[Debatte-Grundeinkommen] BGE in Regionen unddemokratischenRechtsstaaten

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Mo Mai 28 17:54:03 CEST 2007


Hallo Mark,

möglich, daß ich etwas provozierend war, als ich Deine Vorstellung von
Freundschaft interpretierte.

Im Russischen gibt's einen Spruch: "Besser 100 Freunde, als 100 Rubel." Hier
ist Freundschaft wirklich nicht mit Geld zu bezahlen und Überlebenswichtig.
Folgendes habe ich Anfang der 90er in einem Buch gefunden:
Die klassischen Wachstumsgesellschaften sind als hochindustrialisierte
Volkswirtschaften an den Grenzen ihrer bisherigen Möglichkeiten angelangt.
[...] Das bedeutet, daß die klassische Wachstumsgesellschaft am Ende
angelangt ist, wenn sie keinen neuen Wachstumsbereich mehr findet.
Unglücklicherweise hat sie ihn schon gefunden, nur - die Betroffenen haben
es noch nicht gemerkt. Dieser neue Wachstumsbereich ist, nachdem die Natur
fast zugrunde gerichtet scheint, die Sozialwelt: das Sozialleben der
Menschen und ihre Kommunikation untereinander. [...] Es gilt nur noch das
als wirklich, was greifbar, unmittelbar nützlich und technisch zu verwerten
ist. Das bewirkt, daß - zumindest in den Wohlstandsdemokratien des Westens -
die großen Ideen der Menschheit - Freiheit, Humanität und Gerechtigkeit -
zunehmend als unwirklich, als bloße Worte erscheinen.[...]

Freundschaft hat viel mit Vertrauen zu tun. Ich weiß von Managerseminaren,
wo gerade auf diesen Punkt besonders viel Wert gelegt wird: es werden Paare
gebildet, wovon einem die Augen verbunden werden und der andere ihn durch
einen Wald führt. Oder: Man steht in einer Reihe und muß sich rücklings
fallen lassen, wo ihn der andere auffangen soll. Oder: Bergsteigen und am
Seil sichern. (Ein schönes Märchen über das Thema Freundschaft heißt "Die
kleinen Leute von Swabedoodah":
http://www.sagen.at/texte/maerchen/maerchenbeitraege/swabedoo.html)

Und nun sprichst Du das Vertrauen gegenüber einem "Rechts/Sozialstaat" an.
Dazu zitiere ich aus dem Steppenwolf von Hermann Hesse:
Der Bürger ist [...] seinem Wesen nach ein Geschöpf von schwachem
Lebensantrieb, ängstlich, jede Preisgabe seiner selbst fürchtend, leicht zu
regieren. Er hat darum an Stelle der Macht die Majorität gesetzt, an Stelle
der Gewalt das Gesetz, an Stelle der Verantwortung das Abstimmungsverfahren.

Weshalb ich das aufführe: es geht nicht nur um Vertrauen, sondern auch um
Verantwortung: Jemandem, dem ich Vertraue, übertrage ich auch ein Stück
Verantwortung. Letztlich liegt die Verantwortung aber nur bei mir selbst -
ich kann sie keinem anderen übertragen. (Hierzu hatte ich ein sehr gutes
"Gespräch" mit  Friedrich Naehring (Grünen-Liste) und Robert Ulmer
(Netzwerk-Liste) über den Existenzialismus).

Dein Argument, der "Staat" dürfe keine Fehler machen, zieht bei mir nicht,
denn was ist "Staat"? Was gibt Dir das Recht, vom "Staat" Hilfe zu erwarten
oder gar zu verlangen (mit oder ohne Gegenleistung)? Der Staat besteht auch
aus Menschen und die können Fehler machen. Ich sage schon lange, daß ich
kein schlechtes "Regierungssystem" kenne (sei es Religion, Kommunismus,
Monarchie, Demokratie...), erst durch die "Verwirklichung" durch Menschen
schlägt es in die eine oder andere Richtung um.

Vor ein paar Tagen stand in den Medien, daß Helfer bei der Spargelernte
fehlen und die Ernte auf den Feldern verrottet, aber Deutsche seien "nicht
geeignet" - man möchte Arbeiter aus Polen, aber die "dürfen" nicht, aufgrund
Gesetzen. Manchmal frage ich mich (vor allem bei solchen Meldungen), wie das
mit einem BGE funktionieren soll. Spätestens wenn keiner mehr etwas "tut"
(im Sinne von solchen Basisarbeiten) wird der Mensch merken, daß er vom Geld
nicht leben kann - schließlich muß er sich vom Geld auch etwas kaufen
können.

Das sehe ich als "Gefahr" beim BGE, bei aller Menschenliebe. Deshalb
plädiere ich für ein "emanzipatorisches BGE", das für mich unter anderem
bedeutet, aus Vernunft heraus auch Arbeiten zu erledigen (z.B. auch
Spargelstechen), die unangenehm und schwer sind. Um den Faden wieder auf die
Ukraine, bzw. "nicht-Industrieländer" zurückzubringen: gerade in solchen
Ländern ist diese Aufgabe sehr wichtig! Wir (die Industrieländer) verdanken
unseren Wohlstand Schwellenländern und Entwicklungsländer, die wir ausbeuten
und für unser Geld arbeiten lassen. Doch was ist, wenn wir sie "einfach so"
aus der Abhängigkeit in die Freiheit entlassen? Was war mit den DDR-Bürgern,
die von heute auf morgen "frei" waren?

Freiheit und Vernunft hängen, wie Vertrauen und Verantwortung, sehr eng
voneinander ab. Freiheit will gelernt und Vertrauen gefühlt sein.

Wenn die Sache denn so einfach wäre, hätten wir längstens ein
Grundeinkommen. Und ich kenne Menschen, die leben in ihrem kleinen Häuschen
auf dem Land und brauchen gar kein Grundeinkommen (wie der brasilianische
Indianerstamm im lezten Beispiel).

Es gibt noch sehr, sehr, sehr viel zu tun... packen wir's an oder lassen
wir's andere machen?

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)



----- Original Message ----- 
From: "mark jordan" <mark.jordan at gmx.net>
To: "Joerg Drescher" <iovialis at gmx.de>;
<debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Monday, May 28, 2007 4:39 PM
Subject: Re: [Debatte-Grundeinkommen] BGE in Regionen
unddemokratischenRechtsstaaten


> Hallo Jörg,
> ich möchte nicht das hier irgendwelche Missverständnisse entstehen. Ich
habe wirklich nichts gegen Freundschaftsdienste! Was ich nur meine, ist,
dass ja die Freundschaften natürlicherweise nicht gerecht verteilt sind, was
wohl auch daran liegt, dass manche besonders gesellig ist und andere lieber
für sich allein.
> Ich sehe es auch so, dass unser Sozialstaat am Ende ist und seinen
Aufgaben nicht gerecht wird, aber das sollte finde ich nicht den Rückschritt
in die Selbstversorgergesellschaft bedeuten müssen, sondern eben ein
Grundeinkommen, in gleicher Höhe, in der Stadt wie auf dem Land.
> Hier in Deutschland sind die Supermarktpreise regional nicht so
unterschiedlich, und überhaupt gibt es Supermärkte überall, mit Aussnahme
vielleicht von der Ukraine. Und es ist Richtig, ich möchte einem Rechtsstaat
vertrauen, mehr sogar als einem Freund. Ein Freud kann sich einen Fehler
erlauben und eine Verabredung vegessen oder seine Schulden zurückzuzahlen,
das hat für mich nicht so starke Auswirkungen und das würde ich ihm sogar
verzeihen. Würde dagegen der Staat sich einen Fehler erlauben und vergessen
dass ich Hilfebedürftig bin, dann ist meine Existenz bedroht, vielleicht
könnte mir ja mein Freund aus der Patsche helfen, aber verlassen kann ich
mich darauf nicht, nicht weil er nicht für mich da ist, sondern weil er
selbst zu knappsen hat.
>
> Bis später
> Mark




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