[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Do Nov 12 19:02:54 CET 2009


Hallo Manfred (und wen's sonst noch interessiert),

man kann von niemandem verlangen, immer in Höchstform zu sein ;-)

Wenn es in der (unbelebten) Natur "gerecht" zugehen würde, dürfte es im 
Prinzip gar kein Leben geben, da die Materie im Weltraum gleichmäßig 
verteilt wäre und somit keine Sonnen und Planeten existieren würden. Leben 
scheint offenbar "Ungerechtigkeiten" (im Sinne von Ungleichheit - auch bei 
Verteilungsfragen) vorauszusetzen. Bsp: Die Sowjetunion zerstörte das 
"Wirtschaftsleben" im Prinzip durch die (relative) "Gleichmachung" der 
Arbeit.

Allerdings stimmt das "Recht des Stärkeren" so auch nicht, denn der Löwe 
wird seine Beute (sollte er "leiiert" sein) nicht alleine fressen, sondern 
mit seiner Partnerin (und den möglichen gemeinsamen Jungen) teilen. Warum 
frißt der Löwe aber weder seine Jungen, noch seine Partnerin (was vielleicht 
einfacher wäre, als Gazellen nachzustellen)? Zumindest wäre das eine 
Konsequent aus dem "Recht des Stärkeren". Und diese Form der Gerechtigkeit 
findet man noch bei weitaus mehr Tierarten. Dem Menschen hierbei eine 
"Sonderstellung" einräumen, halte ich dann doch für sehr chauvinistisch - 
vor allem deshalb, weil es eben dieser "Mensch" nicht auf die Reihe bekommt, 
unter seinesgleichen "gerecht" zu sein (obwohl er es könnte).

Aber die "(Un)Gerechtigkeit" ist im Gegensatz zur übrigen Natur unter 
Menschen verhandelbar. Und oftmals finden (menschliche) Handelspartner 
gewisse Entscheidungen als "gerecht", obwohl es Dritte als "ungerecht" 
empfinden (können). Menschen beziehen allerdings Dritte ungern in ihre 
Gerechtigkeitsdeutung mit ein (solange die Bankbonis nur zwischen Chef und 
Angestellten ausgemacht werden, und die Öffentlichkeit nichts davon erfährt, 
regt sich bestimmt kein Mensch darüber auf).

Kommen wir noch auf die Frage zu sprechen, wer denn entscheidet, was 
"gerecht" oder "ungerecht" ist. Ich rückte die Antwort in die Nähe des 
"Gewissens". Hat aber eine Gesellschaft (oder Gemeinschaft) ein "Gewissen"? 
Interessiert es die Gesellschaft in irgendeiner Weise, ob ich ein 
Grundeinkommen erhalte oder nicht? Ist es der Gesellschaft nicht schlichtweg 
egal, ob ich ein Grundeinkommen brauche oder nicht? Der große Unterschied 
zwischen Gruppen und Individuen ist, daß Gruppen über kein Gewissen 
verfügen, während sie wie Individuen (über)leben wollen (und in gewisser 
Hinsicht deshalb ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legen - vgl. 
http://de.wikipedia.org/wiki/The_Corporation). Das fatale ist, daß man von 
Gesellschaften nichts fordern kann, sondern nur von deren Vertretern, die 
über gewisse (Eigen)Interessen verfügen (wobei ich nicht Böswilligkeit 
unterstellen will, denn es kann durchaus vorkommen, daß das einzelne 
Individuum einer Gemeinschaft auch ohne Gegenleistung/-wert etwas bedeutet - 
z.B. in Familien, wie die o.g. Löwenfamilie). Dabei haben sie nicht einmal 
immer den Handlungsspielraum, um so handeln zu können, wie sie wollten.

Die Idee eines "neuen Gesellschaftsvertrag" finde ich gut, da es im Prinzip 
so etwas wie eine "Verfassung" darstellt und den Handlungsspielraum 
definiert. Doch was müßte das Ding enthalten? Etwas, das jeder 
unterschreiben könnte - egal, ob er gerade jetzt lebt, oder in 100 
Jahren... - egal, ob er hier lebt, oder irgendwo anders... Und wer glaubt, 
in dem Vertrag müßte das Wort "Grundeinkommen" auftauchen, weil er die Idee 
für sein Gesellschaftssystem im Moment als gerecht betrachtet, ist sich 
nicht bewußt, was er anderen Gesellschaften damit antun würde...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org






----- Original Message ----- 
From: "Manfred Bartl" <sozial at gmail.com>
To: "Debatte Grundeinkommen" 
<debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Tuesday, November 10, 2009 11:24 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?


Hallo, Jörg!

Sorry, aber da habe ich schon Besseres von Dir gelesen.

ad 1: In der Natur (insgesamt) existiert keine Gerechtigkeit; es
herrscht das Recht des Stärkeren. Eigentlich sagst Du genau dies
selbst aus, von daher wundere ich mich, dass Du die Natur überhaupt
ansprichst.

ad 2: Michael Mary hat in seinem tollen (wenngleich etwas einseitigen)
Buch "Werte im Schafspelz" darauf hingewiesen, dass Werte - also etwa
die Gerechtigkeit - Gemeinsamkeitsunterstellungen seien. Das darin
anklingende "mehr nicht" ist wohl etwas übertrieben, aber den durchaus
herausragenden Aspekt von Werten als Gemeinsamkeitsunterstellungen
sollte man unbedingt im Hinterkopf haben, wenn man über Werte spricht!
Das bedeutet im Wesentlichen, dass Werte verhandelbar sind und
gesellschaftlich permanent neu ausgehandelt werden müssen. Ein
"Manifest der Gerechtigkeit" könnte also lediglich den Weg aufzeigen,
wohin die - gemeinsame! - Reise gehen soll, keinen Ewigkeitsanspruch
für sich entwickeln!

ad 3: Ich bin der festen Überzeugung, dass Gerechtigkeit in einer
monetär quantisierten Welt immer auf Gleichheit hinauslaufen wird -
und damit letztlich ungerecht ausfallen wird. Eine wirklich gerechte
Welt braucht vor allem anderen ein Ende der Bedürfnisquantisierung!
[Das ist übrigens im Prinzip nichts weiter als eine Umformulierung des
Satzes "Jedem nach seinen Bedürfnissen" :-)] Ein Grundeinkommensbetrag
von 1500 Euro würde viele Menschen ins Unglück stürzen, weil sie das
Gefühl hätten, die Gesellschaft überzubeanspruchen, und/oder weil sie
sich gedrängt fühlen würden, den Betrag von 1500 Euro zu
rechtfertigen, indem sie alles ausgeben, womit aber de facto dem
Anspruch entgegengehandelt würde, Konsumgüter wo möglich zu
sozialisieren, statt sie zu privatisieren (aktuelles Beispiel:
gedruckte Bücher). Von denen, die sich ungerecht behandelt fühlen,
weil sie ihre Bedürfnisse oder ihre "Bedürfnisse" auch mit diesem
Betrag nicht erfüllen könnten, will ich in dieser Mail nicht auch noch
anfangen ;-)

ad 4: Das Gegenteil sollte der Fall sein: Was hätte ich als Einzelner
über die Frage zu entscheiden, wem der Staat (besser: die
Gesellschaft) ein Grundeinkommen zu gewähren hätte? Es handelt sich
beim Grundeinkommen ja bekanntlich gerade NICHT um eine gewährte
Alimentierung, sondern um ein Anrecht! Nein, ICH habe doch einen
Anspruch an die Gesellschaft auf Überlassung meines Anteils am
wirtschaftlichen Ergebnis (und jeder anderen Zielsetzung von
Gesellschaft), denn das ist der Grund, warum ich die Gesellschaft mit
konstituiere, die Bedingung, unter der ich einen Gesellschaftsvertrag,
wenn er mir denn vorgelegt würde, unterschreiben würde!
Man sollte sich auch nicht von irgendwelchen Moralaposteln einreden
lassen, dass "der um sich greifenden Vollkaskomentalität Einhalt
geboten werden" müsse - so ein Mumpitz! Die Vollkaskomentalität liegt
doch gerade der Zivilisationsbestrebung zugrunde! Zivilisation IST
Vollkaskomentalität!

Gruß
Manfred




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