[Debatte-Grundeinkommen] (kein Betreff)

Werner Popken Werner at Stuerenburg.com
Di Sep 27 23:03:22 CEST 2011


Hallo Herr Kallweit!

Ihr Text und Ihre Überlegungen sind sehr interessant; eine Bemerkung
vorweg: Die Erhöhung des Renteneintrittsalters führt ja nicht dazu,
dass die Menschen länger arbeiten - die meisten sind schon vorher in
den Ruhestand gegangen oder gegangen worden -, sondern entspricht
einer stillschweigenden Rentenkürzung, weil die Berechnungsgrundlage
geändert wird. Merkt aber keiner, oder? Das ist die Logik, nicht die
von Ihnen genannte. Es muss gespart werden, auf Kosten der kleinen
Leute.

Endlich mal jemand, der Zahlen nennt und hinterfragt. Die zweite
Beobachtung: Auch Sie setzen bei der Umsatzsteuer an. Warum
stehenbleiben und den Rest so lassen, wie er ist? Die
Steuergesetzgebung in Deutschland ist bekanntlich völlig verfahren.
Nicht einmal die Steuerberater dürften ihre Freude damit haben.

Interessanterweise verwenden Sie ebenfalls den Begriff Bandbreite,
hier für den Anteil der Arbeitskosten. Die Realität bei den
Zeitarbeitsfirmen sieht vermutlich leider etwas düsterer aus als Sie
das schildern. Ich persönlich habe keine Erfahrungen damit, weiß aber
von anderen, dass die Zeitarbeitsfirmen sich überhaupt nicht dafür
interessierten, was die zu vermittelnde Person kann und was der
Arbeitgeber braucht.

Auch für die Firmen ist das Phänomen vermutlich nicht so positiv, wie
Sie das darstellen. Wieder fehlt mir die persönliche Erfahrung, aber
ich weiß von jemandem aus einer der führenden deutschen
Großunternehmen, dessen Abteilung seit Jahren zu einem Großteil von
Fremdfirmen gestellt wird, dass dieser das Phänomen aus den
verschiedensten Blickrichtungen ausschließlich negativ beurteilt und
eindeutig auf Managementmoden und irregeleitete Prämiensysteme
zurückführt, nach denen die Manager belohnt werden, wenn sie Personal
entlassen, obwohl die anschließende Ersetzung durch Zeitarbeitsfirmen
wesentlich teurer und zugleich unproduktiver ist.

Ihre Forderung, das Grundeinkommen müsse so niedrig sein, dass es
einen Anreiz darstellt, sich um Arbeit zu bemühen, setzt voraus, dass
es diese Arbeit gibt. Es unterstellt wieder einmal, dass diejenigen,
die keine Arbeit finden, einfach nicht genug Anreiz haben, da es die
entsprechenden Arbeitsplätze ja angeblich gibt. Wenn sie nur wollten,
würden sie schon was finden. Das geht aber leider an der Realität
vorbei. Die Wahrheit ist: Diese Arbeitsplätze gibt es gar nicht. Immer
wenn der Spiegel lanciert, dass Deutschland untergeht, weil es nicht
genug Ingenieure gibt, tobt der Bär im Forum, wo sich jede Menge
Ingenieure melden, die nicht nur qualifiziert sind, sondern sogar über
Berufserfahrung verfügen, aber keine Stelle bekommen. In diesem
Zusammenhang von Anreiz zu reden muss dann also extrem zynisch wirken.

Das Grundeinkommen mit der geleisteten Arbeitszeit zu verknüpfen kann
alle diejenigen nicht befriedigen, die aus welchen Gründen auch immer
einfach im Berufsleben nicht haben Fuß fassen können. Ich persönlich
kenne eine ganze Menge Leute, denen es so geht. Die sind nach Ihrem
System, wenn ich das richtig verstanden habe, arm dran. Diese Leute
haben übrigens ihr Schicksal alle nicht selbst verschuldet; wer einmal
aus dem Tritt gerät, kommt nie wieder rein.

Faszinierend finde ich die Idee, alle Menschen zu Beamten zu machen.

Warum ist darauf noch keiner gekommen? Dann wären alle Probleme
gelöst: Keiner ist kündbar, alle werden versorgt. Leider drängt sich
mir der Eindruck auf, dass die Beschäftigten im Rathaus sehr
unglücklich sind. Wie das nur kommt? Und warum sind Bahn und Post
privatisiert worden - das waren doch alles Beamte! Warum ist die AEG
vor die Hunde gegangen? Die war so groß, so etabliert, deren
Mitarbeiter haben sich alle als Beamte gefühlt. Bis es zu spät war.

Ihre Kostenrechnung ist faszinierend, lässt aber außer acht, dass die
öffentlichen Haushalte bereits jetzt vollkommen überschuldet sind. Wie
wollen Sie das lösen? Das Bandbreitenmodell hat darauf eine Antwort.
Selbst wenn man nichts macht, muss der Staat wegen der wachsenden
Zinslast eines Tages zusammenbrechen und vorher schon handlungsunfähig
werden - im Grunde ist der Fall ja schon eingetreten, viele Kommunen
und Länder sind bereits seit langem handlungsunfähig.

Insgesamt fand ich Ihren Artikel sehr erfrischend; bevor ich vom
Bandbreitenmodell erfuhr, habe ich mich jahrelang mit dem
bedingungslosen Grundeinkommen nach Götz Werner beschäftigt, das ich
sehr sympathisch fand, aber doch irgendwie nicht ganz überzeugend. Die
langjährige Diskussion mit unzähligen Alternativvorschlägen verrät
ebenfalls, dass hier nicht alles stimmig ist.

Auch Ihr Vorschlag wirkt, so sympathisch und wohlmeinend er ist,
kompliziert und verwirrend. Die Einwände und Spezialfälle, die Sie
behandeln, verstärken den Eindruck, dass dieses System beliebig
verkompliziert werden kann, wenn es nur in die Diskussion kommt und
genug Leute daran rumbasteln - und die werden sich mit Sicherheit
finden.

Das Bandbreitenmodell ist demgegenüber einfach und klar; ich habe
schon viele Einwände und Gegenargumente gelesen, aber alle sind auf
ebenso einfache und klare Art ausgeräumt worden. Das ist der Grund,
warum ich mich als Evangelist für das Bandbreitenmodell einsetze.

Selbstverständlich kann man die Wirklichkeit in jeder beliebigen
Hinsicht gestalten, aber man sollte es nicht komplizierter machen als
nötig. Vielleicht schauen Sie sich daraufhin mal das Bandbreitenmodell
genauer an. Möglicherweise finden Sie dort alle Probleme gelöst, um
die Sie sich bemühen.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch dafür danken, dass Sie die Tendenz
der unvermeidlichen Abnahme der Arbeitsplätze mehrfach argumentativ
unterstützt haben. Wer glaubt, dass es von ganz allein genug
Arbeitsplätze geben wird, sollte sich Ihren Text daraufhin anschauen.

Mit freundlichen Grüßen
Werner Popken

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Dr.math. Werner Popken  · Hauptstr. 13 · 32609 Hüllhorst · stuerenburg.com
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bandbreitenmodell.de statt Schuldenkrise · bandbreitenmodell.tumblr.com
  




Gerd Kallweit schrieb am Dienstag, 27. September 2011, 15:50:01:
> Liebe MitdiskutiererInnen,

> schön, dass es in den letzten Beiträgen um die Inhalte ging und nicht nur 
> um die Frage, welcher Stellenwert der Piratenpartei zukommt.
> Da einige Veröffentlichungen angesprochen wurden, möchte ich auch auf das 
> Konzept hinweisen, das ich veröffentlicht habe. Der Text ist auf meiner 
> Homepage zu finden (Kurz- und Langfassung). Würde mich freuen, wenn der 
> eine oder die andere einen kritischen Blick darauf werfen und eine 
> Stellungnahme abgeben könnte:
> www.gerdkallweit.de/4.html

> Beste Grüße
> Gerd Kallweit        




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