlassen wollen), dann bietet sich m. E. nur das 
Standardmittel einer echten und deutlichen Steuerprogression (bei 
möglichst intensiver Verhinderung von Steuerflucht) an, die ja ohnehin 
innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen das einzig wirksame Mittel 
(neben Erbschafts-/Schenkungssteuer oder einem System-Crash) sein kann, 
die Schere zwischen reich und arm wieder mehr zu schließen. Wie gesagt: 
M. E. ist das mit Blick auf die Einzelhandels-Oligopole im Zweifelsfall 
inhaltlich viel wichtiger als mit Blick auf die Immobilienmärkte. Vgl. 
dazu dann für nähere Detailüberlegungen meine parallel über den 
Verteiler verschickte Mail an Bernd.

Liebe Grüße,

Bert


Am 30.01.2017 um 11:33 schrieb rblaschke at aol.com:
> Lieber Bert,
>
> ich kann nachvollziehen, was du meinst.
> Für große Preisunterschiede bei Mieten gibt es in vielen 
> Grundeinkommenskonzepten das Wohngeld (regional modifiziert - wie es 
> jetzt schon - ungenügend - ist, auf Bruttowarmmiete bezogen und 
> individualisiert).
>
> Natürlich kann auch das Grundeinkommen an einem sehr hohen Maßstab 
> bemessen werden, was einer Förderung strukturell abgehängter Regionen 
> gleich käme.
>
> Der weitere Punkt ist, dass der Mietwucher endlich enden muss - jede 
> staatliche Finanzierung dieses Wuchers ist faktisch eine Förderung des 
> Einkommens relativ Einkommensstarker.
>
> Herzlich, Ronald
>

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