[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mo Okt 26 20:06:06 CET 2009


Hallo Christine und wen's sonst noch interessiert,

merci für Deine Antwort! Hier ein Artikel über die Untersuchung mit Kindern 
und deren Gerechtigkeitssinn, was Du angesprochen hast:
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,574807,00.html

In diesem Zusammenhang dürfte auch folgender Effekt interessant sein, bei 
dem es um Besitz geht (Macht wird von manchen als Besitz angesehen, was 
diesem Effekt eine besondere Note gibt): 
http://de.wikipedia.org/wiki/Endowment-Effekt

Zur ursprünglichen Frage, ob Gerechtigkeit verhandelbar ist, muß man nur an 
ein Gericht gehen. Ob dort allerdings Gerechtigkeit ausgehandelt wird, ist 
ein anderes Thema - die Verhandlung findet weniger auf argumentativer Basis 
statt, sondern eher auf gesetzlicher (also festgeschriebener 
"Gerechtigkeit"). Nur zeigt sich, daß Recht nicht zwingend Gerechtigkeit 
bedeutet (z.B. Drittes Reich) und sogar Ungerechtigkeit manifestieren kann 
(vgl. Milgram-Experiment, Stanford-Prison-Experiment; bei beiden wird die 
Verantwortung an Authoritäten abgeben - Authorität können auch 
Gesetze/Vorschriften sein, die von Gesetzeshütern verteidigt werden).

Ich stimme Dir zu, daß das Gerechtigkeitsgefühl empfindlich (kollektiv) 
verletzt sein muß, damit Leute aufstehen. Wenn aber eben diesen 
(aufstandsbereiten) Leuten ein Gerechtigkeitsdenken vermittelt wird 
(Leistungsgerechtigkeit), das zwar ihrem instinkten Gefühl zuwiederläuft und 
dennoch argumentativ (Logik/Verstand) einleuchtet, kommt es solange nicht 
zum Aufstand, bis diese Leute durch ihr eigenes Gerechtigkeitsdenken in eine 
Situation gebracht werden, wo sie es über den Haufen werfen (Brecht: Erst 
kommt das Essen, dann die Moral). Andere warten auf das "jüngste Gericht" 
und erdulden bis dahin alles fatalistisch (Weg des geringsten Widerstands).

Zudem wird (beim Grundeinkommen) viel von Freiheit gesprochen, doch halte 
ich Gerechtigkeit für wichtiger, da sich beides gegenseitig bedingt, wobei 
die "Freiheit zur Ungerechtigkeit" mit der Zeit die Freiheit einschränkt 
(Stichwort: Gated Communities). Hier halte ich es mit Hegel, der Freiheit 
als "Einsicht in die Notwendigkeit" beschrieb - also auch die Einsicht, daß 
Gerechtigkeit (für ein freies/friedliches Zusammenleben) notwenig ist.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org



----- Original Message ----- 
From: "Christine Ax" <ax at fhochx.de>
To: "'Joerg Drescher'" <iovialis at gmx.de>; 
<debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Monday, October 26, 2009 5:47 PM
Subject: AW: [Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?


Hallo Ihr zusammen,

in diesem Kontext interessant sind viele Untersuchungen, die in der
jüngeren Vergangenheit sowohl von den empirischen
Wirtschaftswissenschaftlern als auch mit Kindern gemacht wurden. Das
Gefühl für Gerechtigkeit stellt sich bei Kindern irgendwann ein.. so mit
5 oder sechs Jahren meine ich zu erinnern. Es liegt scheinbar in unserer
Natur oder ist in unserem "sozialen Wesen" angelegt. Auch die
Wirtschaftswissenschaften gehen ja zunehmend davon aus, dass wir in
unserem Verhalten den Aspekt der Gerechtigkeit stets mitdenken und er
unser Verhalten/Entscheidungen mit beeinflusst.
Außerdem gibt es seit der französischen Revolution einen Diskurs über
Gerechtigkeit, der etwas mit Gleichbehandlung und Chancengleichheit zu
tun hatte. Das Bürgertum hat das Schwert der Gerechtigkeit gegen den
Adel geschwungen, um Vorrechte qua Geburt abzuschaffen und wollte
an ihre Stelle das Ideal der Gleichbehandlung und gerechten Entlohnung
von Leistung zu stellen. Leider liegt es wohl auch in der Natur des
Menschen das eigene Vermögen - und sei es auch ererbt - sofort als das
Eigene zu verteidigen und als Art persönlichen Verdienst anzusehen. Ich
treffe immer wieder Menschen, die ihr Glück ausschließlich dem Umstand
verdanken, in die richtige Familie hineingeboren zu sein. Sie fühlen
sich gerne als Elite und verschwenden keinen Gedanken daran, dass sie
ihren Wohlstand nicht eigenen Verdiensten verdanken. Politisch relevant
dürfte der Gedanke der Gerechtigkeit immer dann werden, wenn abweichend
von unserem persönlichen und kollektiven Gerechtigkeitsgefühl und
-begriff das Ausmaß der Ungerechtigkeit so groß ist, dass viele Menschen
bereit sind, für mehr Gerechtigkeit aufzustehen und zu kämpfen oder/und
wenn sie die Hoffnung verloren haben, dass sie von "denen da oben" noch
vertreten werden.

Mir persönlcih gefällt der Bibelspruch sehr gut der da lautet: Ein Tag
Gerechtigkeit ist mehr Wert als 100 Jahr Almosen. Gerechtigkeit hat für
mich nicht nur eine materiellen Chrarakter sondern eine immateriellen:
Ohne Gerechtigkeit ist die Würde des Menschen in Gefahr. Simone Weil hat
in den 20er Jahren in ihren Fabriktagebüchern sehr eindrucksvoll den
Hunger der Menschen nach Gerechtigkeit beschrieben.

Es grüßt vom Netzwerk Hamburg
Christine Ax
www.koennensgesellschaft.de





Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen