[Debatte-Grundeinkommen] Berechtigte Empfänger des BGE @Anke

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Di Sep 29 09:53:55 CEST 2009


Hallo, Jörg!

Danke für Deinen Aufruf zum Innehalten und Reflektieren!

Ich nutze einen Aufhänger in Deinem Schreiben, um das Ergebnis meiner
Reflektion Euch allen mitzuteilen. Für mich war das Grundeinkommen,
und speziell das bedingungslose Grundeinkommen im Sinne des nicht an
eine Gegenleistung geknüpften Mindesteinkommens, eine konkrete Utopie.
Aus dem anfänglichen - naiven - Irrglauben eines Geldbetrags X, der -
je nach Verständnis - mal 80 Millionen genommen oder durch 80
Millionen geteilt werden musste und nichts weiter als ein nebuläres
Sozialsystem darstellte, reifte das Verständnis eines eigenen
Wirtschaftssystems heran, basierend auf der Sozialen Marktwirtschaft
(also Kapitalismus).

Dein Hinweis, Jörg, darauf, dass es uns die Regeln unserer
Gesellschaft nicht erlauben, irgendetwas ohne Gegenleistung zu nehmen,
selbst wenn wir es zum Leben brauchen (!), entspricht den
grundlegenden Bedenken, die dem Grundeinkommen entgegengebracht werden
- verrückterweise ohne die Berechtigung des Grundeinkommens als
notwendige Aufhebung dieses Prinzips auch nur im mindesten anzutasten!
Kurz gesagt: Die Menschen stehen sich heutzutage schlicht selbst im
Weg!

Bestes Beispiel dafür ist Prof. Rainer Roth, ein hochintelligenter,
umfassend solidarisch geprägter Mann, den ich einmal in Wiesbaden
erlebte, wie er mehr oder minder unverhüllt zur Revolution aufrief -
während er bei nächster Gelegenheit gegen das Grundeinkommen wetterte!
(...wobei ihm allerdings der Anlass unglücklicherweise durchaus Recht
gab...) Aber das passiert ja den meisten Menschen: Wenn man ihnen von
der Utopie "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen
Bedürfnissen" vorschwärmt, dann sind sie meist bei einem. Wenn man
haargenau diese Utopie dann bei ihrem Namen "Kommunismus" nennt, sind
sie aber genauso schnell wieder auf Abstand ;-)

Dieses Prinzip, dem wir heute verhaftet sind, dass man erst etwas
geben muss, um anschließend nehmen zu können (über das man in der
Wikipedia unter dem Namen "Do ut des" nachlesen kann:
http://de.wikipedia.org/wiki/Do_ut_des ), muss also überwunden werden.
Und daher sehe ich das Projekt Grundeinkommen heutzutage als reine
Symbolpolitik an. Denn wenn dieses Ziel erreicht ist, dass die
Menschen mehrheitlich vom Do ut des-Prinzip abgekehrt sind, ja, dann
wird sich doch niemand mehr mit einem heute schon anachronistischen
kapitalistischen System IRGENDEINER Ausprägung zufriedengeben und
sofort zum Sozialismus oder zum Kommunismus aufsteigen und damit eine
höhere Ebene der gesellschaftlichen Evolution erklimmen wollen!

Liebe Grüße
Manfred




2009/9/26 Joerg Drescher <iovialis at gmx.de>:
> Hallo Anke und wen's sonst noch interessiert,
>
> als Lenin ins zaristische Russland gebracht wurde (mit Unterstützung der
> sich bildenden ILO und Deutschen), wußte er nicht, wie man den Kommunismus
> umsetzen sollte. Er löste eine Revolution aus, die ein Ziel verfolgte, von
> dem kein Mensch wußte, wie es umzusetzen sei. Die ganzen Schriften (von
> Marx, Engels und Co.) haben die damalige Situation der Arbeiter analysiert,
> aber sie gaben keine konkrete Anleitung, wie man deren Lage verbessern
> könne.
>
> Diese Mailingliste und der ursprüngliche Gedanke des dt. Netzwerk
> Grundeinkommens als nationales Sub-Netzwerk von BIEN hatte Anfangs nicht das
> Ziel, irgendwelche Menschen von der Idee zu überzeugen, sondern mögliche
> Auswirkungen sachlich, objektiv und mit einem wissenschaftlich Anspruch zu
> bedenken. Die Idee der "Bedingungslosigkeit" kam eigentlich hauptsächlich
> durch Götz Werner ins Gespräch und ich stelle immer wieder fest, daß der
> Terminus "Bedingungsloses Grundeinkommen" zu vielerlei Mißverständnissen
> führt. Gleichfalls bringt die deutsche Besonderheit der Definition des
> Grundeinkommens (das in der historischen Entwicklung immer wieder
> Namenswechsel erfuhr), daß es den Lebensunterhalt plus eine
> gesellschaftliche Teilhabe sichern solle, mehr Streit, als eine sachlichen
> Diskussion.
>
> Die Geschichte der Menschheit weist prinzipiell darauf hin, daß dem Menschen
> ein gewisses Maß an Mißtrauen entgegenzubringen ist. Dies Pauschal auf jeden
> zu übertragen, ist nicht ganz korrekt, aber es grundsätzlich auszuklammern
> wäre genauso falsch. Die jeweiligen Erfahrungen des Einzelnen mögen dabei in
> eine "gutgläubige und vertrauensvolle" Richtung gehen, die eines anderen
> eher in eine "vorsichtige und mißtrauische".
>
> Der Mensch ist eben von Natur aus kein gutes und mündiges Wesen, sondern
> wird (bestenfalls) durch einen Entwicklungsprozess zu einem solchen. Die
> Rahmenbedingungen für diesen Entwicklungsprozess tragen zum Teil dazu bei,
> wie auch die jeweilige Veranlagung des Einzelnen. Das Experiment BGE wird
> ohne begleitende Maßnahmen ein Beweis dafür, daß der Mensch nicht in der
> Lage ist, mit seiner Freiheit umzugehen. Und wir diskutieren hier über
> nichts anderes, als diese "begleitenden Maßnahmen" in Form von
> Rahmenbedingungen für die wirkliche "Bedingungslosigkeit" auszuloten.
> Matthias (Dilthey) spricht nicht umsonst von einem "emanzipatorischen
> Sozialstaat", der meinem Terminus einer "jovialen Gesellschaft" entspricht.
>
> Fragen wir uns nämlich, weshalb wir überhaupt Geld benötigen (was uns über
> die Notwenigkeit eines Grundeinkommens diskutieren läßt), kommen wir zu den
> Regeln unserer Gesellschaft, die es uns nicht erlauben, irgendetwas ohne
> Gegenleistung zu nehmen - selbst wenn wir es zum Leben brauchen. Geld dient
> dabei eigentlich dem Zweck, die Menge zu beschränken, wieviel wir uns
> (aufgrund den gesellschaftlichen Regeln) nehmen dürfen.
>
> Wir können nun (ähnlich wie Lenin) eine Revolution auslösen, ohne uns klar
> darüber zu sein, wie wir das eigentlich umsetzen wollen, was wir erreichen
> möchten. Oder wir machen uns weiterhin Gedanken darüber, wie wir ein
> ausgearbeitetes Konzept vorlegen können, das auf möglichst viele Probleme
> bei der Umsetzung eingeht. Außer der Lernmethode "Try and Error" gibt es
> auch noch "vernünftige Einsicht" durch gedankliches Durchspielen der
> möglichen Folgen unseres Handelns.
>
> Aufklärungsarbeit (der "normalen Bevölkerung") ist dennoch wichtig -
> vielleicht wäre mit diesem Vorgehen der damalige Versuch einer
> "kommunistischen Gesellschaft" in der sich bildenden Sowjetunion nicht durch
> einen anfänglichen Bürgerkrieg verlaufen, bei dem es unzählige Tote gab und
> der eine Elite zur Flucht zwang, die vielleicht eingesehen hätte, daß das
> neue System auch für sie Vorteile gebracht hätte. Statt die Geschichte zu
> wiederholen, sollten wir aus ihr lernen - und um ehrlich zu sein, so viel
> Zeit haben wir vielleicht gar nicht, wenn man sich überlegt, welche Probleme
> auf die Menschheit noch zukommen, die mit Geld überhaupt nicht zu lösen sind
> (Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, Klimawandel, Nahrungsmittel...).
>
> Deshalb bin ich über die fortgeschrittenen Ansätze von Matthias (Dilthey)
> und den begleitenden Gedanken einiger anderer froh, die überhaupt über
> "Bedingungen" nachdenken, wie eine Gesellschaft mit Grundeinkommen
> funktionieren könnte - Geld ist dabei das kleinste (technische) Problem; der
> (politische) Wille fehlt im Prinzip aufgrund eines konkreten Konzepts, das
> vermittelbar ist.
>
> Laßt uns das BGE bitte nicht zu einem Experiment werden, bei dem Menschen
> als Versuchstiere herhalten müssen. Das BGE wird immer ein Versuch sein -
> egal, wieviel wir uns vorher überlegen - aber manche Versuche scheitern
> gerade deshalb nicht, weil die Versuchsbedingungen vorher gründlich bedacht
> wurden.
>
> Viele Grüße aus Kiew,
>
> Jörg (Drescher)
> Projekt Jovialismus
>
> PS: Was ist denn der "eigentliche Sinn der BGE-Idee"?
>
>



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