[Debatte-Grundeinkommen] Jochen Tittel an Bernd Starkloff (und Interessenten): noch ein paar Abschweifungen über Gödel und Philosophie

Debattenliste des Netzwerks Grundeinkommen debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de
Mo Mär 9 09:00:14 CET 2015


Lieber Bernd,

wenn ich mich bezüglich der Begrenztheit der rationalistischen 
Weltanschauung auf Gödel beziehe und sage, daß sich Mathematik mit 
Philosophie berührt, dann will ich damit ausdrücken, daß die Gödelschen 
Ergebnisse meiner Meinung nach durchaus eine philosophische Relevanz 
haben. Ich habe auch nicht alle Einzelheiten von Gödels Beweisführung 
nachvollzogen (oder verstanden), habe nicht einmal die Originalarbeiten 
gelesen. Ich denke aber, daß ich die Kerngedanken verstanden habe. Vor 
allem über das Buch "Gödel, Escher, Bach ein Endloses Geflochtenes Band" 
von Douglas R. Hofstadter bin ich mit diesen Gedanken vertraut geworden 
(das wird auch auf der Wikipedia-Seite erwähnt), habe aber auch noch 
andere Arbeiten darüber gelesen. Hofstadter entwickelt den Gedanken am 
Beispiel der Entwicklung einer Programmiersprache recht anschaulich. Daß 
Physiker und Mathematiker in den meisten Fällen wissen, daß die Realität 
(oder die Wirklichkeit) nicht mit ihren Modellen identisch ist, das will 
ich nicht bestreiten; aber der Glaube, daß es vielleicht doch eine 
Weltformel geben könnte oder sogar müßte, ist doch auch noch bei machen 
Wissenschaftlern und in der Öffentlichkeit vorhanden (spielt sogar im 
Mainstream eine bestimmende Rolle). Die rationalistische Einseitigkeit 
zeigt sich aber noch an einer anderen Stelle; nämlich in der 
Überzeugung, daß nur meßbare, quantifizierbare Sachverhalte Wirklichkeit 
ausmachen, und daß nur rationale, beweisbare Aussagen - also 
formalisierbare - Wahrheit darstellen könnten. Und an dieser Stelle sagt 
uns Gödel, daß das nur die halbe Wahrheit sein kann. Das ist nach meinem 
Verständnis eine philosophische Aussage.

An eine Anwendung des Gödelschen Satzes auf ein philosophisches System 
hatte ich bei meiner Bemerkung überhaupt nicht gedacht, wenn wir es aber 
auf diese Weise betrachten wollten, so würde ich meinen, daß Hegels 
Philosophie zumindest von der Tendenz her dafür in Frage käme. Ich finde 
aber schon Deine Forderung eines Philosophischen Systems mit sauber 
definierten Axiomen und ebensolchem Begriffssystem als einseitig 
rationalistisch. Zwar schließt Philosophie solche Formen nicht aus, aber 
sie erschöpft sich auch nicht darin. Trotz verschiedener 
Gemeinsamkeiten, die ich auch immer wieder betonen möchte, habe ich den 
Eindruck, daß hier ein Punkt berührt wird, an dem wir irgendwie 
aneinander vorbeireden.

Insbesondere in der Ökonomie hat das rationalistische Paradigma 
verheerende Folgen, weil Modelle, die mit der wirklichen 
wirtschaftlichen Tätigkeit kaum noch Berührung haben, dann doch zu 
Leitlinien für ökonomische Entscheidungen führen, deren Risiken und 
Nebenwirkungen Menschenleben kosten. (Ich denke da etwa an die Millionen 
Hungertoten jährlich, obwohl Nahrungsmittel in ausreichendem Maße 
vorhanden sind; es nur nicht profitabel ist, sie so zu verteilen, daß 
niemand verhungern muß.)

Zu deinem PS.: Habe ich etwas wesentliches übersehn? (Es gab 
Kommunikationsstockungen mit Matthias Bloecher, die sind aber jetzt 
überwunden.)

Herzlichen Gruß (auch an eventuell Mitlesende)

Jochen

-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listi.jpberlin.de/pipermail/debatte-grundeinkommen/attachments/20150309/30a925a5/attachment.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen