[Debatte-Grundeinkommen] an Bert Grashoff und die Liste

Jochen Tittel jochentittel at web.de
Sa Sep 13 12:47:03 CEST 2014


Lieber Bert,
ich versuche auch ganz knapp auf die von Dir angesprochenen Themen zu 
antworten, denn es ist das eingetreten, was ich mir eigentlich wünsche: 
ich habe mehrere Reaktionen auf meinen Diskussionsbeitrag erhalten und 
wenn ich nun allen ausführlich antworten will, bleibt viel anderes 
liegen, was auch erledigt sein will. Manchmal fällt es mir schwer, die 
richtige Entscheidung zu treffen.
Also, etwa der Reihe nach:     zum christlichen Kulturkontext
Ich sehe das etwa so, daß schon der Ursprung der christlichen Religion, 
die jüdische Religion ganz in dem Spannungsfeld zwischen Anarchie (also 
Nicht-Herrschaft) und Herrschaftsparadigma steht. Mit Jesus wäre die 
Entscheidung für Herrschaftsfreiheit gefallen, wenn das denn von seinen 
Anhängern verstanden worden wäre; ist es aber im großen Ganzen nicht. 
Spätestens in dem Augenblick, als das Christentum in Rom Staatsreligion 
wurde, hat die Herrschaftsideologie gesiegt und die katholische Kirche 
ist durch und durch ein Herrschaftsapparat. Dennoch gibt es auch 
innerhalb dieser Kirche noch echtes Christentum. Eigentlich ist das ein 
Wunder.
Für alle anderen christlichen Kirchen trifft das im wesentlichen auch zu.
Die Paulus-Aussage von Essen und Arbeiten wird, so glaube ich, fast 
immer mißverstanden. Soweit ich weiß, hat Paulus das in dem Zusammenhang 
geäußert, daß einige Mitglieder der Gemeinde argumentierten, daß ohnehin 
in kürze das jüngste Gericht eintreten werde, weshalb es sich nicht mehr 
lohne, zu arbeiten. Darauf hat Paulus geantwortet.
Ich finde es durchaus wichtig, sich mit dem Christentum und seiner 
Widersprüchlichkeit gründlich auseinanderzusetzen, ich denke da gerade 
an Albert Schweizer, dessen Kulturphilosophie auch heute noch zu 
empfehlen ist.
zur Steinzeit:
Ich denke, ich hatte Deine Bemerkung schon richtig als Polemik 
verstanden. Aber es ist eben ein sehr verbreitetes Vorurteil, wie man 
sich heute die Steinzeit vorstellt und das ist nicht zufällig so. In der 
DDR gehörte es zum offiziellen und in den Schulen kolportierten 
Geschichtsverständnis, daß die ganze menschliche Geschichte eine  
(gesetzmäßige) Aufwärtsentwicklung ist, die schließlich im Kommunismus 
mündet. Dabei wurde immer unterstellt, daß es im Laufe der Zeit immer 
besser wird. Zwangsläufig mußte es im Rückwärtsblick für die Menschen 
immer schlimmer gewesen sein, je weiter man zurückschaut. Wahrscheinlich 
gab es ähnliches auch in der BRD.
Ich habe mich schon als Kind für Urgeschichte interessiert, während 
alles spätere im Schulunterricht langweilig wurde; dann gab es 
Jahreszahlen zu lernen und Ideologie wurde wichtig. Irgendwann, viel 
später, ging mir ein Licht auf und ich hatte so eine Vision, wie 
paradiesisch das Leben des Homo Erektus in der Nähe von Weimar gewesen 
sein mußte, ohne Vorgesetzte, ohne Schule, ohne Steuererklärungen ohne ...
Klar, daß das eine Träumerei ist; natürlich hätte ich da gern meine 
Bücher dabei gehabt und überhaupt das ganze Wissen, was wir inzwischen 
angesammelt haben. Dennoch hat das für mich auch viel verlockendes. Wenn 
all die Überflüssigkeiten gar nicht existieren, nichteinmal in der 
Vorstellung; wieviel Raum entsteht dann im Geiste für die wirklich 
wichtigen dinge des Lebens?
Mit Adorno bist Du vielleicht besser vertraut als ich, ich habe von ihm 
noch nicht sehr viel gelesen. mein Eindruck dabei (einer unter andern) 
ist, daß es es versteht, etwas sehr gut klingend, aber auch etwas 
unbestimmt, zu formulieren, so daß die Frage offen bleibt: Wie hat er 
das jetzt gemeint?
Mit "nicht ganz öffentlich" habe ich darauf abgestellt, daß sich in 
dieser Liste nur Grundeinkommensbefürworter tummeln, die sich 
gegenseitig freundlich gesinnt sind und nicht versuchen, einem jedes 
Wort im Munde umzudrehen.
zu Marx:
Ein sehr spannendes und sehr komplexes Thema, glaube ich. In den letzten 
20 Jahren sind einige gewichtige Bücher erschienen, die versuchen, Marx 
richtig zu verstehen, nachdem er fast 150 Jahre von allen Seiten eher 
mißverstanden wurde (so mein jetziger Eindruck). In seinen Frühschriften 
hat er eine andere Vorstellung von Geschichte, als in den späten. Damit 
Du weißt, wovon ich rede, gebe ich hier einige Autoren und Titel an, die 
ich dazu in letzter Zeit gelesen habe: Robert Kurz: Geld ohne Wert; 
Moishe Postone: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft; Nadja 
Rakowitz: Einfache Warenproduktion: und natürlich auch Karl-Heinz 
Brodbeck: Die Herrschaft des Geldes.
Weil ich es jetzt kurz machen wollte, schreibe ich erstmal nichts weiter 
dazu, aber das ist ein Thema, daß mich schon interessiert.
Mit herzlichem Gruß
Jochen



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