[Debatte-Grundeinkommen] Jochen Tittel: Kommentar zur Staatsbürgersteuer an Bernd Starkloff

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Mi Jan 21 12:12:40 CET 2015


Lieber Bernd,

ich habe den Austausch zwischen Dir und Bert als stiller Mitleser 
verfolgt und mich auch schon ein wenig in die Texte auf der 
Staatsbürgersteuer-Website eingelesen. Obwohl ich für ein BGE nach den 
Kriterien des Netzwerks eintrete, finde ich doch die Debatte über die 
Staatsbürgersteuer hier sehr nützlich, denn es könnte ja nichts neues 
zustande kommen, wenn wir hier nur gleichartige Standpunkte 
konstatieren. Ebenso finde ich Deine Haltung richtig, daß eine 
Konsenslösung besser ist, als ein Kompromiß. Aber wo sich kein Konsens 
einstellen will, ist halt ein Kompromiß die Notlösung; was leider zu oft 
geschieht.

Obwohl ich in meiner Grundhaltung näher bei Bert stehe, als bei Dir, 
verstehe ich Deinen Vorwurf der ideologischen Reaktion. Ich denke aber, 
daß, wenn wir nüchtern auf unsere Überzeugungen und Debatten blicken, 
wir feststellen müssen, daß es keine ganz ideologiefreien Fakten gibt 
und daß alle unsere Urteile immer auch Vorurteile sind. Die Auflösung 
der Vorurteile und des Ideologischen kann nur in einem ständigen Prozeß 
der Weiterentwicklung und des Austausches stattfinden. So sehe ich also 
auch Deine Überzeugungen vom Kapitalismus als Ideologie oder als 
Vorurteil an. Und natürlich schließe ich meine eigenen Überzeugungen 
nicht davon aus.


Daß Du kein Interesse an einer Kategorialanalyse des Wertbegriffs hast, 
ist in dem Argumentationszusammenhang des Steuermodells verständlich 
(bzw. akzeptabel). Wenn man von der Existenz einer Geldwirtschaft 
ausgehend ein Steuermodell entwickeln will, ist das entbehrlich. Wenn 
man sich aber mit den systemimmanenten Schwierigkeiten 
geldwirtschaftlicher Organisation unserer materiellen Existenz befaßt, 
kommt man an einer Begriffsbestimmung nicht vorbei. Und dann wird 
schnell klar - wenn man sich in die dazu existierende Literatur vertieft 
- daß man Marx nicht ignorieren kann. Das muß nicht unbedingt bedeuten, 
daß man Marxist werden müßte. Insbesondere heißt das nicht, daß 
Marxismus in dem Sinne, wie er im sogenannten "real existierenden 
Sozialismus" praktiziert wurde, eine notwendige und zwangsläufige Folge 
der Marxschen Arbeiten sein muß. Dieses Thema will ich aber hier und 
jetzt nicht vertiefen.


Kapitalismus und Wohlstand

Du behauptest, wie auch viele Liberale oder Neoliberale, daß der 
Kapitalismus im großen Ganzen gesehen der Menschheit Wohlstand gebracht 
hätte. Ich halte das für eine (eben liberale) Ideologie, die nicht den 
Tatsachen entspricht. Es ist natürlich problematisch, die existierenden 
Alternativen ohne weiteres als Maßstab der Beurteilung zu nehmen, weil 
es allesamt nur Varianten von Herrschaftsverhältnissen sind. Aber auch 
davon abgesehen ist diese Behauptung für mich zweifelhaft. In den 
statistischen Darstellungen, die diese Behauptung untermauern sollen, 
wird oft die Entwicklung des Geldeinkommens als Wohlstandndsindikator 
genommen. Es wird argumentiert, daß Menschen, die vor der 
kapitalistischen Organisation ihres Lebens kein Geldeinkommen hatten und 
nun täglich einen Dollar durchschnittlich verdienen, einen Zuwachs an 
Wohlstand genießen würden. Dabei wird ignoriert, daß diese Menschen 
vorher auf dem Land, welches sie traditionell bewohnt und bewirtschaftet 
haben, in Subsistenzwirtschaft alles für ihre Existenz notwendige selbst 
erzeugt haben. Die kapitalistische Kolonialisierung (auch wenn sie nicht 
mehr so genannt wird) vertreibt sie von ihrem angestammten Land. Das ist 
aber natürlich keine Enteignung, denn sie hatten ja keine 
Grundbuchurkunde, die sie als Eigentümer ausweist. Also kann eine 
korrupte "Regierung" des jeweiligen Landes die Flächen zum eigenen 
Vorteil an ausländische Unternehmen verkaufen oder verpachten. Und ein 
Teil der vertriebenen Bevölkerung darf dann, wenn sie "Glück" haben, für 
einen Dollar pro Tag auf den Plantagen schuften. Und das erscheint in 
den Statistiken im Westen als Wohlstandsgewinn. Sicher gibt es auch 
glücklichere Entwicklungen, aber nach meinem Eindruck ist das 
beschriebene Muster sehr verbreitet und dominant. Auch zu allen anderen 
Beispielen von behauptetem Wohlstandszuwachs kann man jeweils 
Gegenbeispiele finden, die solche Verallgemeinerungen widerlegen. 
Deshalb bin ich der Meinung, daß Marxens Verelendungsprognose durchaus 
nicht falsifiziert ist.

Daß der kapitalistische Westen in der Zeit der Systemkonkurrenz mit dem 
"sozialistischen Lager" sich erfolgreich als der leistungsfähigere 
gezeigt hat und daß er in der Lage war, um diesen Nachweis zu liefern, 
den Wohlstand der Massen in den Zentren der Industrialisierung so hoch 
zu schrauben, daß es die Menschen im "Sozialismus" und auch sonst 
überall auf der Welt anlockte, steht natürlich auch nicht in Frage. Aber 
das war ein Opfer im Konkurrenzkampf, und seit diese Konkurrenz nicht 
mehr besteht werden auch diese Zugeständnisse systematisch wieder 
zurückgenommen. Welchen anderen Grund gäbe es sonst bei angeblich 
ständig wachsender Produktivität für das Aufgehen der Reichtumsschere 
seitdem?

Wir sind uns wahrscheinlich darin einig, lieber Bernd, daß wir bis jetzt 
über keine praktikable Methode verfügen, wie wir die Wirtschaft weltweit 
ohne Geld organisieren könnten und deshalb zunächst eine politisch 
gesteuerte Marktwirtschaft ohne Alternative ist. Für mich ist das eine 
Einsicht, die den Charakter eines Kompromisses hat, zu dem ich früher 
nicht bereit gewesen bin. Aber solange wir die bessere Lösung noch nicht 
haben, muß es wohl sein. Zu dieser Übergangslösung gehört für mich 
zwingend eine Reform des Geldsystems im Sinne Silvio Gesells, die in der 
Lage ist, die verheerenden Wirkungen des Zinses zu neutralisieren, ohne 
die anderen Mechanismen des Marktes zu beeinträchtigen. Und auch das 
bedingungslose Grundeinkommen ist ein Mittel, das neben anderen 
positiven Auswirkungen erst einen wirklichen Arbeitsmarkt möglich macht. 
Nämlich, indem es die zwanglose Übereinkunft zwischen sogenanntem 
"Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer" ermöglicht. Deshalb ist es für mich 
auch selbstverständlich, daß ein Grundeinkommen letztlich weltweit zur 
Verfügung gestellt werden muß, wenn wir nicht nur in den westlichen 
Industriezentren ein privilegiertes Leben führen wollen. Für mich stehen 
die Menschen in diesen Zentren in einer Schuld als Profiteure des alten 
und neuen Kolonialismus gegenüber dem Rest der Welt. Die notwendige 
Wiedergutmachung muß aber natürlich vor allem von denen geleistet 
werden, die auch am meisten profitiert haben. Sicher wird es nicht 
ausreichen, Geld aus den Reichtumszentren in die armen Regionen der Welt 
zu transferieren, weil auch die politischen Verhältnisse oft völlig 
zerrüttet worden sind und eine funktionierende demokratische 
Selbstverwaltung nicht einfach installiert werden kann. Aber in dieser 
Richtung liegt schließlich auch die Lösung der weltweiten 
Migrationsprobleme, die uns gegenwärtig so viel Kopfzerbrechen machen.


Leistung und Einkommen

Neben allem, was Bert Grashoff zur Beziehung zwischen Leistung und 
Einkommen geschrieben hat und was ich ebenso sehe, will ich noch einen 
anderen Aspekt betonen. Zunächst fällt eine Einkommensform aus der 
Beziehung zu irgendeiner Leistung heraus, das sind alle Einkommen aus 
Geldzins, Wertpapiergewinnen und Spekulationen. Alle diese Einkommen 
stehen in keinerlei Beziehung zu irgendeiner Arbeitsleistung, die man 
als Wertschöpfung definieren könnte. Aber auch der Anteil aller 
Einkommen aus Arbeit im weitesten Sinne läßt sich nicht auf eine 
definierbare Leistung zurückführen. Wir brauchen nur mal die Leistung 
und das Einkommen eines Hedgefonds-Managers und einer Krankenschwester 
vergleichen. Von der physischen Arbeitsleistung mögen beide vielleicht 
gleichermaßen stark belastet sein. Aber wodurch ist der enorme 
Einkommensunterschied dann begründet?

Ich bin überzeugt, daß der Rang und die Einordnung in die 
Herrschaftsstruktur über die Höhe des Einkommens entscheidet, nichts 
anderes. Natürlich gibt es auch darin Ausnahmen, aber die sind im großen 
Ganzen bedeutungslos. Ein Bankdirektor muß nicht die besseren und 
umfassenderen Kenntnisse in Bankwesen und Ökonomie haben, im Vergleich 
mit einem Bankangestellten; er muß die richtigen Leute kennen und die 
richtigen Beziehungen pflegen. Das entscheidet darüber, wie viel er für 
sich vom großen Kuchen abschneiden darf. Und das trifft auf alle 
Bereiche der Gesellschaft zu. Du, lieber Bernd, beklagst ja auch die 
Ausbreitung von Korruption, aber die Grenzen zwischen Kriminalität und 
Normalität sind da leider völlig fließend.

In Deiner Mail vom 24.12. schreibst Du am Ende: " ... z.B. das 
international vergleichsweise mittelmäßige Bildungswesen, das 
ineffiziente Gesundheitswesen oder die Korruption in Politik und 
Wirtschaft. Interessant, dass dies Bereiche sind, die nicht 
marktwirtschaftlich organisiert sind."

Das insbesondere die Wirtschaft ein Bereich sei, der nicht 
marktwirtschaftlich organisiert sei, ist sicher ein Ausrutscher, oder 
hast Du das wirklich ernst gemeint?

Ansonsten steht aber hier die Frage zu klären, wie Du, oder wie wir 
Effizienz definieren wollen. In meinen Augen und nach meinem Verständnis 
ist gerade der Versuch, das Bildungswesen und das Gesundheitswesen nach 
marktwirtschaftlichen Regeln zu organisieren für die Misere 
verantwortlich, die wir jetzt erleben.


Konsum und Sparen

Im Rahmen des Staatsbürgersteuer-Modells scheint es mir möglich, Konsum 
und Sparen als gleichwertig zu behandeln (obwohl ich das jetzt noch 
nicht endgültig beurteilen kann). Darüberhinaus ist aber diese 
Gleichsetzung ein Unding. Insbesondere halte ich es nicht für den 
Ausdruck von Sparsamkeit, wenn Besitzer großer Vermögen ihr Geld nicht 
durch Konsum verbrauchen, sondern gewinnbringend investieren. Ob der 
persönliche Gewinn da angemessen mit einem allgemeinen 
gesellschaftlichen Gewinn korrespondiert, ist leider überhaupt nicht 
ausgemacht. Sehr oft trifft eben gerade das Gegenteil zu.


Bei allen Unterschieden in unseren Anschauungen möchte ich betonen, daß 
ich die Staatsbürgersteuer als einen Versuch betrachte, etwas mehr 
Gerechtigkeit in unsere Gesellschaft zu bringen. Aus meiner Sicht 
allerdings ist er zu halbherzig. Ich werde mich aber noch weiter damit 
befassen, wenn ich die Zeit dazu finde.

Mit einem herzlichen Gruß auch an alle Mitleser.

Jochen

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