[Debatte-Grundeinkommen] Kompetenz zur Freiheit
Joerg Drescher
iovialis at gmx.de
Sa Dez 5 14:50:27 CET 2009
Hallo zusammen,
Hallo Agnes,
Auf den Beitrag, in dem ich einige Kritikpunkte aus Gesprächen hier in der
Ukraine aufführte, antwortete AgneS in Bezug auf die "Kompetenz zur
Freiheit", daß Freiheit keiner Kompetenz bedarf. In ihrer Argumentation ging
es nicht so sehr um die Definition der Kompetenz, sondern um den
Freiheitsbegriff. Darauf möchte ich hier eingehen.
Manch einer versteht Freiheit als absolut grenzenlose Handlungsmöglichkeit
eines Individuums. Es bedürfe in diesem Fall nicht der "Kompetenz zur
Freiheit", sondern einer "Freiheit zur Kompetenz". Im heutigen System
beschränkt Geld offenbar diese Kompetenz, weshalb ein Grundeinkommen
gefordert wird. Ein Beispiel zur Erklärung: Eine Person hat vor sich einen
Kuchen, den sie unter 12 (anwesenden) Personen verteilen soll. Wer an die
"Freiheit zur Kompetenz (zur Freiheit)" glaubt, muß hoffen, daß sich jeder
von den 12 Personen je ein Stück für sich nimmt und somit den anderen etwas
übrig läßt. Was aber, wenn sich eine Person zwei oder mehr Stücke genehmigt?
Hierbei kommt es auf den Informationsstand der nehmenden Person an, um ihre
Kompetenz unter Beweis zu stellen: Ist vielleicht noch mehr Kuchen da? Weiß
sie, ob der Kuchen für alle gedacht ist? Kennt sie die anderen Leute? Muß
sie für den Kuchen bezahlen?
Im Fall, daß sie für den Kuchen bezahlen muß, hängt das Nehmen des Kuchens
immer noch von der Kompetenz ab - allerdings unterscheidet sich die
Kompetenz: in eine soziale und in eine monetäre. Bei der "sozialen
Kompetenz" bezieht eine Person ihre Freiheit auf die anderen anwesenden
Personen; bei der "monetären Kompetenz" spielt die zur Verfügung stehende
Geldmenge eine Rolle. Dabei ist nicht ausgeschlossen, daß sich beide
Kompetenzen vermischen. Sie werden von der betreffenden Person individuell
(frei) gewichtet. Die Entscheidungsfreiheit der Person basiert allerdings
auf unterschiedlichen Kompetenzpräferenzen. Und ein Grundeinkommen verändert
die "Freiheit zur Kompetenz" in Richtung "monetäre Kompetenz".
Dabei haben wir es mit einen "soziologischen Problem" zu tun, mit dem sich
z.B. Ferdinand Tönnies beschäftigte. Es geht um die Beziehung der Leute
untereinander und wie sich die Leute "gegenseitig ein Kuchenstück gönnen"
(bejahen). Tönnies spricht von drei Gemeinschaftsformen: Die 12 Personen
sind untereinander verwandt (Verwandtschaft), leben unmittelbar zusammen
(Nachbarschaft) oder sind befreundet (Freundschaft). Die Auswirkung auf die
"soziale Kompetenz" kann sich jeder selbst denken. Allerdings nennt Tönnies
auch eine Gesellschaftsform, die auf einer wesentlichen Getrenntheit der
Personen beruht (z.B. in einer Konditorei mit 12 Kunden, die in keinerlei
Beziehung zueinander stehen). Der Einfluß auf die "soziale Kompetenz" ist
ein anderer, als bei den Gemeinschaftsformen und bestimmt sich eher durch
eine "monetäre Kompetenz".
Das Beispiel sollte zum einen zeigen, daß es "Grenzen der Freiheit" gibt,
und zum anderen, daß diese "Freiheitsgrenzen" individuell von
unterschiedlichen Kompetenzen abhängen. Wer "Freiheit zur Kompetenz" allein
durch ein Grundeinkommen fordert, sollte sich darüber im Klaren sein, daß
damit nur eine Kompetenzform (die "monetäre") gefördert wird. Solange sich
diese "Kompetenzfreiheit" auf relativ wenige Personen bezieht
(Gemeinschaften), fällt das kaum ins Gewicht - aber es ist nicht auszumalen,
was passiert, wenn die (monetären) "Freiheitsgrenzen" einer ganzen
Gesellschaft plötzlich aufgeweicht werden (Monetärisierung aller
Lebensbereiche).
Das Beispiel von AgneS mit dem Sklavenhalter zeigt, daß der Sklavenhalter
den Sklaven nur dann in die Freiheit entlassen kann, ohne ihn zu verlieren,
wenn der (befreite) Sklave die Kompetenz hat, mit seiner Freiheit umzugehen.
Damit ist z.B. gemeint, daß der Sklave die "Einsicht in die Notwendigkeit"
der (einstigen Sklaven)Arbeit hat. Will der Sklavenhalter also seine Sklaven
ohne Verlust in die Freiheit entlassen, muß er ihnen die Notwendigkeit (zu
arbeiten) klar machen.
Letztlich kann man die "Kompetenz zur Freiheit" auch als "Reife" des
Menschen verstehen. Der Reifegrad ist allerdings nicht meßbar, weshalb hier
in der Ukraine ein Problem für das Grundeinkommen gesehen wird. Die
Sklavenhalter scheuen sich davor, in die Kompetenz ihrer Sklaven zu
investieren - und wer glaubt, ein Grundeinkommen wäre eine solche
"Investition in die Kompetenz", sollte nach diesem Beitrag verstanden haben,
daß dabei die "Kompetenz zur Freiheit" nur in Form einer "monetären
Kompetenz" profitiert - die "Freiheit zur sozialen Kompetenz" bleibt jedem
selbst überlassen.
Viele Grüße aus Kiew,
Jörg (Drescher)
Projekt Jovialismus
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