[Debatte-Grundeinkommen] Grundeinkommen durch Volksentscheid

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mo Mär 9 12:50:56 CET 2009


Hallo Henrik,
Hallo alle,

tja, dann hast Du von meinen "intelektuell interessanten" Einwand zumindest 
eins mitgenommen: es gibt gewisse Themen, über die man abstimmen kann (und 
Deiner Meinung nach sollte), und es gibt Sachen, die man besser (zum Wohle 
aller) nicht zur Abstimmung stellt (und unserer Meinung nach nicht sollte).

Aber vielleicht beschäftigst Du Dich einmal etwas tiefer mit der Materie, 
wenn es um Abstimmungsverfahren geht:
http://www.newsatelier.de/html/arrow.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Arrow-Paradox

Außerdem ist zu unterscheiden zwischen (kollektivem) Optimierungsverfahren 
und (kollektivem) Auswahlverfahren (durch Mehrheitsentscheidung). Beim 
kollektiven Auswahlverfahren kommt hinzu, daß es einen Unterschied macht, ob 
es nur eine Alternative gibt oder mehrere (bei mehreren Alternativen taucht 
das Problem der Präferenz der Entscheidungskriterien auf).

OK, damit es aber nicht wieder zu "akademisch" wird:
Laß uns einen Volksentscheid zum BGE machen. Deiner Meinung nach soll 1,5 
Jahre lang "Aufklärungsarbeit" geleistet werden. Angenommen, während der 1,5 
Jahre kommt die Wirtschaft wieder in Schwung, die Arbeitslosigkeit sinkt und 
der Mehrheit geht es eigentlich wieder gut. Was, wenn das Volk sich dann 
gegen ein Grundeinkommen entscheidet? Was, wenn nicht Dein erwartetes 
Ergebnis eintrifft und Du von der "Diktatur der Mehrheit" überstimmt 
würdest? Würdest Du dann die Klappe halten und diese Entscheidung 
akzeptieren? Du hattest doch Deine Stimme, incl. Deines Wunsches nach einer 
Kollektiventscheidung - wirst Du Dich dem Ergebnis "beugen"?

Mir geht's nicht darum, grundsätzlich "nein" zu sagen und alles abzulehnen - 
vielmehr geht's mir darum, meine Bedenken zu erklären. Und bei "direkter 
Demokratie" bleiben mir meine Magenschmerzen erhalten - aus dem einfachen 
Grund, da ich ein menschliches "Kollektivwesen" für gewissenlos und bezogen 
auf eine gesamte Volksgemeinschaft für maximal durchschnittlich 
"intelligent" halte.

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
http://www.iovialis.org
http://www.smi2le.org





----- Original Message ----- 
From: "Henrik Wittenberg" <henrik.wittenberg at googlemail.com>
To: "Joerg Drescher" <iovialis at gmx.de>
Cc: <debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Monday, March 09, 2009 3:04 AM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] Grundeinkommen durch Volksentscheid


> Hallo Jörg,
>
> deine Bedenken halte für intellektuell interessant, aber für eine 
> abschließende Beurteilung der direkten Demokratie als demokratisches 
> Gestaltungsmittel doch für reichlich „akademisch“. In der Praxis stellen 
> sich eben manche Fragen anders dar – dass zeigen die vielen Erfahrungen 
> mit der direkten Demokratie in der Schweiz und in anderen Ländern.
>
> Bestimmte politische Entscheidungen, wie z.B.: Privatisierungen von 
> Volkseigentum (Bahnprivatisierung oder Verkauf von Wasserwerken), Beitritt 
> eines Landes zu einem Bündnis (Nato/Europa) oder der Umbau des 
> Steuer-/Renten-/Sozialsystems sind für mich so fundamental, dass eine 
> Abstimmung in diesen Fällen eigentlich obligatorisch sein sollte (in der 
> Schweiz gilt das für viele Bereiche, bei uns fällt mir momentan nur das 
> Auflösen von Bundesländern ein).
>
> Bürgerforen, Bürgergutachten etc. sind eine schöne Sache. Wir in Köln 
> haben z.B. einen "Bürgerhaushalt". Leider sind die Themen begrenzt, über 
> die man mitbestimmen kann (Themenausschlüsse gibt es auch bei 
> Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene). Ideal wäre doch, wenn die Bürger bei 
> allen Themen (auch Haushalt und Finanzen) mitbestimmen könnten. Das ganze 
> sollte allerdings auch einen bindenden Charakter haben. Ansonsten 
> verkommen Bürgerforen zu Spiel- bzw. „Openspace“-Plätzen, die viele schöne 
> „Leitfäden“ hervorbringen, aber keine Handlungsaufforderungen in Form von 
> Gesetzesinitiativen an die Parlamente in Auftrag geben. In der Schweiz 
> können die Bürger über alle Finanzfragen mit bestimmen, auch über die Höhe 
> der Steuern. Das führt zur allgemeinen Zufriedenheit (weniger 
> Steuerhinterziehung). Viele Städte haben gute Erfahrungen mit 
> Partizipationsmodellen gemacht.
>
> Die Argumente und Befürchtungen, dass die Themen zu komplex, die Zeit zu 
> knapp und die Akteure zu ungebildet sind, kann man auch genauso auf die 
> Verfahren der repräsentativen Demokratie übertragen (welcher 
> Parlamentarier im jetzigen Bundestag durchschaut denn wirklich das 
> Grundeinkommen?).
>
> Bei einem Referendum ist in der Regel Zeit genug für alle Bürger, sich zu 
> informieren, sich dadurch weiterzubilden, zu diskutieren etc. Wenn es nach 
> eineinhalb Jahren zur Abstimmung kommt (als dritten Schritt nach der 
> Volksinitiative und dem Volksbegehren) gibt es genug „Weise“, die in der 
> Lage sind, nach bestem Wissen und Gewissen abzustimmen.
>
> Hier gibt es einen neuen Artikel von Gerald Häfner zum Thema:
> http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/928400/
>
> Von ihm gibt es auch den Vortrag „Direkte Demokratie und Grundeinkommen“:
> http://www.youtube.com/watch?v=5icNYenFuIU
>
> Wer dann noch Lust hat, der kann sich das Interview mit Prof. Hermann K. 
> Heußner und Dr. jur. Otmar Jung (Buch: „Mehr direkte Demokratie wagen. 
> Volksentscheid und Bürgerentscheid.") anhören:
> http://pcast.sr-online.de/play/fragen/2009-02-23_demokratie220209.mp3
>
> Viele Grüße aus Köln,
>
> Henrik Wittenberg
> Kölner Initiative Grundeinkommen
> www.bgekoeln.de
> 



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