[Debatte-Grundeinkommen] FDP-Bürgergeld

Robert Zion zion at robert-zion.de
Sa Okt 10 18:51:28 CEST 2009


Lieber Winfried, liebe Mitdiskutierende,

Deine Darstellung ist im Großen und Ganzen korrekt. Allerdings fehlen zwei Kritikpunkte: 1.) Durch die Einbeziehung und Pauschalierung des Wohngeldes in das FDP-Bürgergeld würden die Bezieher gegenüber Hartz IV von der Leisungshöhe zumeist schlechter dahestehen; 2.) Das FDP-Bürgergeld orientiert sich am workfare-Konzept. Als Beweis nur einen Satz aus der Studie "Liberales Bürgergeld kontra bedingungsloses Grundeinkommen" der Friedrich-Naumann-Stiftung: "Von einem Bürgergeldempfänger, der gesund ist und keine eigenen Angehörigen zu versorgen hat, ist grundsätzlich zu erwarten, dass er zu einer Gegenleistung an die Gemeinschaft bereit ist oder eine ihm angebotene Arbeit annimmt. Andernfalls wird sein Bürgergeld merklich verringert."

Ein faktischer Arbeitszwang für "Gesunde" also, der konkret mit Sanktionen erzwungen und normativ mit einer "Gegenleistung an die Gemeinschaft" begründet wird. Diese Arbeitslagerethik würde der von mir geschätzte Gilles Deleuze unter die "Mikrofaschismen" einordnen. Sollte sowas Gesellschaftsfähig werden - und einige sind schon wieder auf dem Weg dahin (siehe die Äußerungen über die Nützlichkeit bestimmter Menschen von Sarazzin) -, dann ist es ein gesellschaftlich (wieder) hegemonialer Faschismus.

Oder gibt es dann doch "Hegels List der Vernunft", wie Michael Opielka schreibt: "Die FDP-Studie - wie auch alle anderen vergleichbaren Papiere - versäumen jedoch aus guten Gründen, die Umsetzung genauer zu beschreiben. Sie wäre unmenschlich, ein moderner Sklavenmarkt: die Bürgergeldempfängerin müsste ihre Arbeitskraft auf Anweisung des kommunalen Workfare-Büros jederzeit und zu jedem Preis bereit halten, ansonsten folgt Sanktion. Insoweit gilt Hegels List der Vernunft: die FDP klopft sich mannhaft auf die Workfare-Schenkel und wird praktisch ein Grundeinkommen einführen"?

Ich glaube nach Auschwitz und dem Gulag nicht mehr an die dialektische "List der Vernunft" in der Moderne. Mir liegt das a-dialektische, differenzielle Denken eines Foucault oder Deleuze näher und Letzterer würde wohl die Frage stellen: Was sind die Verkettungen und gesellschaftlichen Fluchtlinien, mit denen das FDP-Bürgergeld eine neue Verkettung eingehen könnte? Sind es die emanzipatorischen oder faschistischen? Im Grunde ist die Antwort recht einfach. Denn das FDP-Bürgergeld setzt die "Freiheit" und den Status des "Bürgers" unter eine Bedingung: die der Lohnarbeit. Insofern ist dies einfach nur reaktionär. Und jeder, der Guido Westerwelles Hetzreden gegen "Faule" einmal bei einer Wahlkampfveranstaltung erleben durfte, bestätigte mir noch immer: das ist reaktionär. Dahinter steht ein im sehr schlechten Sinne konservatives, geistig unbewegliches, unmodernes und partikulares Welt- und Menschenbild.

Die FDP hatte einmal einen Karl-Hermann Flach und spannende Texte wie die Freiburger Thesen. Jetzt hat sie den omnipräsenten Westerwelle. Zumindest nehme ich an, dass dieser nicht genügend Tiefe und politische Weite hat, um überhaupt irgend etwas in der Republik nachhaltig durchzusetzen. Aber das haben genügend andere von anderen Politikern in Deutschland zuvor ja auch geglaubt.

Liebe Grüße

Robert 

  
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Robert Zion Vorstandssprecher
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  ----- Original Message ----- 
  Sent: Saturday, October 10, 2009 1:28 PM
  Subject: Re: [Gr.NetzGE] [Debatte] FDP-B ü rgergeld, BDK Rostock


  Liebe Liste,



  ich habe mir die Diskussion zum Bürgergeld angesehen (und den FDP-Antrag im Original!). Irgendwie juckt es mich, heute mal den "advocatus diaboli" zu spielen.



  Wenn ich das alles ohne Scheuklappen auf mich wirken lasse, muss ich zunächst einmal feststellen, dass das FDP-Konzept viele Komponenten des BW-Antrages zum Grundeinkommen enthält. 



  Es sieht die Einführung einer Negativen Einkommensteuer (und zwar ziemlich ähnlich der von uns in BW vorgeschlagenen) vor.



  Es verbessert die Zuverdienstmöglichkeiten bzw.-Anreize gegenüber Hartz IV erheblich. Vielleicht erinnert Ihr Euch, dass sich die BDK in Nürnberg (auf Druck der Parteiführung) nur zu folgendem Beschluss durchringen konnte: 



  "Bis zu einem Verdienst von 400 Euro soll jeder zweite Euro anrechnungsfrei bleiben, darüber hinaus soll ein Anteil des Verdienstes von über 20 Prozent bei den EmpfängerInnen verbleiben."




  Da ist die FDP auch nicht schlapper: bis 100 Euro 85%, von 100 bis 600 Euro 40%, dann bis 1200 Euro 20 %, über 1200 Euro 10%.



  Ohne Anspruch auf Vollständigkeit stören mich beim FDP-Konzept 3 Punkte:

  1. die Höhe des Bürgergeldes

  2. die Beibehaltung der Bedarfsgemeinschaften

  3. die Sanktionierung bei Ablehnung eines Arbeitsangebotes




  Ohne dass ich das jetzt im Detail geprüft habe, kommt es mir so vor, als ob sich durch das FDP-Bürgergeld die Situation gegenüber dem heutigen Hartz IV nicht verschlechtern würde. 




  Auf der anderen Seite bekämen wir einen grundsätzlichen Systemwechsel zu einer negativen Einkommensteuer in unserem Sinn und - zumindest vom Grundsatz her - einen ersten kleinen Einstieg in Richtung Grundeinkommen. Wenn dann nach 2013 die CDU-FDP-Regierung abgewählt wird, brauchen wir doch nur noch das Bürgergeld zu erhöhen und die  Bedarfsgemeinschaften sowie die Sanktionierungen abzuschaffen und schon haben wir ein partielles Grundeinkommen wie im BW-Antrag vorgesehen.




  Also: ich würde die FDP nur hinsichtlich der oben genannten 3 Punkte angreifen und im übrigen machen lassen. Wenn die FDP sich bei den Koalitionsverhandlungen duchsetzen würde, hätten wir den ungeheuer wichtigen grundsätzlichen Paradigmen-/Systemwelchsel schon geschafft und müssten dann nur noch reformieren. Das wäre doch schon mal was!




  Ich finde, die FDP ist mit ihrem Bürgergeld-Vorschlag um Welten mutiger und innovativer als wir! Mehr als sie da vorschlagen, können wir von der FDP als Klientel-Partei ersthaft nicht erwarten! 




  Im Vergleich dazu haben wir Grüne uns bisher zu nicht viel mehr als einem geringfügig aufgebesserten Hartz IV durchringen können. Ich finde das ziemlich schlapp und unserer Partei nicht würdig. Wir sollten uns wirklich an der FDP ein Beispiel nehmen!




  Ich bin davon überzeugt, dass der grundsätzliche Systemwechsel von der FDP viel leichter durchgesetzt werden kann, als wenn der Vorschlag aus unserer Ecke käme. Bei der FDP vermutet zu Recht niemand, dass damit die soziale Hängematte unterstützt wird. Lassen wir doch die FDP diese Aufgabe übernehmen. Damit ist mindestens die halbe Miete geschafft. Die anschließende Reformierung ist dagegen nur noch eine vergleichsweise einfache Übung!




  In diesem Sinn herzliche Grüße aus Stuttgart




  P.S. ich wappne mich bereits durch mentale Stärkung gegen die Flut der jetzt über mich hereinbrechenden Entrüstung. Ich werde es ertragen.
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