[Debatte-Grundeinkommen] Kulturimpuls oder Kulturrevolution

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Do Mai 21 18:07:42 CEST 2009


Hallo zusammen,

letztes Jahr saß ich mit Matthias (Dilthey) in Erlangen zusammen und wir 
sprachen über das von mir gezeichnete Menschenbild des Jovialismus. Er 
meinte, daß es nicht richtig wäre, weil ich den Menschen damit beschrieb, 
daß er (im Gegensatz zu Tieren) die Fähigkeit habe, "Nein" zu sagen - im 
Umkehrschluß würde dies bedeuten, daß z.B. ein Kind, das diese Fähigkeit 
noch nicht hat, kein Mensch sei. Somit verbesserte ich das Bild und sagte, 
der Mensch würde die Fähigkeit ("Nein" zu sagen) im Verlauf seines Lebens 
entwickeln.

Vor kurzem kam durch eine andere Email-Diskussion die Frage auf, was 
eigentlich "Kultur" sei. Dabei kam ich zu dem Schluß, daß sich der Mensch 
(zusätzlich zu der Freiheit "Nein" zu sagen) seiner Geschichte bewußt ist. 
Im Gegensatz zu Tieren, überliefert der Mensch über Generationen hinweg 
Wissen und "Kultur". Dabei sehe ich "Kultur" als all das, was eine 
menschliche Gruppe (daher auch z.B. Unternehmenskultur) an Wertmaßstäben, 
Wissen und Kunst schafft - was wiederum aus den Fähigkeiten und 
Eigenschaften der einzelnen Mitglieder resultiert und sich damit gegenseitig 
bedingt.

Der Mensch, so erweitert sich das "joviale Menschenbild", ist ein Produkt 
aus seinen genetischen Veranlagungen und der Umgebung (einschließlich der 
Kultur) und entwickelt im Laufe seines Lebens die Freiheit "Nein" zu sagen. 
Entsprechend wird der Mensch erst zum Mensch - dann nämlich, wenn er seine 
Freiheit wirklich nutzen kann.

Nun sprechen Enno Schmidt und Daniel Häni mit ihren BGE-Film davon, daß das 
Grundeinkommen ein Kulturimpuls sei. Dies paßt zu der obigen 
Kultur-Definition, da ein Grundeinkommen ein Mehr an Wissen und Kunst 
hervorbringt. Allerdings würde ich ein Grundeinkommen eher als 
Kulturrevolution betrachten, denn mit dem Grundeinkommen müßten sich die 
bisher überlieferten Wertmaßstäbe radikal ändern.

Schon vor einigen Jahren (noch zu Zeiten des UDZ-Forums) wurde davor 
gewarnt, daß das bestehende Kulturgut (wie z.B. Märchen) mit einem 
Grundeinkommen stark in Frage zu stellen wären. Warum sollte eine Familie 
ihre Kinder (wie bei Hänsel und Gretel) mit einem Grundeinkommen im Wald 
aussetzen, damit sie sich aus dem Dienst einer Hexe befreien müssen? Wird 
das Grundeinkommen nicht gerade von unserer bestehenden Kultur behindert (zu 
der auch die calvinistische Arbeitsethik gehört)? Sagt nicht unsere 
Erfahrung, daß man für sein Einkommen auch etwas leisten muß (Koppelung von 
Einkommen an Arbeit)? Ist das Wort "Kulturimpuls" nicht eine Verharmlosung 
der Tatbestände, um über eine Hintertür eine Kulturrevolution auszulösen? 
Ist die Vergangenheit und unser Wissen darum das Haupthindernis einer 
BGE-Einführung?

Der stärkste Gegner eines Grundeinkommen ist mMn ein Konservativer - egal, 
ob aus einem ideologischen (liberal oder kommunistisch) oder bürgerlichen 
(religiös geprägten) Lager. Deren Kulturwelt würde komplett auf den Kopf 
gestellt werden, wenn plötzlich jeder die Möglichkeit bekäme, zum Menschen 
zu werden (die Freiheit "Nein" zu sagen).

Aber vielleicht liege ich mit meinen Bedenken auch falsch...

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org
http://www.bge-portal.de
http://www.smi2le.org




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