[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Manfred Bartl sozial at gmail.com
Di Nov 10 10:24:25 CET 2009


Hallo, Jörg!

Sorry, aber da habe ich schon Besseres von Dir gelesen.

ad 1: In der Natur (insgesamt) existiert keine Gerechtigkeit; es
herrscht das Recht des Stärkeren. Eigentlich sagst Du genau dies
selbst aus, von daher wundere ich mich, dass Du die Natur überhaupt
ansprichst.

ad 2: Michael Mary hat in seinem tollen (wenngleich etwas einseitigen)
Buch "Werte im Schafspelz" darauf hingewiesen, dass Werte - also etwa
die Gerechtigkeit - Gemeinsamkeitsunterstellungen seien. Das darin
anklingende "mehr nicht" ist wohl etwas übertrieben, aber den durchaus
herausragenden Aspekt von Werten als Gemeinsamkeitsunterstellungen
sollte man unbedingt im Hinterkopf haben, wenn man über Werte spricht!
Das bedeutet im Wesentlichen, dass Werte verhandelbar sind und
gesellschaftlich permanent neu ausgehandelt werden müssen. Ein
"Manifest der Gerechtigkeit" könnte also lediglich den Weg aufzeigen,
wohin die - gemeinsame! - Reise gehen soll, keinen Ewigkeitsanspruch
für sich entwickeln!

ad 3: Ich bin der festen Überzeugung, dass Gerechtigkeit in einer
monetär quantisierten Welt immer auf Gleichheit hinauslaufen wird -
und damit letztlich ungerecht ausfallen wird. Eine wirklich gerechte
Welt braucht vor allem anderen ein Ende der Bedürfnisquantisierung!
[Das ist übrigens im Prinzip nichts weiter als eine Umformulierung des
Satzes "Jedem nach seinen Bedürfnissen" :-)] Ein Grundeinkommensbetrag
von 1500 Euro würde viele Menschen ins Unglück stürzen, weil sie das
Gefühl hätten, die Gesellschaft überzubeanspruchen, und/oder weil sie
sich gedrängt fühlen würden, den Betrag von 1500 Euro zu
rechtfertigen, indem sie alles ausgeben, womit aber de facto dem
Anspruch entgegengehandelt würde, Konsumgüter wo möglich zu
sozialisieren, statt sie zu privatisieren (aktuelles Beispiel:
gedruckte Bücher). Von denen, die sich ungerecht behandelt fühlen,
weil sie ihre Bedürfnisse oder ihre "Bedürfnisse" auch mit diesem
Betrag nicht erfüllen könnten, will ich in dieser Mail nicht auch noch
anfangen ;-)

ad 4: Das Gegenteil sollte der Fall sein: Was hätte ich als Einzelner
über die Frage zu entscheiden, wem der Staat (besser: die
Gesellschaft) ein Grundeinkommen zu gewähren hätte? Es handelt sich
beim Grundeinkommen ja bekanntlich gerade NICHT um eine gewährte
Alimentierung, sondern um ein Anrecht! Nein, ICH habe doch einen
Anspruch an die Gesellschaft auf Überlassung meines Anteils am
wirtschaftlichen Ergebnis (und jeder anderen Zielsetzung von
Gesellschaft), denn das ist der Grund, warum ich die Gesellschaft mit
konstituiere, die Bedingung, unter der ich einen Gesellschaftsvertrag,
wenn er mir denn vorgelegt würde, unterschreiben würde!
Man sollte sich auch nicht von irgendwelchen Moralaposteln einreden
lassen, dass "der um sich greifenden Vollkaskomentalität Einhalt
geboten werden" müsse - so ein Mumpitz! Die Vollkaskomentalität liegt
doch gerade der Zivilisationsbestrebung zugrunde! Zivilisation IST
Vollkaskomentalität!

Gruß
Manfred



2009/11/2 Joerg Drescher <iovialis at gmx.de>:
> Hallo Norbert und wen's sonst noch interessiert,
>
> Deine "Übersetzung" (Bitte Gerechtigkeit Einführen) finde ich prima!
> Gleidfalls stimme ich zu, gemeinsam einen Gerechtigkeitsbegriff zu
> entwerfen, der im Konsens von allen getragen werden kann. Vor längerer Zeit
> hatte ich hierzu einmal vorgeschlagen, ein "Manifest der Gerechtigkeit" zu
> schreiben, was allerdings auf keine Resonanz stieß. Vielleicht deshalb, weil
> Gerechtigkeit ein Gefühl ist, das man nicht "manifestieren" kann, sondern im
> jeweiligen Kontext entsteht. Aber gerade in dieser Kontextabhängigkeit sehe
> ich eine Chance, da dies immer auf der (menschlichen) Fähigkeit beruht,
> Gerechtigkeit zu empfinden (ein Löwe, der eine Gazelle erlegt, wird sich
> kaum darum kümmern, ob das gerecht war oder nicht; andere Gazellen werden
> ebenfalls nicht darüber nachdenken; aber ein Mensch kann sich die
> Gerechtigkeitsfrage stellen).
>
> Was ist allerdings "gerecht" und was ist dabei "verhandelbar"?
>
> Nehmen wir an, daß "gerecht" eine "Rechtfertigung"
> (Begründung/Argumentation) ist, so mag dies im Falle des Löwen zwar nicht
> verhandelbar sein (es liegt in der Natur des Löwen, Gazellen zum eigenen
> Überleben zu erlegen), doch in Fällen zwischenmenschlichen Zusammenlebens
> läßt sich sehr wohl nach einer Rechtfertigung fragen: zum Beispiel. weshalb
> der eine mehr haben/erhalten soll, als ein anderer. Dabei kann man auch
> Beispiele konstruieren, bei denen sich Rechtfertigungen entziehen: wird der
> Löwe (oder auch ein Mensch) vom Blitz erschlagen, so bleibt uns die
> Begründung verborgen. Entsprechend steht "Gerechtigkeit" im Zusammenhang mit
> "Sinn", der sich uns nicht immer offenbart.
>
> Wissen wir vom Sinn, so kann das als "gewiss" bezeichnet werden, was
> "Gerechtigkeit" ins Licht des "Gewissens" rückt. Im Fall des Löwen wird wohl
> niemand ein "schlechtes Gewissen" haben, aber auch nicht im Fall eines vom
> Blitz erschlagenen Menschen. In beiden Fällen spielt die Natur den "Täter".
> Sind wir allerdings selbst handlungsbeteiligt, basiert ein "schlechtes
> Gewissen" entweder auf der Unfähigkeit, den "Sinn" zu erfassen, oder darauf,
> daß wir uns bewußt sind, daß der "Sinn" nicht gerecht(fertigt) ist. Nur muß
> hierzu jemand nach der "Rechtfertigung" einer begangenen oder unterlassenen
> Handlung fragen (was in manchen Fällen durch die handelnde/unterlassende
> Person selbst passiert).
>
> Damit wären wir bei der "Verhandelbarkeit" von "Gerechtigkeit", die im
> Argumentationsaustausch besteht. So kann ein Mörder sehr wohl
> glauben/fühlen, seine Tat sei "gerecht" gewesen, indem er Argumente
> vorbringt, die sein Handeln (aus seiner Sicht) rechtfertigen. Dies kann
> sogar soweit gehen, daß der Mörder auf keinerlei Gegenargumente eingeht, die
> seine (aus seiner Sicht) gerechtfertigte Tat begründet. Es gibt in der
> Geschichte auch Beispiele, die Mörder durch Mehrheitsmeinung stützen (3.
> Reich, Rote Khmer...). Entsprechend gilt, daß das, was wir heute für
> "gerecht(fertigt)" halten, nicht zwingend für alle Ewigkeiten als
> "gerecht(fertigt)" gelten muß. Schließlich erweitern wir auch ständig unser
> (Ge)Wissen. Deshalb wäre ein "Manifest der Gerechtigkeit" nur auf Basis
> unseres heutigen Wissens möglich.
>
> Um aber noch das Gesagte auf das Thema Grundeinkommen zu beziehen, fehlt mir
> bis heute eine Rechtfertigung, weshalb ich vom Staat ein solches
> Grundeinkommen für mich fordern kann. Umgekehrt ist es leichter zu
> argumentieren, warum ich's jedem geben würde. Entsprechend fehlt (zumindest
> mir) ein gerecht(fertigt)er Anspruch auf ein Grundeinkommen, was eben die
> angefragte Verhandelbarkeit so schwierig macht. Kurz: Habe ich ein "Recht
> auf Gerechtigkeit"? Daher kann BGE auch heißen: "Bitte Gerechtigkeit
> Einführen"...
>
> Viele Grüße aus Kiew,
>
> Jörg (Drescher)
> Projekt Jovialismus
> http://www.iovialis.org
>
>





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