[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Do Nov 19 17:13:07 CET 2009


Hallo Norbert,

beim "Recht auf Leben" und Deinem Beispiel mit den "Sklaven" bringst Du das Adjektiv "frei" ins Spiel. Nun kannst Du einwenden, daß "gerecht" ebenfalls als Adjektiv benutzt wird, wobei zu fragen ist, ob ein "gerechtes Recht auf Leben" oder ein "Recht auf ein gerechtes Leben" gemeint ist. Im Deinem Sklavenfall handelt es sich wohl um ein "Recht auf ein FREIES Leben". Doch "Leben" kann nie absolut "frei" sein (es besteht immer eine Abhängigkeit vom Stoffwechsel) und es kommt auf den Betrachter an, ob er sich "versklavt" fühlt oder nicht.

Gerechtigkeit als reinen Menschenbegriff zu betrachten, halte ich für chauvinistisch. In der sonstigen Natur wird allerdings nicht nach einer Begründung für einen Sachverhalt gefragt (was offenbar nur Menschen tun) und eine Begründung wird weder als gerecht, noch als ungerecht empfunden. Der Mensch müßte allerdings die Natur als absolut ungerecht empfinden, wenn er gewisse Sachverhalte nur rein oberflächlich betrachtet. Ihm bleibt die Begründung und der "tiefere Sinn" (oftmals) verborgen.

Und so landen wir bei der Frage nach einem "gerechten Krieg" (oder auch "gerechten Mord"). Welche Rechtfertigung gibt es für einen "Krieg/Mord"? Nimmt man das "Recht auf Leben", so wird der Begriff "Notwehr" aus dem deutschen Strafgesetz verständlich, den nicht jede "Tötung" eines Menschen wird in Deutschland mit dem Strafmaß für "Mord" geahndet. Allerdings stimme ich zu, daß eine Entscheidung darüber, wann ein Krieg gerechtfertigt ist, gewissen Schwierigkeiten unterliegt (Bsp: Irak-Krieg, der durch Falschinformationen über Massenvernichtungswaffen für gerechtfertigt galt; allerdings würde ich Nordkorea angreifen, wenn sie unbestreitbar mit Atombomben auf Südkorea drohen). Aber wer einen Dienst an der Waffe ableisten will, muß damit rechnen, selbst getötet zu werden - ob er das wirklich will, hängt von der Rechtfertigung eines Krieges ab. Dann ist es auch keine Aufrechnung von Menschenleben, sondern die Freiwilligkeit des Einzelnen, sich für das "Recht auf Leben" zu "opfern" (ich bin für eine "Berufsweltarmee" nach dem Vorbild der französischen Fremdenlegion, die der UNO untersteht).

Ein staatliches Gewaltmonopol mag vielleicht heute die bestehenden Eigentumsverhältnisse sichern, aber es ist noch für viel mehr da (das Strafgesetzbuch kennt nicht nur Eigentumsdelikte). Ich halte es auch für etwas blauäugig zu meinen, Friedfertigkeit hinge allein von Besitzverhältnissen ab. Streit kennt auch andere Formen (bsp. Ansichten/Meinungen), die sich bei mangelndem Intellekt in gewaltsamen Auseinandersetzungen entladen können. Zudem kann nicht jeder "Besitz" (manche sehen ihre Frau als persönliches "Eigentum") gleichmäßig verteilt werden. Ganz zu schweigen von Racheakten...

Deine Gerechtigkeitsdefinition (als Orientierungshilfe) unterscheidet sich nicht von meiner Zielsetzung, das "Recht auf Leben" als obersten Orientierungspunkt zu verwenden. Andere Orientierungshilfen sehe ich in den allgemeinen Menschenrechten. Ziel von "Gerechtigkeit" muß (aus meiner Sicht) immer sein, das Leben (aller) zu erhalten (nicht jeder "Sklave" will befreit werden, was nicht heißt, daß andere deshalb in "Sklaverei" bleiben müssen). Das darf allerdings nicht zu einem "Zwang zu Leben" werden (Selbstmord ist legitim, wenn dabei niemand anderer zu schaden kommt - was sich jeder potentielle Selbstmörder im Vorfeld überlegen sollte, indem er an das Leid der Hinterbliebenen denkt).

Unsere Gesellschaft schränkt das "Recht auf Leben" durch die Verfügbarkeit von Geld zum Kauf von (lebens)notwendigen Dingen ein. Deshalb sehe ich ein (bedingungsloses) Grundeinkommen als gerecht an, da es das "Recht auf Leben" ermöglicht. Die Ausgestaltung des Grundeinkommens trägt dazu bei, monetären Reichtum "gerechter" zu verteilen. Das Problem ist dabei nur, daß mit einem BGE viele heutige "Sklaven" in eine Freiheit entlassen werden, die sie so gar nicht kennen (und manche nicht wollen). Deshalb obliegt es der Gesellschaft, seine Mitglieder dahingehend zu "erziehen", mit dem "Recht auf Leben" (als Gerechtigkeitsform) umzugehen. Und dieser Umgang ist (für mich) das Finden einer Ausgewogenheit, Ballance und ein Gleichgewicht (zwischen Leben und Leben lassen).


Liebe Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org


  ----- Original Message ----- 
  From: Norbert Maack 
  To: Joerg Drescher 
  Cc: 1981klaus- ; Debatte Grundeinkommen 
  Sent: Thursday, November 19, 2009 4:15 PM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?


  Hallo Joerg,
  nun denn: Wenn Du meinst, dass eine Definition her muss und Du das "Recht auf Leben" als kleinsten gemeinsamen Nenner für geeignet hältst, haben wir das neue Problem, wie wir "Leben" definieren. Auch Sklaven "leben", wobei es Sklaven verschiedener Art gibt. Lohnsklaven mit einem Stundenlohn von 1 Euro leben anders als solche mit 100 Euro. 
  Deine Beispiele aus der "Natur" mit Löwen und Gazellen halte ich für nicht zielführend; Gerechtigkeit ist ein Begriff aus der Menschenwelt. 
  Deine Dich anscheinend befriedigende Antwort auf die Frage nach einem "gerechten Krieg" halte ich für unbefriedigend; wer entscheidet denn, ob es ein anderes Mittel gibt, das Leben anderer zu schützen und wer entscheidet, welches Leben schützenswerter ist, das der im Krieg getöteten oder das der möglicherweise durch den Krieg geretteten? Hier wird der Wert von Menschen gegeneinander aufgerechnet, nach gerechten Kriterien? 

  Der Sinn des Staates mit dessen Gewaltmonopol besteht in erster Linie darin, die Eigentumsverhältnisse abzusichern. Dass Menschen nicht friedfertig miteinander leben können, liegt in erster Linie daran, dass die Einen das besitzen und den Anderen vorenthalten, was diese nicht besitzen und zu ihrem Leben brauchen. 

  Meine Definition von Gerechtigkeit betrachtet G. mehr als eine Orientierungsrichtung und weniger als einen Zielzustand. Es geht mir um so etwas wie Ausgewogenheit, Gleichgewicht, Balance. Justitia mit der Waage in der Hand. Balance ist nie ein Zustand sondern ein dynamisches Geschehen, ein Pendeln um eine Mitte. Ungleichgewichte müssen korrigierbar sein in Richtung Gleichgewicht. Es muss ein Pendeln stattfinden, anderenfalls Systeme zusammenbrechen, wenn das Ungleichgewicht nicht korrigiert werden kann. Das gilt für Individuen und für Gesellschaften. 
  Durch ein BGE muss sinnvollerweise das zunehmende Ungleichgewicht (die auseinanderklaffende Schere) zwischen Arm und Reich zum Halten und zur Umkehr gebracht werden. Dass ein BGE die einzig denkbare und die beste Möglichkeit dafür ist, bezweifle ich. Das hängt wesentlich von der Höhe des BGE ab. Andere Möglichkeiten betreffen das Überdenken der Eigentumsordnung, Bodenreform und Geldschöpfungs- bzw. Kreditgesetze. 

  Mit sonnigen Grüßen
      Norbert
-------------- nächster Teil --------------
Ein Dateianhang mit HTML-Daten wurde abgetrennt...
URL: <https://listi.jpberlin.de/pipermail/debatte-grundeinkommen/attachments/20091119/5c92558a/attachment.html>


Mehr Informationen über die Mailingliste Debatte-Grundeinkommen