[Debatte-Grundeinkommen] BGE in Regionen und demokratischenRechtsstaaten

Joerg Drescher iovialis at gmx.de
Di Mai 22 13:15:00 CEST 2007


Hallo Mark und jeder interessierte Leser,

Deine Ode an die Freundschaft finde ich schon ein bisschen heftig, wenn ich
es so verstehe, daß man sich nicht mehr gegenseitig helfen soll. Ich bin
immer auf Hilfe anderer angewiesen, seien sie nun Freunde oder nicht. Die
reine Selbstversorgung (Autonomie) eines einzelnen Menschen ist in unserer
Gesellschaft kaum mehr möglich (ich kenne eine Dame bei Bad Schussenried,
die das in einem Häuschen praktiziert). Wenn Du Dir das für Dich auch
wüscht, bitte, aber ich bin um die "zivilisatorischen Erungenschaften" und
jeden meiner Freunde froh. Nur gilt in unserem "Freundschaftssystem" nicht,
daß wir für Leistungen zwingend eine Gegenleistung erbringen müssen - da
läuft alles aus Einsicht und Vernunft. Scheinbar vertraust Du aber lieber
einem "Rechtsstaat" (die Summe aller Bürger)...

Trotzdem bin ich schon froh, daß die angesprochene Problematik besser
verstanden wird. Um das Thema noch zu erweitern, folgende Überlegung:
Nehmen wir als Beispiel einen Indianerstamm in den Hochebenen Brasiliens.
Der Stamm versorgt sich zu 90% selbst und hat Einkommen aus Überschüssen,
die er für die 10% ausgibt, welche er nicht selbst produzieren kann. Wenn
wir (aus unserer Sicht gerechterweise) dem Stamm nun soviel Geld zur
Verfügung stellen, damit die Selbstversorgung auf 20% abnimmt, machen wir
den Stamm von "Zulieferern" abhängig. Ist das wirklich gewünscht? Was will
der Stamm mit Geld? Was macht der Stamm damit? Wir greifen massiv in die
Kultur dieser "Zivilisation" ein - brauchen sie z.B. wirklich ein Handy, das
sie sich von ihrem Grundeinkommen kaufen könnten, wenn sie sich
(vernünftigerweise) weiter selbst versorgen?

Weiterführend zum Thema empfehle ich eine Analyse von Subsistenzwirtschaften
im Senegal:
http://deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=975387219&dok_var=d1&dok_ext=pdf&filename=975387219.pdf

In Russland oder der Ukraine sieht es wieder ganz anders aus. Da gibt's
extreme Landflucht und die Städte "explodieren". Mehr zu diesem Thema (das
Video ist sehr empfehlenswert!):
http://de.wikipedia.org/wiki/Megacities_Project

Mir scheint, daß einige Listenleser sehr stark von unseren Geldvorstellungen
geblendet sind. Geld ist wirklich nur ein Tauschmittel. Wir haben es
allerdings, ähnlich dem Pawlowschen Hund, zu einem bedingten Reiz für unsere
Bedürfnisbefriedigung gemacht. Das geht sogar soweit, daß immer mehr
Großstadtkinder nicht mehr wissen, woher Lebensmittel (Mittel zum Leben)
eigentlich herkommen: eine Kuh ist lila, die Äpfel stammen aus dem
Supermarkt... Da bin ich wirklich froh, auf dem Dorf aufgewachsen zu sein
und mit getrockneten Kuhfladen Frisby gespielt zu haben.

Sorry, aber manchmal ärgere ich mich über die kurzsichtige Betrachtung. Das
BGE geht uns alle an - und mit alle meine ich alle auf der Welt. Ich will
mir gar nicht ausmalen, was passiert, wenn ein BGE in Deutschland oder
Europa eingeführt werden würde. So hohe Mauern können wir gar nicht bauen,
daß wirklich niemand "ins Schlarafenland" kommen wollte.

Das Thema ist wirklich komplex - und die Ukraine wäre über ALG-I oder ALG-II
mehr als glücklich! Hier gibt's kein wirklich funktionierendes Sozialsystem
durch einen "Rechtsstaat" - vielleicht sind die Leute hier deswegen sozialer
im nichtfunktionierenden System. Bitte wagt den Blick über den Tellerrand,
es eröffnet neue Horizonte.

Man sagt: "Geld verdirbt den Charakter." Was passiert mit Geld durch ein
Grundeinkommen?

Viele Grüße aus Kiew,

Jörg (Drescher)




----- Original Message ----- 
From: "mark jordan" <mark.jordan at gmx.net>
To: "Juli" <juli at 180-grad.net>;
<debatte-grundeinkommen at listen.grundeinkommen.de>
Sent: Monday, May 21, 2007 10:58 PM
Subject: [Debatte-Grundeinkommen] BGE in Regionen und
demokratischenRechtsstaaten


Hallo Listenanteilnehmer,
ich sehe hier die Gefahr, dass durch die Überlegungen, die Höhe des
bedingungslosen Grundeinkommens von regionalen wirtschaftlichen Bedingungen
abhängig zu machen, die eigentliche Idee dieses Grundeinkommens
kontrakariert wird. Wo wäre denn, wenn ihr euren Gedanken der Regulierung
weiter spinnt, der Unterschied zur altbekannten Bedürftigkeitsprüfung? Gut
es müsste vielleicht nicht jeder Mensch einzeln geprüft werden, sondern bloß
der Durchschnittsmensch der jeweiligen Region, aber damit würden wir von
einander abgegrenzte Staaten innerhalb Deutschland oder sonst wo,
generieren. Ja wie gesagt, wie es die Ukrainer anscheinend machen: Die einen
leben in der Stadt und schicken Geld aufs Land, weil es dort mehr wert ist,
und die anderen leben auf dem Land und schicken selbsterzeugte Lebensmittel
in die Stadt, weil die dort mehr wert sind. Voraussetzung für dieses
Geschehen ist, dass sich die Menschen gegenseitig kennen und vertrauen, weil
es möglicherweise ihre eigene Familie ist, um die es sich bei den
Begünstigten handelt. Wäre schön, wenn es bei diesem System keine
Benachteiligung für Menschen gäbe, die keine Freunde oder Verwandte in der
jeweils anderen Region haben. Dieser schreienden Ungerechtigkeit, jedenfalls
ist es nach meinem Verständnis eine, wirkt ein sozialer Rechtsstaat wie der
unsrige entgegen, indem es für möglichst jede einzelne Form von
Benachteiligung, der Menschen in unserem Land unterliegen können, eine Hilfe
geben soll, z.B. Waisenrente. Voraussetzung für eine solche Hilfe ist, dass
die Hilfebedürftigkeit erkannt wird, und dass sie anerkannt wird, was oft
einhergeht mit einer Prüfung ob Selbst- oder Fremdverschuldung. Ist jemand
z.B. Selbstverschuldet arbeitslos, gibts ALG II, wird nachgewiesen, dass er
oder sie aufgrund von Arbeitsplatzstreichungen arbeitslos ist, gibts erst
mal ALG I, wird aber nachgewiesen, dass sie oder er aufgrund einer Krankheit
oder irgendwelcher persönlicher Defizite arbeitslos ist, wird sofort ein
Vielfaches von ALG I und ALG II locker gemacht, wovon die Person selbst aber
nicht unbedingt so viel abbekommt, weil es für Reha, Ergo, oder sonstige
Maßnahmen ausgegeben wird, die jener Person eben irgendwie helfen soll,
wobei auch immer. Dieses System hat meiner Meinung nach ausgedient, genau
wie das Angewiesen Sein auf die  Hilfe von Freunden und Verwandten. Was man
vielleicht in der Ukraine noch antrifft, gab es auch bei uns, als alles weg
gebombt war.

Den Nachteil eines Grundeinkommens, den Juli hier angeführt hat, kann ich
nicht erkennen.
Bewusste Selbstorganisation ist natürlich genauso auch weiterhin möglich,
das BGE ließe sich auch ohne Probleme auf mein Konto überweisen, wenn man es
lieber etwas archaischer hat.

Ich sehe natürlich ein, dass 1000 EURO hier in Hamburg viel weniger sind als
irgendwo auf dem Lande in den ehemaligen Ostblockstaaten, man könnte ein BGE
aber auch wunderbar als Mittel nutzen, um eben diese unterschiedlichen
Lebensstandards anzugleichen, dass dies nicht von jetzt auf gleich möglich
ist, ist wohl klar. Das BGE ließe sich vorerst einmal innerhalb eines
Staates wie Deutschland bedingungslos in gleicher Höhe einführen, in
München, wie in Frankfurt an der Oder. Warum nicht?




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