[Debatte-Grundeinkommen] ehemals mail über: Grundeinkommen als (Teil)Lösung für die Ukraine?

Jochen Tittel jochentittel at web.de
Sa Apr 5 11:42:01 CEST 2014


Zunächst einen herzlichen Gruß an alle, die sich an dieser Debatte über 
die Ukraine und Grundeinkommen als Teil der Lösung beteiligen.

Ich verfolge diese Diskussion von Anfang an (?) und es macht mich 
traurig, zu sehen, daß häufig statt sich über Inhalte 
auseinanderzusetzen, Vorwürfe verteilt werden, daß man dies oder das 
nicht denken oder sagen dürfte.

Zunächst will ich meine Meinung zu den Ereignissen in der Ukraine 
mitteilen. Der Gedanke oder die Frage, ob für die Ukrainer ein BGE ein 
Ziel ihrer "Revolution" sein könnte oder sollte ist sicher für jeden 
Grundeinkommensbefürworter klar mit "Ja" zu beantworten. Allerdings 
spielt unsere Ansicht diesbezüglich in der Ukraine keine Rolle. Was in 
der Ukraine gegenwärtig entschieden werden soll, ist nicht in erster 
Linie etwas, was das ukrainische Volk will oder nicht will, sondern ob 
die Ukraine mehr vom russischen oder mehr vom Nato-Machtblock abhängig 
sein wird. Natürlich wäre es schön, und ich wünsche mir dies, wenn 
tatsächlich die Interessen der ukrainischen Bevölkerung den Ausschlag 
geben bei der Entscheidung über die künftige Entwicklung der Ukraine, 
aber große Hoffnungen habe ich da nicht. Auch solche positiven 
Überraschungen, wie 1989 in der DDR oder im "arabischen Frühling" sind, 
wenn man sie aus der geringen historischen Distanz von heute betrachtet, 
nicht wirklich gut gelaufen.

Zum Thema Zinskritik und dem immer wieder damit verbundenen Vorwurf 
politisch rechts zu sein.

Ich bin in der DDR aufgewachsen und habe den offiziellen "Marxismus" 
erleben müssen, was bei mir zu der Reaktion geführt hat, daß ich, um 
gegen diesen Missbrauch der Marxschen Gedanken vorgehen zu können, mich 
intensiv mit den Marxschen Schriften befaßt habe und noch befasse.
Als ich dann kurz nach der "Wende" einen Vortrag von Helmut Creutz über 
die Geldreformideen von Silvio Gesell gehört habe, war ich zwar 
verblüfft, wie jemand so viel unsinniges Zeug über Marx reden kann, aber 
dennoch hielt ich die Ideen Gesells für Wert, genauer betrachtet zu 
werden. Abgesehen von den Äußerungen, die auch Gesell über Marx gemacht 
hat (und die man nur mit Kenntnis der historischen Zusammenhänge 
erklären kann) hatte ich schon damals den Eindruck, daß sich Marx´ 
Ökonomiekritik und Gesells Geldreform durchaus miteinander vertragen. 
Seit damals arbeite ich daran, das genauer zu begründen und ich hoffe, 
daß ich das nun bald in eine vorzeigbare Form bringen kann.
Nach den üblichen Klischees bin ich also sowohl rechts als auch links. 
Und in der Tat bin ich schon von"Rechten" als Linker verdächtigt oder 
beschimpft worden, wie auch von "Linken" als Rechter.
Ich selber halte mich eher für einen Linken, allerdings halte ich nichts 
von pauschalen Etikettierungen und müßte erklären, was ich damit meine 
(was aber hier jetzt zu weit führt).
Was bedeutet es also, wenn ich in einer Debatte jemanden sagen höre: "Du 
bist ein Linker" oder "Du bist ein Rechter"? Darf ich dann, wenn ich 
mich zum jeweils anderen Lager zähle, nicht mehr mit dem reden? Wohin 
würde das führen? Letzten Endes, wenn man nicht miteinander redet, 
bleibt nur noch, sich gegenseitig totzuschlagen. Also werde ich, solange 
jemand noch irgendwie zugänglich für Argumente ist, mit ihm/ihr 
sprechen. Und wenn ein Gespräch nicht nur dazu dienen soll, sich 
gegenseitig Standpunkte vorzuhalten (das ist eigentlich gar kein 
Gespräch), muß ich mir natürlich auch die Gegenargumente anhören und sie 
ernst nehmen. Der Versuch, jemanden durch Etikettierung mit einem 
abwertenden Etikett zu diskreditieren, ist in meinen Augen eine 
Handlungsweise, die nur zu rechter Ideologie passt; deshalb handelt, wer 
so etwas tut, für mich "rechts", egal, ob er/sie sich selber politisch 
rechts oder links sehen.

Die Wissensmanufaktur (und Andreas Popp) würde ich als bürgerlich 
bezeichnen; das heißt, für alle, die sich links von einem bürgerlichen 
Standpunkt definieren, sind sie rechts. Aber was heißt das schon? 
Darüberhinaus halte ich Andreas Popp für einen lernfähigen Mann (und das 
kann man heutzutage schon als eine Auszeichnung bewerten); manches, was 
er heute sagt, hätte er vor zehn Jahren so wohl nicht gesagt; er ist 
"linker" geworden (so meine Einschätzung). Ich kann also nur empfehlen, 
sich mit den Inhalten der Veröffentlichungen der Wissensmanufaktur zu 
befassen (auch wenn ich nicht immer damit einverstanden bin); so oder so 
kann man dabei etwas lernen.

Noch ein Nachschlag zum Thema Zinskritik.
Das Finanzsystem ist das zentrale Instrument der kapitalistischen 
Herrschaftsverhältnisse, folglich wäre es eigentlich nur logisch, wenn 
man Zinskritik (d.h. Geldkritik) als linkes Projekt denken würde. Die 
absurde Verknüpfung der Zinskritik mit rechter Ideologie, die aus einer 
platten Pauschalisierung aus geschichtlichen Ereignissen 
(nationalsozialistische Zinskritik) resultiert, verhindert wirkliche 
Veränderungen am gegenwärtigen Weltfinanzsystem. Bei etwas genauerer 
Betrachtung der jüngeren Geschichte kann man übrigens feststellen, daß 
die nationalsozialistische Zinskritik (wie sie ursprünglich von 
Gottfried Feder gedacht wurde) in der realen Politik des NS keine Rolle 
mehr gespielt hat (außer als antisemitische Propaganda). Und wenn man 
heute behauptet, daß Zinskritik notwendig mit Antisemitismus verknüpft 
sei, unterstellt man genau den Zusammenhang, den man nicht haben möchte, 
nämlich den zwischen Juden und Zinsnehmen. Auch hierzu kann man sich nur 
Klarheit verschaffen, wenn man sich mit der Geschichte etwas gründlicher 
befaßt (empfehlen kann ich dazu "Elemente und Ursprünge totaler 
Herrschaft" von Hannah Arendt, neben anderen Schriften).

Herzliche Grüße aus Niederbobritzsch

Jochen Tittel

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