[Debatte-Grundeinkommen] (kein Betreff)

Gerd Kallweit gerdkallweit at gmx.de
Mi Sep 28 15:42:19 CEST 2011


Hallo Herr Popken,

das Bandbreitenmodell ist für mich neu. Es lohnt sich sicher, es näher 
unter die Lupe zu nehmen. Mein vorläufiger Eindruck: Wenn das Modell 
funktionieren soll, muss es weltweit angewandt werden. Mit der 
Ursachen-Analyse - so weit ich sie gelesen habe - stimme ich weitgehend 
überein. Hinsichtlich der Problemlösung überwiegt bei mir (noch) die 
Skepsis. Einen Ansatzpunkt haben wir allerdings gemeinsam: Die Finanzierung 
des sozialen Netzes muss von der Bindung an die Beschäftigung entkoppelt 
werden.

Dieser Ansatz ist der Kern meines Konzepts. Wenn es gelingt, die 
Sozialbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber auf die gesamte Wirtschaft 
umzulegen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Folgen daraus zu 
gestalten. Das Szenario, das ich entworfen habe, ist eine Möglichkeit, 
aber nicht die einzige und lässt auch Spielraum für Varianten.

Ihre ausführliche Stellungnahme zeigt einige Missverständnisse. Meine 
Anmerkungen dazu füge ich in Ihnen Text ein:

> Hallo Herr Kallweit!
> 
> Ihr Text und Ihre Überlegungen sind sehr interessant; eine Bemerkung
> vorweg: Die Erhöhung des Renteneintrittsalters führt ja nicht dazu,
> dass die Menschen länger arbeiten - die meisten sind schon vorher in
> den Ruhestand gegangen oder gegangen worden -, sondern entspricht
> einer stillschweigenden Rentenkürzung, weil die Berechnungsgrundlage
> geändert wird. Merkt aber keiner, oder? Das ist die Logik, nicht die
> von Ihnen genannte. Es muss gespart werden, auf Kosten der kleinen
> Leute.
 

> Endlich mal jemand, der Zahlen nennt und hinterfragt. Die zweite
> Beobachtung: Auch Sie setzen bei der Umsatzsteuer an. Warum
> stehenbleiben und den Rest so lassen, wie er ist? Die
> Steuergesetzgebung in Deutschland ist bekanntlich völlig verfahren.
> Nicht einmal die Steuerberater dürften ihre Freude damit haben.
 Die am Umsatz zu bemessene Sozialsteuer ist nicht mit der bestehenden 
Umsatzsteuer zu verwechseln. Die Sozialsteuer sollte keine Mehrwertsteuer 
sein, also kein Vorsteuer-Abzug. Im Übrigen handelt es sich eigentlich 
nicht um eine Steuer, sondern um eine Sozialabgabe. Steuern fließen in den 
allgemeinen Haushaltstopf, Abgaben lassen sich hingegen gezielt für einen 
bestimmten Zweck einsetzen. Der Begriff "Sozialsteuer" sollte lediglich den 
offiziellen Charakter der Abgabe unterstreichen.

>  
> Interessanterweise verwenden Sie ebenfalls den Begriff Bandbreite,
> hier für den Anteil der Arbeitskosten. Die Realität bei den
> Zeitarbeitsfirmen sieht vermutlich leider etwas düsterer aus als Sie
> das schildern. Ich persönlich habe keine Erfahrungen damit, weiß aber
> von anderen, dass die Zeitarbeitsfirmen sich überhaupt nicht dafür
> interessierten, was die zu vermittelnde Person kann und was der
> Arbeitgeber braucht.
> 
> Auch für die Firmen ist das Phänomen vermutlich nicht so positiv, wie
> Sie das darstellen. Wieder fehlt mir die persönliche Erfahrung, aber
> ich weiß von jemandem aus einer der führenden deutschen
> Großunternehmen, dessen Abteilung seit Jahren zu einem Großteil von
> Fremdfirmen gestellt wird, dass dieser das Phänomen aus den
> verschiedensten Blickrichtungen ausschließlich negativ beurteilt und
> eindeutig auf Managementmoden und irregeleitete Prämiensysteme
> zurückführt, nach denen die Manager belohnt werden, wenn sie Personal
> entlassen, obwohl die anschließende Ersetzung durch Zeitarbeitsfirmen
> wesentlich teurer und zugleich unproduktiver ist.
 Die Rolle der Zeitarbeitsfirmen ist in vielen Fällen zu kritisieren. Das 
Muster einer Trennung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigungsstelle 
scheint mir aber praktikabel zu sein, wenn eine staatliche Stelle de facto 
als Arbeitgeber fungiert.

>  
> Ihre Forderung, das Grundeinkommen müsse so niedrig sein, dass es
> einen Anreiz darstellt, sich um Arbeit zu bemühen, setzt voraus, dass
> es diese Arbeit gibt. Es unterstellt wieder einmal, dass diejenigen,
> die keine Arbeit finden, einfach nicht genug Anreiz haben, da es die
> entsprechenden Arbeitsplätze ja angeblich gibt. Wenn sie nur wollten,
> würden sie schon was finden. Das geht aber leider an der Realität
> vorbei. Die Wahrheit ist: Diese Arbeitsplätze gibt es gar nicht. Immer
> wenn der Spiegel lanciert, dass Deutschland untergeht, weil es nicht
> genug Ingenieure gibt, tobt der Bär im Forum, wo sich jede Menge
> Ingenieure melden, die nicht nur qualifiziert sind, sondern sogar über
> Berufserfahrung verfügen, aber keine Stelle bekommen. In diesem
> Zusammenhang von Anreiz zu reden muss dann also extrem zynisch wirken.
 Die Flexibilisierung nach dem Muster der Zeitarbeit soll dafür sorgen, 
dass die Arbeit möglichst auf alle verteilt wird. Ich gehe davon aus, dass 
alle Menschen eine Funktion in der Gesellschaft ausüben und daher auch 
arbeiten möchten. Dennoch sollte man auch den Hang zur Bequemlichkeit 
nicht außer Acht lassen. Ein finanzieller Anreiz, eine Rolle zu 
übernehmen, dürfte kaum schädlich sein. Dazu passt Ihr Satz im nächsten 
Absatz: "Wer einmal aus dem Tritt gerät ..." Und wer in einer aus dem 
Tritt geratenen Familie aufgewachsen ist, weiß vielleicht gar nicht, was 
es bedeutet, Tritt zu fassen.

>  Das Grundeinkommen mit der geleisteten Arbeitszeit zu verknüpfen kann
> alle diejenigen nicht befriedigen, die aus welchen Gründen auch immer
> einfach im Berufsleben nicht haben Fuß fassen können. Ich persönlich
> kenne eine ganze Menge Leute, denen es so geht. Die sind nach Ihrem
> System, wenn ich das richtig verstanden habe, arm dran. Diese Leute
> haben übrigens ihr Schicksal alle nicht selbst verschuldet; wer einmal
> aus dem Tritt gerät, kommt nie wieder rein.
 Die Grundsicherung soll nach meiner Vorstellung nicht von der geleisteten 
Arbeitszeit abhängen, sondern man sollte die Möglichkeit haben, die 
Grundsicherung durch geleistete Arbeitszeit aufzustocken.

>  
> Faszinierend finde ich die Idee, alle Menschen zu Beamten zu machen.
> 
> Warum ist darauf noch keiner gekommen? Dann wären alle Probleme
> gelöst: Keiner ist kündbar, alle werden versorgt. Leider drängt sich
> mir der Eindruck auf, dass die Beschäftigten im Rathaus sehr
> unglücklich sind. Wie das nur kommt? Und warum sind Bahn und Post
> privatisiert worden - das waren doch alles Beamte! Warum ist die AEG
> vor die Hunde gegangen? Die war so groß, so etabliert, deren
> Mitarbeiter haben sich alle als Beamte gefühlt. Bis es zu spät war.
 Man kann den Staat als Arbeitgeber haben, ohne Beamte zu sein. Alle 
Menschen zu Beamten zu machen, entspricht nicht meiner Vorstellung. Im 
Übrigen spricht Ihre Beamten-Kritik gegen das Bandbreitenmodell.

> Ihre Kostenrechnung ist faszinierend, lässt aber außer acht, dass die
> öffentlichen Haushalte bereits jetzt vollkommen überschuldet sind. Wie
> wollen Sie das lösen? Das Bandbreitenmodell hat darauf eine Antwort.
> Selbst wenn man nichts macht, muss der Staat wegen der wachsenden
> Zinslast eines Tages zusammenbrechen und vorher schon handlungsunfähig
> werden - im Grunde ist der Fall ja schon eingetreten, viele Kommunen
> und Länder sind bereits seit langem handlungsunfähig.
Die Kommunen werden nicht höher belastet als derzeit, denn die 
Lohnnebenkosten (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge) entfallen auch 
für sie.

> Insgesamt fand ich Ihren Artikel sehr erfrischend; bevor ich vom
> Bandbreitenmodell erfuhr, habe ich mich jahrelang mit dem
> bedingungslosen Grundeinkommen nach Götz Werner beschäftigt, das ich
> sehr sympathisch fand, aber doch irgendwie nicht ganz überzeugend. Die
> langjährige Diskussion mit unzähligen Alternativvorschlägen verrät
> ebenfalls, dass hier nicht alles stimmig ist.
> 
> Auch Ihr Vorschlag wirkt, so sympathisch und wohlmeinend er ist,
> kompliziert und verwirrend. Die Einwände und Spezialfälle, die Sie
> behandeln, verstärken den Eindruck, dass dieses System beliebig
> verkompliziert werden kann, wenn es nur in die Diskussion kommt und
> genug Leute daran rumbasteln - und die werden sich mit Sicherheit
> finden.
Die Beschreibung mag kompliziert sein - gerade, wenn man Spezialfälle zu 
berücksichtigen versucht. - in der praktischen Umsetzung scheint mir mein 
Konzept relativ einfach zu sein.

> Das Bandbreitenmodell ist demgegenüber einfach und klar; ich habe
> schon viele Einwände und Gegenargumente gelesen, aber alle sind auf
> ebenso einfache und klare Art ausgeräumt worden. Das ist der Grund,
> warum ich mich als Evangelist für das Bandbreitenmodell einsetze.
> 
> Selbstverständlich kann man die Wirklichkeit in jeder beliebigen
> Hinsicht gestalten, aber man sollte es nicht komplizierter machen als
> nötig. Vielleicht schauen Sie sich daraufhin mal das Bandbreitenmodell
> genauer an. Möglicherweise finden Sie dort alle Probleme gelöst, um
> die Sie sich bemühen.
> 
> Zum Schluss möchte ich Ihnen noch dafür danken, dass Sie die Tendenz
> der unvermeidlichen Abnahme der Arbeitsplätze mehrfach argumentativ
> unterstützt haben. Wer glaubt, dass es von ganz allein genug
> Arbeitsplätze geben wird, sollte sich Ihren Text daraufhin anschauen.
> 
> Mit freundlichen Grüßen
> Werner Popken
Beste Grüße auch von mir
Gerd Kallweit

> 
> 
> -- 
> ________________________________________________________________
> 
> Dr.math. Werner Popken  · Hauptstr. 13 · 32609 Hüllhorst · 
> stuerenburg.com
> Tel +49-5744-511-574 · Fax +49-5744-511-575 · Mobil +49-151-2327 3955
> bandbreitenmodell.de statt Schuldenkrise · bandbreitenmodell.tumblr.com
> 
> 
> 
> 
> 
> Gerd Kallweit schrieb am Dienstag, 27. September 2011, 15:50:01:
> > Liebe MitdiskutiererInnen,
> 
> > schön, dass es in den letzten Beiträgen um die Inhalte ging und nicht 
> nur 
> > um die Frage, welcher Stellenwert der Piratenpartei zukommt.
> > Da einige Veröffentlichungen angesprochen wurden, möchte ich auch auf 
> das 
> > Konzept hinweisen, das ich veröffentlicht habe. Der Text ist auf 
> meiner 
> > Homepage zu finden (Kurz- und Langfassung). Würde mich freuen, wenn 
> der 
> > eine oder die andere einen kritischen Blick darauf werfen und eine 
> > Stellungnahme abgeben könnte:
> > www.gerdkallweit.de/4.html
> 
> > Beste Grüße
> > Gerd Kallweit        
> 
>  
        
-- 
2010 in Limericks ISBN 978-3-8423-4281-1

Gerd Kallweit
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