[Debatte-Grundeinkommen] MwSt.-Diskussion

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mi Okt 19 11:54:47 CEST 2011


Hallo Christopher und alle, die es sonst noch interessiert,

der erste Denkfehler liegt in der Behauptung, daß eine monatlich BGE-Zahlung in Höhe von X Euro mit 12 Monaten multipliziert werden müsse und dieses Ergebnis mal der Einwohnerzahl, um die "Kosten" für ein Jahr zu erhalten. Würde man dies z.B. auf den Wasserverbrauch anwenden, dürften wir schon längst nicht mehr leben. Soll heißen: Wir haben es mit Kreisläufen zu tun - Geld (wie Wasser), das ausgegeben wird, fließt auch wieder zurück.

Der zweite "Denkfehler" liegt in der Anwendung der MwSt. Wenn man nach Götz Werner geht und die MwSt. so anwendet, wie man es heute tut, und dafür alle Steuern streicht, bin ich auch kein Freund davon. Der Charm an dieser "Finanzierung" (eigentlich ein falscher Begriff, da es sich um eine Umverteilung handelt) liegt in der Einfachheit, die auf den ersten Blick logisch und gerecht erscheint: Jeder der konsumiert, trägt zur Umverteilung durch ein Grundeinkommen bei. Daß aber Unternehmen von der MWSt. "befreit" sind (aufgrund der MWSt.-Rückerstattung) und sich bei einer reinen MWSt.-Umverteilung nicht an Kosten des Staates beteiligen, fällt auf den ersten Blick nicht auf. Die Unternehmen "zahlen" MWSt. (besser "führen MWSt. ab"), wenn sie Gewinn machen (also mehr verkaufen als kaufen). Und die Höhe dieser MWSt., die laut Befürwortern dieses Vorschlags bekanntlich alle anderen Steuern enthalten soll, lädt dazu ein, "unter der Hand" Handel zu betreiben. Ungelöst sind aus meiner Sicht auch Fragen des Außenhandels (Export/Import) oder die "Finanzierung" sonstiger Staatsausgaben...

Es gibt da allerdings einen Ansatz, eine "zweite" Mehrwertsteuer zu erheben, wie man es vor 1968 getan hat - eine Allphasenmehrwertsteuer, die nicht nur vom Endverbraucher getragen wird, sondern von jedem Glied in der Produktskette. Das heißt: Der Hersteller, der ein Produkt an einen Großhändler verkauft, der es wiederum an einen Einzelhändler verkauft, und von wo es ein Endverbraucher kauft - jedes Glied (Hersteller, Großhändler, Einzelhändler) führt diese Allphasenumsatzsteuer ab. Damit würde die Produktion und der Handel besteuert, wodurch die heutige Einkommenssteuer ersetzt werden könnte.

Zusätzlich können weitere Steuern bestehen bleiben, um sonstige Staatskosten zu finanzieren: Eine Einkommenssteuer, die allerdings erst erhoben wird, wenn ein gewisses Einkommen überschritten wird (damit entsteht ein einkommenssteuerfreier Korridor); die heute wirksame MWSt. in gleicher Höhe und gleicher Anwendung; sonstige Steuern, um Dinge zu "steuern"...

OK, bisher habe ich keine Zahlen geliefert, die verlangt wurden. Das brauche ich aber auch nicht, denn jetzt kommt der Reiz dieser Methode:
Die Höhe des Grundeinkommens orientiert sich nicht an einer feststehenden Zahl, sondern an den möglichen Ausgaben auf Basis der Einnahmen durch die Allphasenumsatzsteuer. Soll heißen: Die Summe X, die im Monat durch die Allphasenumsatzsteuer eingenommen wird, wird durch die Einwohnerzahl geteilt, wodurch die Höhe des "Grundeinkommens" feststeht (ich würde es dann eher "Dividende" nennen). Die Höhe des "Grundeinkommens" wäre dann abhängig von der Wirtschaftsleistung im Land und der Höhe dieser Allphasenumsatzsteuer, was sich jeweils bedingen würde (z.B: je höher die Allphasenumsatzsteuer bei gleicher Wirtschaftsleistung, desto höher das "Grundeinkommen", aber auch der Einfluß auf die Preise).

Das ganze ist nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern stammt von Matthias Dilthey. Sein Ansatz ist in folgendem PDF genauer nachzulesen:
http://www.iovialis.org/counting.php?file=Dilthey-Modell.pdf

Nehmen wir einmal an, dieses Modell würde in Europa eingeführt. Statt den Vergleich der Wirtschaftsleistung der Länder anhand von BIP-pro-Kopf-Zahlen zu machen, könnte man den Vergleich an der Höhe des jeweilig ausgezahlten Grundeinkommens durchführen. Länder, die dieses System nicht eingeführt hätten, könnten trotzdem wettbewerbsfähig über die weiterhin gleich gehandhabte und gleichhohe MWSt. bleiben. Weitere Vorteile des Dilthey-Vorschlags im o.g. PDF.

Ein Vergleich der Prinzipien für die Ausgestaltung eines Grundeinkommens auf Basis der Wertschöpfung war Thema meines Vortrags 2008 beim BIEN-Kongress in Dublin (hier deutsch):
http://www.iovialis.org/counting.php?file=Wirtschaftliche_Betrachtung.pdf
Als Video: http://grundeinkommen.iovialis.org/g08.html
Da die Ausgestaltung nicht nur den "Einnahme-Teil" beinhaltet, hier noch ein Video für Möglichkeiten des "Ausgaben-Teils":
http://grundeinkommen.iovialis.org/g09.html

Es gibt auch andere Möglichkeiten zur Ausgestaltung eines Grundeinkommens als die Verwendung von Steuern. Hier Videos als Überblick:
http://grundeinkommen.iovialis.org/g07.html

Welche Alternativen siehst Du denn, Christopher, wenn nicht MWSt.-basiert?

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus


  ----- Original Message ----- 
  From: Systeme 
  To: Joerg Drescher 
  Cc: Gerrit Haase ; Debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Wednesday, October 19, 2011 10:32 AM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Das Pauluszitat: Wer nicht arbeitet, ....


  Hallo Jörg,
  ich möchte (wieder einmal) darlegen, warum ich MwSt-basierte Modelle für nicht finanzierbar und ungerecht halte mit der Hoffnung, dass mir ein Anhänger dieser Modelle entweder aufzeigt, wo ich falsch liege, oder - idealerweise - endlich einmal eine rudimentäre(!) Übersichtsberechnung liefert, 
  - wie so etwas finanziert werden soll,
  - wie man so ein System halbwegs gerecht machen kann.


  Zur Finanzierung:
  Es fällt schon auf, dass ausschließlich die Fans eines MwSt-basierten Modells mit relativ hohen Zahlungen hantieren - 1.000,- bis 1.500,- Euro, während andere Modelle, die allerdings auch Gegenrechnungen liefern, eher bei 600,- - 800,- Euro liefern.
  Aber sei's drum, nehmen wir 1.000,- Euro. Mal 12 Monate mal 82 Mio. Menschen macht 984 Mrd Euro / Jahr.
  1% MwSt bringt heute 8 Mrd.
  Also müssten wir die MwSt um  123% erhöhen auf dann 142%. Und alle anderen Steuern müssen aber bleiben!!!! D.h., die oft gemachte Gegenrechnung, dass ja dann billiger produziert werden kann, ist hierbei noch nicht drin! (grobe Übersicht: 2.400 Mrd. wird in Summe in unserem Staat umgewälzt, alles über eine MwSt zu finanzieren bedeutet irgendwo 300% MwSt....)
  Und ich will gar nicht erst einsteigen mit dem dann extrem lukrativen MwSt-Betrug, Schwarzarbeit etc.....


  Zur Gerechtigkeit:
  Ein "Normalbürger" würde im wesentlichen mit seinem kompletten Einkommen sich an der Finanzierung unseres Staates beteiligen, denn selbst wenn er Geld spart, spart er es in der Regel für größere Konsumgüter an (Auto, Urlaub...), auf die er MwSt bezahlt = er konsumiert sein Geld und zahlt MwSt.


  Ein "Ackermann" (10 Mio. Jahreseinkommen = ca. 800.000,- / Monat) beteiligt sich unmöglich mit 100% seines Einkommens an der Finanzierung unseres Staates, sondern vielleicht mit 20%? (Jeden Monat neu 160.000,- zu konsumieren will erst einmal geschafft werden... :-)) )
  Ein "Ackermann" würde also 80% seines Einkommens absolut steuerfrei genießen dürfen - also auf so eine Idee kommt nicht einmal eine Reste-FDP! Wieso finden dann Grüne derartige Ideen toll?
  Er würde sein überzähliges Geld in Aktien etc. anlegen und wer glaubt, dass man Aktienkäufe wenigstens Europaweit mit einem MwSt-Satz von 142% belegen kann....... 


  Selbst wenn man als Systemiker berücksichtigt, dass bei lebenden Systemen (also Menschen) linear-kausale Modelle Blödsinn sind (außer man möchte Menschen wie Bügeleisen behandeln) - die Größenordnungen liegen für mich einfach derart weit auseinander.


  Ich kann mich nur wiederholen: Entweder, ich habe einen zentralen Denkfehler, oder jemand rechnet mir das vor, wie es gehen kann. Wenigstens in Größenordnungen. Und solange das nicht passiert, bleibe ich bei meiner Aussage, dass für mich die MwSt-basierten Modelle nicht zu finanzieren und extrem ungerecht sind.


  Und eine Bitte noch zuletzt: Für DIESE Frage erbitte ich mir einmal keine philosophischen Grundsatzpapiere über den Wert von Arbeit, über Gerechtigkeit, oder sonstige spannenden Dinge. Ich hätte es gerne mal anhand von Zahlen(!) so erklärt bekommen, dass ein 6-jähriger das verstehen könnte... :-))


  Gruß,
  Christopher

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