[Debatte-Grundeinkommen] [rtga] Anregung für eine globale Kampagne

Dorothee Schulte-Basta nix-mit-basta at gmx.de
Mi Okt 29 20:48:00 CET 2008


Lieber Robert,

so spannend ich die mit deinem Essay vermittelten Anregungen fand, meiner Meinung nach verkennt diese Fokussierung auf die Totalität von Allem, auf das gesamte physikalische Universum und seine Möglichkeitsbedingungen, als deren Ausruck Deleuze ja die Formel n minus 1 einführt, die in ihrer Konsquenz doch sehr personalen Auswirkungen der Armut. Ich bin der Überzeugung, dass uns die in deinem Essay anklingenden fundamentalen Fragen dazu zwingen, Armut und Benachteiligung in bezug auf das Leben zu verstehen, das Menschen in der Lage sind zu führen, sowie auf die Freiheiten, die sie tatsächlich genießen. Normativ gesehen, lässt sich Armut vor allem als Mangel an Verwirklichungschancen deuten. In dieser Perspektive scheint Armut weniger als ein instrumenteller denn als intrinsisch bedeutsamer Mangel. 

Ich glaube per se nicht, dass die Spannung zwischen Personalität und Solidarität aufzulösen ist, schon gar nicht mit der großen allumfassenden "Deleuze-Keule". Individuen mögen moralische Ideen und Prinzipien unterschiedlich auslegen, auch die Idee der sozialen Gerechtigkeit, und sie mögen ihre Zweifel haben, welchen institutionellen Ausdruck sie ihren Ideen und Prinzipien verleihen können. Doch die fundamentalen Gerechtigkeitsvorstellungen sind nichts Fremdes für soziale Wesen, die sich über ihre eigenen Interessen, die ihrer Lieben, ihrer Nachbarn, Mitbürgerinnen und Mitbürger und anderer Menschen in der Welt Gedanken machen. Um mit Amartya Sen zu sprechen, "wir müssen im menschlichen Verstand nicht erst künstlich Platz schaffen für die Idee der Gerechtigkeit oder Fairneß, indem wir ihn einem Bombardement oder leidenschaftlichen Wortergüssen aussetzen. Der Platz existiert bereits, und die Frage ist, wie wir die allgemeinen Interessen der Menschen systematisch, stringent und effektiv einsetzen können."

Schöne Grüße
Dorothee Schulte-Basta

  ----- Original Message ----- 
  From: Robert Zion 
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  Cc: runder-tisch-grundeinkommen-at at listi.jpberlin.de ; 'Andreas Exner' ; Grünes Netzwerk Grundeinkommen ; 'Markus Schallhas' ; debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de 
  Sent: Monday, October 27, 2008 9:48 AM
  Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen][rtga] Anregung für eine globale Kampagne


  Hallo zusammen,

  ich bin mir nicht sicher, ob derlei funktionalistische Beschreibungen hinreichen, um die gegenwärtige Problematik in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen. Es scheint mir doch eher eine schwerwiegende Krise der normativen Grundlagen unserer Produktions- und damit auch Lebensweise dahinter zu stehen. Nennen wir es doch einfach einmal thetisch ein Krise unseres Ethos, eine Krise dessen, was Marx "Plusmacherei" genannt hat. Und da wir vom Ethischen nur ethisch sprechen können, unten ein kleiner anlässlich der Krise geschriebener Essay von mir. Zugegebenermaßen in einem schwierigen philosophischen Modus verfasst, der aber vielleicht den ein oder anderen zum Nachdenken anregt.

  Liebe Grüße

  Robert 
  -- 
  Robert Zion Vorstandssprecher
  B'90/Grüne KV Gelsenkirchen
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  Vom Ethos der einen Menschheit
   

  Von Robert Zion

   

  Der vom Menschen verursachte Klimawandel kommt schneller als prognostiziert und wird umwälzende Folgen haben. Zugleich trifft dieser Klimawandel die Menschheit in einer Entwicklungsphase, in der die demografischen Dynamiken in den reichen Staaten der Nordhalbkugel und den armen Staaten des Südens in genau entgegengesetzte Richtungen verlaufen und in der mit der Krise der globalen Finanzmärkte das ökonomische Aussteuerungssystem des globalen Kapitalismus einen Infarkt erlitten hat. Wie viele Bypässe die Staaten nun auch national oder international legen werden, wie viel Hunger und staatliche Instabilität im Süden und an den Küstenregionen unseres Wasserplaneten nun auch eintreten und wie dramatisch Wanderungs- und Migrationströme nun auch immer ausfallen werden, eines ist sicher: Wir müssen uns die nächsten Jahre entscheiden ob und wie wir auf diesem Globus weiterleben wollen. Wir?

   

  Das Gattungswesen Mensch, jenes von Nietzsche so genannte "nicht festgestellte Thier" muss also sehr rasch und pragmatisch ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es nun ein Gesamtinteresse gibt, welches die Handlungsmaximen und Werteorientierungen der bisherigen Völker, Religionen und Staaten überlagert, es muss buchstäblich zur Menschheit werden. So etwas hat es im Übrigen noch nie gegeben. Es wäre aber falsch jetzt von einer Weltregierung, einer Weltreligion, einem ökonomischen Weltsystems zu reden, denn faktisch und unhintergehbar leben wir in einer multipolaren Welt der Interessen- und Wertegegensätze. Entweder wir leben und überleben in einer solchen Mannigfaltigkeit oder wir gehen darin unter. Im Überleben oder Untergehen wird die Menschheit also eine gewesen sein, die Frage aber, wie es dazu kommen wird, wird in der faktischen Mannigfaltigkeit entschieden werden.

   

  Gefragt ist also nicht, das Eine zu denken und entsprechend zu handeln, sondern das Viele, gefragt ist ein Handlungsprinzip, eine Ethik der Mannigfaltigkeit und Multipolarität. Und gefragt ist eine Ethik, die vom Mitglied der untersten Kaste in Indien ebenso verstanden und pragmatisch angewandt werden kann, wie vom Bankmanager in London, dem Bergarbeiter in China oder vom Präsidenten der Vereinigten Staaten, von Frauen wie von Männern, von Revolutionären wie von Reaktionären. Sie alle werden eben keine Weltregierung, keine Weltreligion, kein ökonomisches Weltsystem stiften können, sie alle werden in der Mannigfaltigkeit untergehen, insofern ihre partikularen Interessen und Handlungen in ihren konkreten Auswirkungen nicht auf ein ihnen gemeinsames Gesamtinteresse bezogen werden können. Einen solchen Ethos der Mannigfaltigkeit, der zugleich der Ethos der einen Menschheit werden muss, gibt es, er ist formuliert und er ist abstrakt genug, um die Ebene des Universellen zu erreichen: n-1.

   

  n minus 1. Formuliert in einem der schwierigsten aber auch zentralsten philosophischen Werke des zwanzigsten Jahrhunderts, in Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus: "Das Mannigfaltige muss gemacht werden, aber nicht dadurch, dass man immer wieder eine höhere Dimension hinzufügt, sondern vielmehr schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt: immer n-1 (das Eine ist nur dann ein Teil des Mannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird)." Zunächst noch erscheint dieses ethische Prinzip als Zumutung, ebenso wie einst Kants kategorischer Imperativ als zu abstrakte Zumutung empfunden wurde. Es besagt nichts weniger, als dass ich in meiner Einheit als Einzelner, als Staat, als Religion, Volk oder ökonomischer Akteur, mein Partikularinteresse, sobald ich dessen gewahr werde, von allen anderen Interessen abziehen muss. Denn Letztere bilden nicht einfach eine Summe, aus der ein Gesamtinteresse hervorgeht, sondern eine wesentlich neue Qualität (gemeinsam überleben oder untergehen), die sonst nicht Teil der faktischen Mannigfaltigkeit werden kann.

   

  Bisher beruhten unsere menschheitlichen religiösen, politischen und ökonomischen Wertegemeinschaften auf Vorstellungen des Einen, die die jeweiligen partikularen Weltbilder in hierarchischer und hegemonialer Absicht zu universalisieren versuchten. In allen Dimensionen der Begegnung untereinander religiöser, politischer und ökonomischer Art herrschte so das Prinzip der Überwältigung des jeweils anderen durch das eigene Universelle vor, das per se aber nur ein Partikular-Universelles sein kann. In diesem Modus der Überwältigung wurde bislang anhand unserer Projektionen von Gott, Staat und Markt unser Bild vom Menschen als Rückprojektion geprägt und vielleicht verstehen wir auch erst jetzt Nietzsches erratisch anmutende Anmerkung zu Beginn unseres Zeitalters, dass eben dieser Mensch etwas ist, was überwunden werden muss, dass die ewige Wiederkehr des Gleichen des Partikular-Universellen das Entstehen einer Menschheit als Mannigfaltigkeit verhindert hat.

   

  Wenn wir also heute politisch von Multipolarität reden, dann sollten wir nicht von alten und neuen Mächten wie den USA, China oder Indien reden, für deren partikular-universelle Hegemonien ein neues Gleichgewicht gefunden werden muss, oder gar davon, an welchem Partikular-Universellen die Welt genesen könnte. Wir sollten davon reden, was diese Mächte in ihrer Unterschiedenheit vereint, ja, davon, dass das sie Vereinende eben ihre Unterschiedenheit ist. Der Ethos der einen Menschheit, heißt das, ist ein differenzieller.

   

  Beziehen wir zur Verdeutlichung diesen Ethos einmal auf den globalen Markt, den Klimawandel und die demografischen Dynamiken. Die unsichtbare Hand des Marktes, eine aus der ordnenden Hand Gottes abgeleitete Fiktion der christlich-abendländischen Tradition, hat ihr notorische Abwesenheit in der gegenwärtigen Finanzmarktkrise erneut bestätigt. Diese Krise der Aussteuerung des ökonomischen Systems, das früher Kapitalismus hieß und heute Markt genannt wird, ist eben genau auf sein Funktionsprinzip und seinem dem entsprechenden linearen statt differenziellen Ethos zurückzuführen, dass das Eine nur dann Teil des Mannigfaltigen ist, wenn es diesem hinzugefügt wird: n+1. Jedes Partikularinteresse muss also in Anschlag gebracht, realisiert werden, um überhaupt Teil jenes fiktiven Gesamtinteresses werden zu können, das die göttliche Funktion "Markt" verspricht.

   

  In dieser linearen Ethik des Marktes gesprochen ist jeder Verhungernde im Kongo Nicht-Marktteilnehmer, insofern er sein Partikularinteresse (überleben) nicht realisiert. Moralisch gesprochen ist er aber derjenige, der in der linearen Ethik des Marktes die Differenz beschreibt, indem er notgedrungen n-1 sagen muss. Aus diesem zunächst moralischen Skandal eine Ethik zu machen, wäre die Aufgabe einer nun anstehenden neuen Wirtschaftsordnung. 

   

  Ein Markt, der mit seinem linearen Ethos des n+1 auf grenzenloses Wachstum programmiert ist, erzeugt hiermit zugleich eine zweifache, eine innere und äußere Instabilität. Der Markt ist streng genommen eine Plunder- und Plünderökonomie geworden. In seinem Binnenverhältnis in der Geld- und Wertschöpfung (auch unser ökonomischer Schöpfungsbegriff ist im Übrigen eine aus dem Christentum abgleitete Fiktion) auf lineares Wachstum ausgerichtet (n+1 in jeder Dimension), ist er ein doppeltes System einer periodisch ablaufenden Anhäufung (Akkumulation) und Vernichtung (Markträumung) von Plunder.

   

  Ob es sich nun in der Geldschöpfung um die Akkumulation jener strukturierten Finanzmarktprodukte handelt, deren Markträumung wir gerade als Krise erleben, oder in der Wertschöpfung um die Akkumulation materieller wie immaterieller Waren und Dienstleistungen: Schöpfung und ordnende Hand Gottes werden in ihm in ein instabiles System rein quantitativer Anhäufung und Abräumung transformiert.

   

  Zugleich vollzieht der Markt in seinem Außenverhältnis einen permanenten Ausschluss des Nicht-Marktfähigen (ungeordnete Gottlosigkeit und Apokalypse). Klimawandel, Hunger und Bevölkerungsexplosion in den armen Ländern der Südhalbkugel sind also keineswegs Ausdruck eines "Marktversagens" - dieses findet ausschließlich in seinen Binnenverhältnissen statt -, sondern Szenarien seines eigenen Untergangs und damit die Beschreibung eines qualitativen Außen seiner selbst: Der Markt kann sich mit seinem linearen Ethos des grenzenlosen Wachstums (n+1) nicht bis zu seiner äußersten Grenze (der Globus) und über die Südhalbkugel ausdehnen, d. h. er bleibt gezwungen sein Außen (Armut, Natur) zu exkludieren, zu plündern und zugleich als Bedrohung seine selbst zu beschreiben. Dies ist die zweite Form seiner Instabilität.

   

  Was sich also im rein quantitativen Ethos des Marktes (n+1) als Ausschluss und Bedrohung darstellt, beschreibt tatsächlich die für einen zukünftigen Ethos der einen Menschheit entscheidende qualitative Differenz. Es werden daher ausschließlich die Hungernden und Ströme von Migranten sein, die diesen definieren und formulieren: n-1. Es ist ihre Lebensform der Migration auf der Suche der besten Lebensbedingungen im Klimawandel, ihre Antwort auf die Herausforderung des demografischen und ökonomischen Nicht-mehr-wachsen-Könnens, ihre gelebte Erfahrung des Abzugs des eigenen Interesses von den Interessen aller anderen, die erst eine überlebensfähige Mannigfaltigkeit der Menschheit möglich werden lässt. Das n-1, zu dem wir sie vorerst noch durch die Exklusion aus unserem n+1 zwingen, und das ihnen gegenwärtig noch einen Schrumpfungsprozess bis zur eigenen Vernichtung aufnötigt, wird auch für uns unumgehbar zum Prüfstein werden, ob wir die Frage, ob und wie wir auf diesem Globus weiterleben wollen, überhaupt noch beantworten können werden. Es geht dabei um nichts weniger als um eine Erneuerung des Seins des Menschen auf Erden.

   

  "Der Arme selbst ist Macht", schreiben Michael Hardt und Antonio Negri darum auch in ihrem Weltbestseller Empire. "Es gibt eine Weltarmut, aber vor allem auch eine Weltchance, und einzig der Arme kann sie ergreifen." Und sie schreiben vollkommen zu Recht, der Arme "ist auch die Begründung jeder Möglichkeit von Humanität. (...) Nur der Arme lebt radikal das tatsächliche und gegenwärtige Sein, in Not und Leid, und deshalb verfügt einzig der Arme über die Fähigkeit, das Sein zu erneuern. (...) Der Arme ist Gott auf Erden". Großartige Sätze eines neuen Humanismus, die für uns deutlicher werden lassen: Wir werden mit unserer Art des Lebens den Grossteil der Menschheit nicht aus der Armut führen können, es ist diese Armut, die uns führen wird, ja, in Wirklichkeit bereits längst führt - heraus aus der Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, heraus aus Vernichtung von uns selbst. Ihr n-1 ist unsere gemeinsame Zukunft.



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