[Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mo Nov 2 12:36:25 CET 2009


Hallo Norbert und wen's sonst noch interessiert,

Deine "Übersetzung" (Bitte Gerechtigkeit Einführen) finde ich prima! Gleidfalls stimme ich zu, gemeinsam einen Gerechtigkeitsbegriff zu entwerfen, der im Konsens von allen getragen werden kann. Vor längerer Zeit hatte ich hierzu einmal vorgeschlagen, ein "Manifest der Gerechtigkeit" zu schreiben, was allerdings auf keine Resonanz stieß. Vielleicht deshalb, weil Gerechtigkeit ein Gefühl ist, das man nicht "manifestieren" kann, sondern im jeweiligen Kontext entsteht. Aber gerade in dieser Kontextabhängigkeit sehe ich eine Chance, da dies immer auf der (menschlichen) Fähigkeit beruht, Gerechtigkeit zu empfinden (ein Löwe, der eine Gazelle erlegt, wird sich kaum darum kümmern, ob das gerecht war oder nicht; andere Gazellen werden ebenfalls nicht darüber nachdenken; aber ein Mensch kann sich die Gerechtigkeitsfrage stellen).

Was ist allerdings "gerecht" und was ist dabei "verhandelbar"?

Nehmen wir an, daß "gerecht" eine "Rechtfertigung" (Begründung/Argumentation) ist, so mag dies im Falle des Löwen zwar nicht verhandelbar sein (es liegt in der Natur des Löwen, Gazellen zum eigenen Überleben zu erlegen), doch in Fällen zwischenmenschlichen Zusammenlebens läßt sich sehr wohl nach einer Rechtfertigung fragen: zum Beispiel. weshalb der eine mehr haben/erhalten soll, als ein anderer. Dabei kann man auch Beispiele konstruieren, bei denen sich Rechtfertigungen entziehen: wird der Löwe (oder auch ein Mensch) vom Blitz erschlagen, so bleibt uns die Begründung verborgen. Entsprechend steht "Gerechtigkeit" im Zusammenhang mit "Sinn", der sich uns nicht immer offenbart.

Wissen wir vom Sinn, so kann das als "gewiss" bezeichnet werden, was "Gerechtigkeit" ins Licht des "Gewissens" rückt. Im Fall des Löwen wird wohl niemand ein "schlechtes Gewissen" haben, aber auch nicht im Fall eines vom Blitz erschlagenen Menschen. In beiden Fällen spielt die Natur den "Täter". Sind wir allerdings selbst handlungsbeteiligt, basiert ein "schlechtes Gewissen" entweder auf der Unfähigkeit, den "Sinn" zu erfassen, oder darauf, daß wir uns bewußt sind, daß der "Sinn" nicht gerecht(fertigt) ist. Nur muß hierzu jemand nach der "Rechtfertigung" einer begangenen oder unterlassenen Handlung fragen (was in manchen Fällen durch die handelnde/unterlassende Person selbst passiert).

Damit wären wir bei der "Verhandelbarkeit" von "Gerechtigkeit", die im Argumentationsaustausch besteht. So kann ein Mörder sehr wohl glauben/fühlen, seine Tat sei "gerecht" gewesen, indem er Argumente vorbringt, die sein Handeln (aus seiner Sicht) rechtfertigen. Dies kann sogar soweit gehen, daß der Mörder auf keinerlei Gegenargumente eingeht, die seine (aus seiner Sicht) gerechtfertigte Tat begründet. Es gibt in der Geschichte auch Beispiele, die Mörder durch Mehrheitsmeinung stützen (3. Reich, Rote Khmer...). Entsprechend gilt, daß das, was wir heute für "gerecht(fertigt)" halten, nicht zwingend für alle Ewigkeiten als "gerecht(fertigt)" gelten muß. Schließlich erweitern wir auch ständig unser (Ge)Wissen. Deshalb wäre ein "Manifest der Gerechtigkeit" nur auf Basis unseres heutigen Wissens möglich.

Um aber noch das Gesagte auf das Thema Grundeinkommen zu beziehen, fehlt mir bis heute eine Rechtfertigung, weshalb ich vom Staat ein solches Grundeinkommen für mich fordern kann. Umgekehrt ist es leichter zu argumentieren, warum ich's jedem geben würde. Entsprechend fehlt (zumindest mir) ein gerecht(fertigt)er Anspruch auf ein Grundeinkommen, was eben die angefragte Verhandelbarkeit so schwierig macht. Kurz: Habe ich ein "Recht auf Gerechtigkeit"? Daher kann BGE auch heißen: "Bitte Gerechtigkeit Einführen"...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org








  ----- Original Message ----- 
  From: Norbert Maack 
  To: Joerg Drescher 
  Cc: ax at fhochx.de ; debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Saturday, October 31, 2009 3:52 AM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Ist Gerechtigkeit verhandelbar?


  Hallo Jörg, Christine und MitleserInnen,
  Gerechtigkeit ist ein hohes Ideal ebenso wie Freiheit. 
  Wenn man z. B. bei wikipedia nachschaut ( http://de.wikipedia.org/wiki/Gerechtigkeit ) , wird allerdings deutlich, wie unscharf dieser Wert ist. 
  Mit diesem Begriff alleine kommen wir nicht weiter; da müssen wir wohl unseren Gerechtigkeitsbegriff konkretisieren und das halte ich für eine wichtige zu leistende Aufgabe. 
  Möglicherweise  - oder sogar wahrscheinlich - würden wir dabei zu dem Ergebnis kommen, dass selbst unser Grundgesetz nicht mit unserem Verständnis von Gerechtigkeit übereinstimmt. 
  Ich frage mich, weshalb es offenbar so schwer ist bzw. unmöglich zu sein scheint, eine konsensfähige Definition von Gerechtigkeit zu formulieren. 
  Eine andere Übersetzung von BGE könnte lauten "Bitte Gerechtigkeit Einführen". 
  Ich bin neugierig, ob jemand diese Vorlage aufgreift.

  Mit sonnigen Grüßen
      Norbert Maack
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