[Debatte-Grundeinkommen] Monothematische Partei vs Vollpartei

Arfst Wagner arfst_wagner at web.de
Mi Dez 21 11:49:05 CET 2016


Liebe Karin,

ich würde das mit dem "System2 differnezierter betrachten wollen.
Es geht in der Welt meist um Gleichgewicht. Und angesichts der Weltlage 
würde ich, auch im Hinblick auf Differenzierung der vberschiedenen 
Bereiche, durchaus von erhaltenswerten Bereichen des jetzigen Systems 
sprechen.

Mir ist klar, dass viele Teile unseres Sozialsystems dazu dienen, die 
soziale Zufriedenheit unter dem Siedepunkt zu halten.
Und mir ist auch klar, dass es Einrichtungen gibt, die äußerlich etwas 
Gutes tun, in Wahrheit aber zum Erhalt eines ungerechten Teils
des Systems beitragen. Zum Beispiel die Tafeln, die einerseits Menschen 
helfen, andererseits den Discountern ungeheure Summen
für die Entsorgung von abgelaufenen Lebensmitteln ersparen.

Dein Beispiel mit 1933 teile ich und genau das lässt mich täglich 
abwägen zwischen Erhaltenswertem und nicht Erhaltenswertem.

Das Ganze ist ja noch viel komplexer, als Du und ich das hier 
diskutieren. Da gibt es das grundsätzliche Problem der Institutionen: Wie
sagte einmal Horst-Eberhard Richter: "Institutionen neigen dazu, 
wichtiger zu werden als das, wozu sie da sind".
Das gilt für soziale Einrichtungen, Unternehmen, Parteien, ja sogar für 
die Familie. Wahrswcheinlich könnte man die Liste noch sehr erweitern.

Das alles weist aber letztlich auf jeden individuellen Menschen hin. Ich 
denke im Prinzip schon lange nicht mehr "in Institution", sondern in 
Mensch. Eine Einrichtung fängt vielleicht mit einer guten Idee an. Da 
wir aber vergessen haben, dass die Idee etwas ist, das gepflegt und 
weiterentwickelt werden möchte, werden wir häufig vom Institutionlellen 
aufgefressen. Da geht es dann um Sachzwänge, um Satzung, um Posten und 
Ämter. Und es verfestigen Machtstrukturen, die vielleicht heute sogar 
gut sind, aber schon morgen nicht mehr passen, aber dennoch fortbestehen.

Mir ist es völlig egal, ob jemand Deutscher, Afrikaner oder Irokese ist. 
Mir ist auch völlig egal, von diesem Gesichtspunkt, ob jemand in der SPD 
bei den Grünen oder beim VFB Stuttgart ist,. Ich bemühe mich, auf den 
Menschen zu schauen. Und auf mein eigenes Verhalten.
Und das bGE ist der Schritt, eine Basis für eine Selbstermächtigung 
jedes einzelnen Menschen zu schaffen. Auch ein Grund, dafür zu sein.

Jeden Tag erlebe ich Momente, wo ich sogar dankbar dafür bin, dass unser 
marodes System in Teilen noch funktioniert.
Wenn man ein System abschafft, dann muss man wissen, was man denn 
anstelle des Alten haben möchte. Und dann gibt es einen komplexen 
gesellschaftlichen Einigungsweg, den man Demokratie nennt. Recht haben 
allein nützt nur für das eigene Gewissen, vielleicht.

Die Dinge umzusetzen bei unterschiedlicher Interessenlage der Menschen, 
ist eine ganz andere Sache.

Um mal ein hartes Wort zu benutzen: ich gehöre ja noch zu denen, die das 
Glück hatten zu wissen, wer Alexander Soschenizyn war und ihn auch 
gelesen hat. Als er in Vermont lebte, sagte er einmal, er möchte heim. 
Heim in den GULAG. - Eine ungehuere Aussage. Verstehst Du ihn? Verstehst 
Du, weshalb ich das hier zitiere?

Ein Lieblingstext von mir zur sozialen Situation, der den Nagel auch 
heute noch, fast 40 Jahre später, in fast allen Punkten auf den Kopf 
trifft ist das Kapitel "Die Befreiung der Arbeit" aus dem Buch "Mensch 
und Erde - Über die kreative Zerstörung der Industriegesellschaft."
Es zeigt, dass man einen Zwischenweg finden muss zwischen dem 
vollständigen Aufgehen im System unter Verlust seiner 
geistig-politischen Identität und dem Sich-Zurückziehen in 
fundamentalistischer Handlungsunfähigkeit.

Der Eine ist sich seiner unschuldigen Ideentreue gewiss, vermag aber 
nicht, einzugreifen, der andere handelt, aber ohne Ziel und Sinn.
Und beide bemerken im Schlimmsten Fall ihr Problem nicht.

Hier der Link, der auch gute Argumente für ein bGE liefert:

: http://www.lohengrin-verlag.de/arfst/artikel/Roszak.htm

Der andere Text, der mich seit einiger Zeit bewegt, stammt aus dem Buch 
"In den Flüssen nördlich der Zukunft" von Ivan Illich. Hier besonders 
die Seiten 78 fff. Illich beschreibt die 1000-jährige Ausweitung der 
Übernahme sozialer Tätigkeiten durch Institution wie Kirche, Staat usw. 
und in der Folge den Verlust sozialer Fähigkeiten bei uns als 
individuelle Menschen. Und er beschreibt, ganz im Sinne von H. E. 
Richter die Aufblähung des Institutionellen. Ist erschütternd zu lesen. 
Kann ich nur empfehlen.

Zusammengefasst: ich gehe davon aus, dass z. B. eine neue Partei mit 
Vereinsverfassung oder sowas, Satzung, Vorstand und anderem mehr 
letztlch von dieser Seite her in genau dem gleichen Fahrwasser landen 
wird, wie die anderen Parteien. Und dass auch genau die gleichen 
Probleme auftauchen werden, wie bei den anderen.
Es fehlt zumindest ein historisches Beispiel, dass es auch anders geht. 
Und ich kann auch nicht erkennen, wodurch es anders werden sollte.
Überspitzt gesagt: Nur eine (einzige?) gute Idee zu haben und alle 
anderen zum Kotzen zu finden, das reicht nicht. DAFÜR gibt es nun jede 
Menge Beispiele und zwar bis in die jüngste Zeit.

Letztlich muss jeder Mensch ihren/seinen Weg finden. Und jemandem 
Vorwürfe zu machen, dass er so ist, wie er ist, ist vergeblich. Es 
bringt auch nichts zu sagen: Du stabilisierst das System. Ich könnte im 
Gegenzug schreiben: und Du nimmst es auseinander: bist Du bereit, für 
die gesellschaftlichen Folgen des Auseinandernehmens die Verantwortung 
zu übernehmen. Und bin ich bereit, diese für MEIN Handeln zu tragen?
Wie gesagt, ich bin da für Differenzierung, täglich. Derzeit ist die 
Welt so, dass wir kreative Künstler brauchen, die das Undenkbare denkbar 
machen. Uns mit Neuem konfrontieren. Mein alter Schauspiellehrer sagte: 
"Wir müssen DAS wollen, was es noch nicht gibt". Und wir brauchen die 
Polizei. Drastisch gesagt.

Es ist immer ein kritischer Punkt, die Zeit eines Wandels, eines 
Übergangs. Und ich gehöre zu denen, die auch denen gegenüber dankbar 
sind, die noch Reste eines alten systems aufrechterhalten, weil es den 
Kreativkräften Zeit gibt, das Neue vorzubereiten. Das Problem ist, wenn 
dazwiswchen ein Vakuum entsteht. Da bin ich dann wieder bei 1933 oder 
bei PEGIDA oder der Lage in Syrien und in Libyen und und und.

Die Frage ist, wie viele Menschen die "Gnadenfrist" vor einem 
gesellschaftlichen Zusammenbruch nutzen für Neues. Und da bin ich 
angesichts der letzten 20 Jahre der Privatisierung, womit ich jetzt mal 
das Zurückziehen sehr Vieler ins Privatleben meine, extrem skeptisch. 
Immer noch meijnen Viele, Politik geht sie nichts an. Dann gibt es die, 
die aus Höhlen kriechen, nur um zu Meckern. Auch wenn Meckern 
gelegentlich völlig berechtigt ist, ist es völlig unkreativ und schafft 
nichts Neues. Kann im besten Fall Bewusstsein wecken, gestaltet aber 
selbst nichts.
Und dann gibt es die, die versuchen, kreativ zu sein und aufpassen 
müssen, keinen "Frischen Wein in alte Schläuche" zu gießen. Und was ist 
das Parteiensystem? Was sind überhaupt unsere Institutionen?

Vielleicht kommt es ja ganz anders. Ich fürchte nur, die Dinge sind, wie 
gesagt, noch viel komplexer. Wobei ich gelernt habe: Die Feuerwehr soll 
sich nicht beklagen, wenns brennt. Sie soll löschen.

Für mich hört sich manchen in dieser Debatte, inzwischen längst nicht 
alles, so an, als ob man über die anderen schimpft, weil sie beim 
Ins-Wasser-Springen nass geworden sind oder sogar, weil das Wasser eine 
Brühe ist, schmutzig. Jetzt möchte ich gern erleben, wie man denn in die 
wässrige Brühe springen kann, ohne nass zu werden. Oder gar schmutzig. 
ich werde das mit empathischem Interesse verfolgen.

Viele Grüße an alle, die an dieser Debatte aktiv oder passiv 
teilgenommen haben
und frohe Weihnachten!
Ich gehe jetzt mal für einige Tage auf Sendepause.
Arfst



Am 21.12.2016 um 08:07 schrieb Karin Teetzen:
> Lieber Arfst,
>
> hier noch ein Nachschlag, langsam komme ich mir hier vor wie Kassandra ;-)
>
> Ich habe das "Glück"/"Pech" aufgrund meiner persönlichen Situation etwas
> außerhalb der Gesellschaft zu stehen und so quasi einen Blick von außen
> darauf werfen zu können. Dazu kommt, das ich genügend Zeit habe, viele Dinge
> zu durchdenken und zu analysieren. So wie du dich schon seit 20 Jahren mit
> dem Thema BGE beschäftigst, tue ich dies auch, aber nicht nur mit dem BGE
> sondern mit der gesamten Gesellschaft ausgehend vom Patriarchalen System.
>
> Du versuchst aus dem System heraus, von innen, eine Reform herbeizuführen.
> Dabei stabilisierst du aber unbeabsichtigterweise eher das System, als es
> von Grund auf zu Ändern. Ich mach dir das nicht zum Vorwurf oder glaube,
> dass dies eine schlechte Lebenseinstellung ist. Ich glaube aber eben nicht,
> dass du mit dieser Strategie Erfolg haben wirst.
>
> Wo wir gerade bei Weihnachten sind, genauso wenig glaube ich daran, dass
> z.B. mit Spenden etwas Gutes erreicht wird. Klar können die Leute Spenden
> und ihr Geld wird auch dann für gute Zwecke eingesetzt. Sie haben dann ein
> gutes Gewissen, das ist das Positive daran. Aber je mehr gespendet wird,
> desto mehr verweigert sich unser Staat den Bedürftigen selbst zu helfen.
>
> Wenn einer demokratischen Vollpartei, wie es die Grünen sind, die quasi für
> die Erhaltung des jetzigen System nur mit leichten Abänderungen ist, eine
> Stimme gegeben wird, so beziehen unsere Machteliten daraus die Legitimation
> einfach weitermachen zu dürfen, denn dann funktioniert unsere Demokratie ja
> noch.
>
> Ich glaube viel eher, dass diesem System die Grenzen aufgezeigt werden
> müssen. Wenn unsere Regierung keine offizielle Legitimation mehr hat, weil
> bei einer Wahl sich wirklich nur noch eine sehr kleine Minderheit für sie
> ausgesprochen hat, wenn viele kleine Splitterparteien ein paar Prozente
> abbekommen haben und an der 5% Hürde scheitern, wenn bei einer
> Bundestagswahl wirklich mal weniger als 50% zur Wahl gehen, dann wird
> vielleicht auch unserer Machtelite mal aufgehen, dass sie Zugeständnisse
> machen müssen um das Volk bei Laune zu halten.
>
> Dem Volk wird immer nur soviel zugestanden, dass es gerade mal nicht zu
> Aufständen kommt (hatte ich schon mal geschrieben).
>
> Je besser du deine Arbeit machst, je mehr Leute dich gut finden und deshalb
> deine Partei wählen, desto schlechter ist dies also eigentlich für unsere
> Demokratie.
>
> Und aus diesem Hintergrund heraus befürworte ich eben eine Monothematische
> BGE-Partei.
>
> Die Gefahr dabei ist natürlich, dass solche Partien wie die AFD dabei
> unbeabsichtigterweise an die Macht kommen könnten, erinnere dich an die Wahl
> von 1933 wo auch die NSDAP Demokratisch gewählt wurde.
>
> Nur, die Unzufriedenheit wächst und sie wird sich irgendwo ein Ventil
> suchen. Wenn dies die AFD ist, haben wir Pech gehabt, wenn dies ein
> BGE-Partei ist, könnten wir vielleicht Glück haben.
>
> Liebe Grüße
> Karin
>




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