[Debatte-Grundeinkommen] Jochen Tittel: Antwort an Nina Yagami

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Fr Jun 12 11:31:42 CEST 2015


Liebe Nina,

aus den wenigen Worten kann ich sicher nicht behaupten, zu wissen, was 
Du falsch machst oder nicht verstanden hast. Was ich schreibe, hat also 
(auf Dich bezogen) nur den Charakter einer Vermutung.

Ich selbst bin als Atheist aufgewachsen und stand religiösen Ritualen 
immer sehr skeptisch gegenüber. Inzwischen kann ich das mögliche 
positive Potential solcher Handlungen erkennen; dennoch bleibt auch 
meine Skepsis. Du beschreibst - wahrscheinlich für einen großen Teil 
solcher Handlungen zutreffend - wie sie aus einer Angst vor (göttlicher) 
Strafe begangen werden. Wenn ich etwas tue, weil ich glaube, daß eine 
Macht, die mich beherrscht, es so von mir erwartet und mich anderenfalls 
bestraft, dann ist das keine Handlung aus eigener Überzeugung der 
Richtigkeit, sondern eine Handlung der Unterwerfung. Ich zeige mich als 
Untertan und wälze meine Verantwortung auf meinen Herren und Beherrscher 
ab. Die Verwechslung dieser Unterwerfung mit religiöser (aber auch jeder 
anderen) Überzeugung (bzw. Glauben) ist die Folge der Pervertierung und 
Instrumentalisierung der Religion durch weltliche Herrschaft. Im 
Christentum ist das spätestens seit der Zeit üblich, als dieses im 
Römischen Reich zur Staatsreligion wurde. Dennoch gibt es auch innerhalb 
der großen Kirchen noch echte Religiosität, denke ich heute; und 
vielleicht kann man darin ein Wunder erkennen.

So viel zu unserer Christlichkeit oder allgemeiner, zu unserer Religiosität.

Wenn Du oder ich für das bedingungslose Grundeinkommen kämpfe (oder 
wirke), und das nur oder hauptsächlich in dem Glauben tue, ich täte das 
für Andere, dann kann es leicht dazu kommen, daß ich daran - und an der 
Undankbarkeit dieser Anderen - verzweifle. Ich tue alles was ich tue 
nicht in erster Linie für andere, sondern für mich; für mich als Mensch 
unter Menschen. Das heißt, ich unterscheide mich nicht von den andern 
Menschen. Wenn ich sie für undankbar halte, muß ich es auch sein, wenn 
ich sie für böse oder dumm halte, muß ich es auch sein. Entweder ich 
glaube also an das Schlechte im Menschen, dann wäre es wohl das beste, 
damit Schluß zu machen - zuerst mit mir selbst. Oder ich finde das Gute 
in mir und genauso in den anderen Menschen, dann kann ich gar nicht 
anders handeln, als für die Ermöglichung dieses Guten in unserer Welt zu 
wirken; unabhängig davon, ob ich "Erfolg" damit habe oder nicht und 
unabhängig davon, ob es jemanden gibt, der mich dafür in diesem Leben 
oder bei anderer Gelegenheit belohnt oder bestraft. Dieses Wirken ist 
selbst das Eigentliche und Wirkliche. Es braucht keinen Lohn. Sich für 
diese Art Unabhängigkeit, Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit 
zu entscheiden, ist ein Akt der Freiheit, denn ich könnte mich auch 
irgendeiner der "herrschenden Mächte" unterwerfen und mir das Leben 
damit scheinbar einfacher machen. Genau genommen können wir aber unsere 
Verantwortung nicht abgeben, denn mindestens für diese Abgabe müßten wir 
uns selbst entscheiden und wären also dafür verantwortlich. Ich glaube 
Sartre hat diesen Umstand als Zwang zur Freiheit charakterisiert. Obwohl 
er logisch damit recht hat, will ich ihm da aber nicht folgen.

Trotz all der vielleicht klugen Ratschläge kenne ich aber auch das 
Gefühl der Vergeblichkeit meiner Bemühungen mit der "Weltverbesserung". 
Warum will mich keiner verstehen, wenn ich - zum Beispiel - vom 
Grundeinkommen rede? Offensichtlich habe ich noch nicht den richtigen 
Ansatzpunkt gefunden. Da ich aber überzeugt bin, daß ich mich nicht 
grundsätzlich von anderen Menschen unterscheide, kann es nur an 
Äußerlichkeiten oder Besonderheiten liegen, wenn ich den richtigen 
Kontakt nicht finde. Um Zugang zu anderen Menschen zu bekommen, um ihr 
Vertrauen zu erhalten, muß ich ihnen zuerst deutlich machen, daß ich sie 
wirklich als ebenbürtig betrachte. Gleichheit ist dagegen eine 
zwiespältige Bezeichnung, denn die Menschen sind sowohl gleich als auch 
ungleich; aber Ebenbürtigkeit ist ohne Zweifel.

Herzlichen Gruß

Jochen

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