[Debatte-Grundeinkommen] Berechtigte Empfänger des BGE @Anke

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Sa Sep 26 23:00:38 CEST 2009


Hallo Anke und wen's sonst noch interessiert,

als Lenin ins zaristische Russland gebracht wurde (mit Unterstützung der 
sich bildenden ILO und Deutschen), wußte er nicht, wie man den Kommunismus 
umsetzen sollte. Er löste eine Revolution aus, die ein Ziel verfolgte, von 
dem kein Mensch wußte, wie es umzusetzen sei. Die ganzen Schriften (von 
Marx, Engels und Co.) haben die damalige Situation der Arbeiter analysiert, 
aber sie gaben keine konkrete Anleitung, wie man deren Lage verbessern 
könne.

Diese Mailingliste und der ursprüngliche Gedanke des dt. Netzwerk 
Grundeinkommens als nationales Sub-Netzwerk von BIEN hatte Anfangs nicht das 
Ziel, irgendwelche Menschen von der Idee zu überzeugen, sondern mögliche 
Auswirkungen sachlich, objektiv und mit einem wissenschaftlich Anspruch zu 
bedenken. Die Idee der "Bedingungslosigkeit" kam eigentlich hauptsächlich 
durch Götz Werner ins Gespräch und ich stelle immer wieder fest, daß der 
Terminus "Bedingungsloses Grundeinkommen" zu vielerlei Mißverständnissen 
führt. Gleichfalls bringt die deutsche Besonderheit der Definition des 
Grundeinkommens (das in der historischen Entwicklung immer wieder 
Namenswechsel erfuhr), daß es den Lebensunterhalt plus eine 
gesellschaftliche Teilhabe sichern solle, mehr Streit, als eine sachlichen 
Diskussion.

Die Geschichte der Menschheit weist prinzipiell darauf hin, daß dem Menschen 
ein gewisses Maß an Mißtrauen entgegenzubringen ist. Dies Pauschal auf jeden 
zu übertragen, ist nicht ganz korrekt, aber es grundsätzlich auszuklammern 
wäre genauso falsch. Die jeweiligen Erfahrungen des Einzelnen mögen dabei in 
eine "gutgläubige und vertrauensvolle" Richtung gehen, die eines anderen 
eher in eine "vorsichtige und mißtrauische".

Der Mensch ist eben von Natur aus kein gutes und mündiges Wesen, sondern 
wird (bestenfalls) durch einen Entwicklungsprozess zu einem solchen. Die 
Rahmenbedingungen für diesen Entwicklungsprozess tragen zum Teil dazu bei, 
wie auch die jeweilige Veranlagung des Einzelnen. Das Experiment BGE wird 
ohne begleitende Maßnahmen ein Beweis dafür, daß der Mensch nicht in der 
Lage ist, mit seiner Freiheit umzugehen. Und wir diskutieren hier über 
nichts anderes, als diese "begleitenden Maßnahmen" in Form von 
Rahmenbedingungen für die wirkliche "Bedingungslosigkeit" auszuloten. 
Matthias (Dilthey) spricht nicht umsonst von einem "emanzipatorischen 
Sozialstaat", der meinem Terminus einer "jovialen Gesellschaft" entspricht.

Fragen wir uns nämlich, weshalb wir überhaupt Geld benötigen (was uns über 
die Notwenigkeit eines Grundeinkommens diskutieren läßt), kommen wir zu den 
Regeln unserer Gesellschaft, die es uns nicht erlauben, irgendetwas ohne 
Gegenleistung zu nehmen - selbst wenn wir es zum Leben brauchen. Geld dient 
dabei eigentlich dem Zweck, die Menge zu beschränken, wieviel wir uns 
(aufgrund den gesellschaftlichen Regeln) nehmen dürfen.

Wir können nun (ähnlich wie Lenin) eine Revolution auslösen, ohne uns klar 
darüber zu sein, wie wir das eigentlich umsetzen wollen, was wir erreichen 
möchten. Oder wir machen uns weiterhin Gedanken darüber, wie wir ein 
ausgearbeitetes Konzept vorlegen können, das auf möglichst viele Probleme 
bei der Umsetzung eingeht. Außer der Lernmethode "Try and Error" gibt es 
auch noch "vernünftige Einsicht" durch gedankliches Durchspielen der 
möglichen Folgen unseres Handelns.

Aufklärungsarbeit (der "normalen Bevölkerung") ist dennoch wichtig - 
vielleicht wäre mit diesem Vorgehen der damalige Versuch einer 
"kommunistischen Gesellschaft" in der sich bildenden Sowjetunion nicht durch 
einen anfänglichen Bürgerkrieg verlaufen, bei dem es unzählige Tote gab und 
der eine Elite zur Flucht zwang, die vielleicht eingesehen hätte, daß das 
neue System auch für sie Vorteile gebracht hätte. Statt die Geschichte zu 
wiederholen, sollten wir aus ihr lernen - und um ehrlich zu sein, so viel 
Zeit haben wir vielleicht gar nicht, wenn man sich überlegt, welche Probleme 
auf die Menschheit noch zukommen, die mit Geld überhaupt nicht zu lösen sind 
(Umweltverschmutzung, Wasserknappheit, Klimawandel, Nahrungsmittel...).

Deshalb bin ich über die fortgeschrittenen Ansätze von Matthias (Dilthey) 
und den begleitenden Gedanken einiger anderer froh, die überhaupt über 
"Bedingungen" nachdenken, wie eine Gesellschaft mit Grundeinkommen 
funktionieren könnte - Geld ist dabei das kleinste (technische) Problem; der 
(politische) Wille fehlt im Prinzip aufgrund eines konkreten Konzepts, das 
vermittelbar ist.

Laßt uns das BGE bitte nicht zu einem Experiment werden, bei dem Menschen 
als Versuchstiere herhalten müssen. Das BGE wird immer ein Versuch sein - 
egal, wieviel wir uns vorher überlegen - aber manche Versuche scheitern 
gerade deshalb nicht, weil die Versuchsbedingungen vorher gründlich bedacht 
wurden.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus

PS: Was ist denn der "eigentliche Sinn der BGE-Idee"?


----- Original Message ----- 
From: "Anke Brehm" <abrehm at arcor.de>
To: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Cc: <agne.s at gmx.de>
Sent: Thursday, September 24, 2009 9:31 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Berechtigte Empfänger des BGE


Hallo Agnes und alle die an der Debatte teilnehmen,
wenn das so weitergeht hier, sehe ich wirklich schwarz für`s ganze 
Grundeinkommen. Es ist noch weit, sehr weit von der Verwirklichung entfernt 
und hier wird sich bereits Gedanken darüber gemacht, wer warum und wie davon 
ausgeschlossen werden soll.
In einer Phase, in der es bislang nur darum geht, möglichst viele Menschen 
vom Sinn des BEDINGUNGSLOSEN Grundeinkommens zu überzeugen, wird hier eine 
Diskussion über die BEDINGUNGEN für die Auszahlung diskutiert. Und das noch 
auf eine Art und Weise, die ein großes Misstrauen gegenüber den Menschen 
offenbart.
Wer sich Sorgen um mögliche Missbräuche macht und von vorneherein 
Einschränkungen verlangt, hat den eigentlichen Sinn der bGE-Idee nicht 
verstanden.
Zudem ist es lächerlich, hier auf eine Art und Weise zu argumentieren, als 
ob man berechtigt und in der Lage wäre darüber bereits endgültige 
Entscheidungen zu treffen.
Beim gBE geht es nicht nur um Geld. Es geht unter anderem darum, die 
Menschen endlich als mündige Wesen anzuerkennen, die - wenn die 
Rahmenbedingungen, unter denen sie leben, dies zulassen - selbst darüber 
entscheiden können, wie und wo sie leben und arbeiten. Das Experiment bGE 
wird geeignet sein, zu beweisen, dass dies letztlich zum Wohl der ganzen 
Gesellschaft sein wird, und zwar umso mehr, je weniger Vorgaben dabei im 
Spiel sind.
Gruß
Anke





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