[Debatte-Grundeinkommen] zur Dezemberdebatte

Jochen Tittel jochentittel at web.de
Do Dez 29 11:03:10 CET 2016


Liebe Karin, liebe Debattenteilnehmer,
ich bin auch überrascht, wie erfolgreich Dein Weckruf an diese 
Debattenliste geworden ist und
möchte mich dafür bei Dir bedanken, auch wenn ein Gutteil dieser Debatte 
wenig erfreulich ist. Ich
habe auch die Texte auf Deiner Hompage gelesen. Daß Du Dir eine 
kindliche oder jugendliche
Phantasie bewahrt hast, finde ich gut; leider sind ja viele Erwachsene 
scheinbar der Meinung,
Erwachsenheit bedeute vor allem Phantasielosigkeit. Allerdings denke ich 
auch, daß Du mit Deinen
technologischen Phantasien unsere menschliche Problematik verfehlst. 
Unsere Probleme entstehen
nicht durch Mangel an irgendwelchen Ressourcen – ob nun materielle, 
technologische oder geistige
–sondern aus einer falschen Haltung uns selbst und der Welt gegenüber. 
Insofern sollten wir also
unsere Phantasien mit einer vernunftgesteuerten kritischen Distanz 
betrachten. In politischen oder
anderen öffentlichen Angelegenheiten ist es oft nicht notwendig, mehr 
über die Beteiligten zu
wissen, als welche Haltung sie zu einer speziellen Problematik 
einnehmen. Dennoch ist es
förderlich und angenehm, wenn man die Personen, mit denen man zu tun 
hat, besser kennt. Deshalb
lese ich gern etwas dazu und gebe auch selbst Einblick in meine 
Biographie und meine
Vorstellungswelt. Einige Texte dazu findest Du (und für alle weiteren 
Debattenteilnehmer: findet
ihr) auf http://jt.blogger.de Insbesondere zu meinen Ansichten über die 
Ursachen unserer heutigen
Konflikte: http://jt.blogger.de/20120226 : Die Geschichte eines Irrtums. 
Die Texte dort haben alle
schon ein paar Jahre auf dem Buckel, sind aber immer noch aktuell.

Zum Hauptthema der gegenwärtigen Debatte: BGE-Partei oder nicht, bin ich 
immer noch
unentschieden. Ich finde im Grunde alle Argumente und Fragen richtig und 
berechtigt, die Arfst
angeführt hat. Dennoch ist mir auch der Gedanke sympathisch, daß mit 
dieser Parteigründung der
Mangel an Demokratie unterlaufen werden sollte, saß wir noch nicht die 
Möglichkeit einer
bundesweiten Volksabstimmung haben. Ich habe selbst ein paar Erfahrungen 
als
Kommunalpolitiker kurz nach der Einverleibung der DDR in die BRD 
gesammelt – war als Grüner
in den ersten Jahren nach der Wende im Dresdner Stadtrat. Ich habe mich 
da ständig überfordert
gefühlt und habe mich deshalb für einen schlechten Stadtverordneten 
gehalten und damit nicht
weitergemacht. Aber ich habe die Überforderung nicht nur meinen 
mangelhaften Fähigkeiten
zugeschrieben, sondern auch einem Fehler im System: der Spaltung der 
Bevölkerung in „Politiker“
und unpolitische Bürger. Natürlich ist das Beenden meiner Tätigkeit als 
gewählter Politiker nicht
die Alternative zur aktiven politischen Laufbahn. Politik ist eben 
etwas, was nicht nur in
Parlamenten und Parteien stattfindet. Die Grünen, die selbst mal aus der 
außerparlamentarischen
Opposition hervorgegangen sind, sollten das eigentlich wissen. Als denen 
aber in den neunziger
Jahren die Beteiligung an der Regierung wichtiger wurde, als ihre 
ursprünglichen alternativen
Engagements, bin ich auch aus dieser Partei ausgetreten und bin 
politisch außerhalb des
Parteiensystems aktiv. Für mich haben sich die Grünen von einer 
pazifistischen
Friedens(bewegung)partei in eine Kriegstreiberpartei verwandelt, wie es 
ja auch einige andere hier
sehen. Was aber nicht heißt, daß ich alle Mitglieder für Kriegstreiber 
halte. Ebenso gibt es auch in
allen anderen Parteien Menschen, die aktiv für eine Friedenspolitik 
eintreten – selbst in CDU und
CSU, was ich früher nicht für möglich gehalten hätte -, und das ist für 
mich ein kleiner
Hoffnungsschimmer. Aber die Parteiapparate und der parlamentarische 
Mechanismus sind eben
leider so konstruiert, daß davon nicht viel in der letztendlichen 
offiziellen Politik ankommt.
Letztlich bestimmen Herrschafts- und Kapitalinteressen die Richtung der 
Politik.

Ich habe mir damals Gedanken darüber gemacht, wie man die repräsentative 
Demokratie
demokratischer machen kann – was also heißt, wie man mehr politische 
Aktivitäten in der
Bevölkerung erreichen kann. Obwohl ich weiß, daß es über die Art und 
Weise einer konkreten
Umsetzung noch viel zu diskutieren gibt, stelle ich mir vor, daß – neben 
der Etablierung von
Volksbegehren und Volksentscheidungen – eine Einbeziehung von 
Bürgerinitiativen und
Bürgerbewegungen eine positive Wirkung auf das jetzige politische System 
haben würde. Unter
anderem, weil es auch die Parteien dazu zwingen würde, ihre Energien weg 
von den Machtkämpfen
und hin zu sachbezogener Argumentation lenken würde, durch die 
Konkurrenz aus den Bürgerinitiativen.
Einige von Karins Vorschlägen bezüglich der Auslosung von politischen 
Mandaten sollten
unbedingt weiter diskutiert werden. Aber vor der Installation von 
„Expertengremien“ als politischen
Entscheidungsinstanzen warne ich. Politik ist keine Angelegenheit von 
Experten; und wer
bestimmt, wer Experte ist? Man denke nur an den heute allgegenwärtigen 
Lobbyismus. Experten
müssen Politik beraten, entscheiden müssen aber die Staatsbürger oder 
eben eine von ihnen
bestimmte Delegiertenversammlung. In diesen Versammlungen können 
natürlich auch Experten
vertreten sein, grundsätzlich aber muß ein Auswahlprinzip gefunden 
werden, mit dem garantiert
wird, daß alle von den Entscheidungen betroffenen Bürger in angemessener 
Weise vertreten sind.
In der hiesigen Debatte, wie in fast allen öffentlichen Debatten wird 
mit viel Aufregung über
Erscheinungen geschimpft, wie Trump-Wahl, Brexit, AfD und PEGIDA; aber 
selten wird
verstanden, daß all das Symptome und Folgen der bisherigen neoliberalen 
Politik sind und daß man
sich mit dieser kritisch befassen muß, wenn man wirklich schlimmere 
Entwicklungen verhindern
möchte und daß es nichts bringt, an den Symptomen herumzukritteln.
Ich wollte noch auf einige Punkte aus Karins Text eingehen und anderes 
aus der zurückliegenden Debatte, aber ich bin gegenwärtig gesundheitlich 
nicht gut drauf, deshalb breche ich hier erstmal ab.
Ich bedanke mich auch bei Joachim Winter für die Zusammenfassung, weil 
ich mitunter
Schwierigkeiten habe, herauszufinden, wie die Beiträge zusammenhängen.
Herzlichen Gruß Jochen

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